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Geschichte der Medizii> /J^
im Überblick ^^
mit Abbildungen
Von
Th. Meyer-Steineg und Karl Sudhoff
a. o. Prof. der Medizingesdiidite
in Jena
o. ö. Prof. der Medizingeschidite
in Leipzig^
Mit 208 Abbildungen im Text
Jena
Verlag von Gustav Fischer
1921
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 192 1 by Gustav Fischer, Publisher in Jena
131
Vorwort.
Eine neue Darstellung der Medizingeschichte? Allerdings. Und
doch will das neue Buch mit anderen, in den letzten Jahrzehnten er-
schienenen, nicht eigentlich in Wettbewerb treten. Es möchte ihnen
eher zur Ergänzung dienen.
Wem es bei einer geschichtlichen Betrachtung der Heilkunde
in erster Linie auf den Wandel des Krankheitsbegriffes im Laufe der
Zeiten ankommt, der wähle den Leitfaden von Ernst Schwalbe,
der eben in dritter Auflage herausgekommen ist. Wer ein Lehr-
buch mäßigen Umfanges der gesamten Medizingeschichte wünscht,
das auch in die Literatur des Faches in auskömmlichem L'mfange
einführt und damit für jedes tiefere Weitereindringen auf allen Einzel-
gebieten die volle Bereitschaft vermittelt, der greife zu J. L. Pagels
„Einführung", die erst kürzlich von einem von uns beiden voll auf
den gegenwärtigen Stand in neuer Bearbeitung gebracht wurde
Wer in voller Ausführlichkeit und Gründlichkeit unterrichtet sein
will, der nehme Max Neuburgers dreibändige Geschichte der !Me-
dizin zur Hand, und wer den Entwicklungsgang der gesamten
Spezialgebiete heilkundigen Forschens und Wissens in gesonderten
fachmännischen Einzeldarstellungen nebeneinander haben möchte, der
wähle das große Handbuch, das von THEODOR PUSCHMANN, weiland
in Wien, begründet wurde.
Für diese alle kann und will das vorliegende kleinere Werk
keinen vollen Ersatz bieten. Sein Ziel ist ein anderes.
Anfänger, die einen ersten Ueberblick über das historische Ge-
biet zu erhalten verlangen, der alle Fragen anklingen läßt, ohne sie
völlig zu erschöpfen, berufstätige Aerzte, die in spärlichen Muße-
stunden zur Erholung, zur Gewinnung neuer Anregung, neuen Mutes
und gestärkter Schaffensfreudigkeit zuverlässigen Einblick in die fort-
schreitende Entwicklung ihrer Wissenschaft und deren praktischer
Betätigung, sowie ihres Standes in ansprechender Form begehren,
Kulturhistoriker, die sich einen Ueberblick über diesen Teil ihres
Wissensgebietes verschaffen wollen, sie mögen zu unserem Buche
greifen. Es wird ihnen ein treuer Führer sein in das Auf .und
4 Vorwort.
Ab unserer Kunst und Wissenschaft, in die Hoch- und Tiefzeiten
ärztHcher Betätigung, und ihnen reichhchen Stoff zu eigenem Mit-
und Nachdenken bieten.
Als besondere Anziehung dieses Buches dürfen wir wohl den
reichen Bildschmuck bezeichnen, der ihm bestimmt nicht nur als
Zierde dient, sondern ganz wesentlich zur Vertiefung des Verständ-
nisses ärztlicher Vergangenheit in anschaulicher Eindringlichkeit bei-
tragen wird, überdies trotz des durch das redende Bildwerk bean-
spruchten Raumes direkt raumsparend wirkt. Wir sehen in dieser
erstmalig durchgeführten Illustrierung ^) medizinischer Gesamt-
geschichte seit den Frühzeiten der Menschheit bis in das ig. Jahr-
hundert nicht den unwesentlichsten Teil aufklärenden Verdienstes
an unserem neuen Unternehmen. Die Herausgeber und der Ver-
leger, der in verständnisvollem Eingehen auf die Wünsche der Ver-
fasser weder Mühe noch Kosten gespart hat, erhoffen dafür den
Dank der Benutzer.
Wollten wir Kürze, Uebersichtlichkeit und genußbringende Les-
barkeit, so mußten wir uns vielfache Beschränkung auferlegen. Wir
sehen sie auch darin, daß wir auf Literaturangaben vollständig ver-
zichteten. Wir hoffen auf das Anerkenntnis, daß wir beide, der eine
vor allem im Altertum, der andere im Mittelalter und der Re-
naissance, derart in die Materie in ihrem ganzen Umfange als ein-
gedrungen gelten dürfen, um der Belege für unsere Aufstellungen
bei unseren Lesern überhoben zu sein. Wir sehen hierin gerade
einen besonderen Vorteil unserer gemeinsamen Arbeit und die wich-
tigste Vorbedingung für die gewählte Darstellungsweise. Ein ein-
zelner von uns hätte das nötige Vertrauen für die ganze Entvvick-
lungsbreite durch alte und mittlere Zeit hindurch wohl doch nicht
beanspruchen dürfen.
Daß ein voller Ausgleich der Ansichten beider Verfasser in jeder
Einzelheit nicht erstrebt, ja gar nicht versucht wurde, sei ausdrück-
lich hervorgehoben. Jeder derartige Versuch wäre wohl zum Scheitern
verurteilt gewesen und hätte der Wahrhaftigkeit der historischen
Aufstellungen Eintrag getan. Jeder von uns tritt für die von ihm
geschriebenen Abschnitte vollständig ein; das genügt. Wir sehen
in etwaigen Verschiedenheiten der Auffassung und Formgebung, wie
sie in der Persönlichkeit des Schreibenden unweigerlich begründet
sein mögen, einen besonderen Vorzug dieses Buches, das nicht blinde
i) Soweit nicht ausdrticklich eine andere Herkunftsstelle der Ab-
bildungen angegeben ist, sind dieselben in allen Abschnitten dem Lehr-
material des Leipziger Institutes für Geschichte der Medizin entnommen.
Vorwort. 5
Gläubige verlangt, sondern mitdenkende ärztliche Leser, die in Ehr-
lichkeit und Zuverlässigkeit volle Aufklärung zu erhalten wünschen
über die ärztlichen und medizinisch-wissenschaftlichen Zustände ver-
gangener Zeiten.
Möge das Buch genommen werden, wie es geboten wird, Klar-
heit vermitteln und Nutzen stiften, daneben auch dem deutschen
Arzte und der deutschen medizinischen Wissenschaft die Weltgeltung
erhalten helfen, die beide verdienen.
Jena und Leipzig, 26. November 1920.
Theodor Meyer-Steineg und Karl Sudhoff. .
Inhaltsverzeichnis.
Seite
I. Teil : Primitive Medizin. Medizin des alten Orients
und des klassischen Altertums bis Galenos.
Von Theodor Meyer-Steineg
Primitive Medizin 9
Empirisches Stadium. Dämonistisches Stadium. Zauberärzte.
Die Medizin im alten Mesopotamien 19
Die Aerzte. Die medizinischen Anschauungen und Leistungen.
Die altägyptische Medizin 27
Der Aerztestand. Die medizinischen Anschauungen und Leistungen.
Die Medizin im klassischen Altertum 40
Die vorhippokratische Zeit. Die Aerzte und die- Krankenpflege.
Die altgriechischen Aerzteschulen.
Hippokrates und die hippokratische Medizin 59
Die nachhippokratische Zeit und die dogmatische Schule , . 77
Die Schule von Alexandreia 81
Die äußeren Verhältnisse der Aerzte. Herophilos und Erasi-
stratos und ihre Schulen.
Die Schule der Empiriker . 96
Die Heilkunde bei den Römern vor der Einführung der grie-
chischen Medizin 99
Entwicklung des römischen Aerztestandes.
Die Einführung der griechischen Medizin in Rom 107
Themison von Laodikeia, die Methodiker und die römische
Medizin-Literatur iio
Cornelius Celsus.
Soranos von Ephesos 121
Die pneumatische Schule und die Chirurgie 129
Die Eklektiker 132
Galenos 135
Das Aerztewesen der römischen Kaiserzeit 146
Inhaltsverzeichnis. 7
Seite
II. Teil : Die mittlere Zeit vom Tode des Galenos bis
zu Bacon von Verulam.
Von Karl Sudhoff
Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich und erste Wieder-
geburt im Reiche des Islam 151
Nachklang und Ausklang der klassischen Medizin im römischen
Westreich 167
Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in
Westeuropa 172
Salerno 179
Der Aufstieg mittelalterlicher Chirurgie in Norditalien während
des dreizehnten Jahrhunderts 206
Montpellier 212
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua 220
Renaissance und Humanismus 247
Die großen Reformbestrebungen des 16. Jahrhunderts . . . 272
Abschluß und Ausblick 302
III, Teil: Die neuere Zeit von Harvey bis zur
Gegenwart.
Von Theodor Mfyer-Steineg
Die Neubegründung der Physiologie durch William Harvey,
Die Schule der latrochemiker und latrophysiker . . .
Die Reform der praktischen Medizin durch Thomas Sydenham
Kasuistik der Krankheiten und neue Heilmethoden
Die Chirurgie und Geburtshilfe im 17. Jahrhundert . . .
Das Aerztewesen im 17. Jahrhundert
Systembildung der Medizin des 18. Jahrhunderts. Hoffmann
Stahl und Boerhave und die ältere Wiener Schule . .
311
326
332
337
342
Die Neubegründung der Physiologie durch Albrecht von Haller
Anatomen und Physiologen in seinen Bahnen. Die Lehren
Cullens und Browns. Gaub und die Pathologie . . . . 352
Die Schule von Montpellier und der Vitalismus 360
Das System Mesmers und seine Nachfolger, die Naturphilosophie
Schellings und ihr Einfluß auf die Medizin. Die natur-
historische Schule 364
Die Homöopathie. Rademachers Erfahrungsheillehre. Die Kuh-
pockenimpfung 371
8 Inhaltsverzeichnis.
Seite
Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im 1 8. Jahrhundert 378
Das Aerztewesen im 18. Jahrhundert 385
Die Entwicklung der pathologischen Anatomie. Pinel. Mor-
gagni. Bichat 391
Der Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Me-
dizin : Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, Anatomie und
Physiologie. Gall und die Phrenologie. Der Broussaisismus 395
Die Begründung der Physiologie als Naturwissenschaft. Ma-
gendie, Bernard, Johannes Müller und seine Schule. Die
„chemische Physiologie" 404
Der Ausbau der Krankheitslehre durch Rokitansky. Virchow
und die Zellularpathologie 407
Die Begründung der Bakteriologie. Henle. Robert Koch . 411
Die Entwicklung der praktischen Medizin. Die „Jüngere Wiener
Schule", die Berliner Kliniker. Die Entwicklung der The-
rapie. Die Serumlehre 414
Die Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Gynäkologie
im 19. Jahrhundert 419
Das Aerztewesen in der neuesten Zeit 426
L Teil.
Primitive Medizin,
Medizin des alten Orients und
des klassischen Altertums
bis nach Galenos.
Von
Theodor Me}er-Steineg.
Primitive Medizin.
Empirisches Stadium.
Der Ursprung der Heilkunde liegt ebenso wie die ersten An-
fänge aller anderen Kulturerscheinungen im Dunkel der Vorzeit ver-
borgen. Es würde wohl überhaupt unmöglich sein, uns auch nur
eine ungefähre Vorstellung von den ältesten Aeußerungen der Heil-
betätigung zu machen, wenn uns nicht zweierlei Tatsachen zu Hilfe
kämen: einmal das Vorhandensein nicht unbeträchtlicher Knochen-
überreste prähistorischer Menschen, welche aus gewissen sichtbaren
Abweichungen von der Norm Rückschlüsse auf den Ablauf bestimmter
Krankheits- und Heilungsvorgänge gestatten. Sodann aber die Tat-
sache, daß es auch zu unserer Zeit noch Völker gibt, oder zum Teil
bis vor kurzem noch gab, welche auf einer derart niederen Kultur-
stufe leben, daß wir aus dem, was sie uns zeigen, manchen Rück-
schluß auf die Zustände der Urmenschen ziehen können.
Hiernach läßt sich in ganz groben Strichen ein Bild der primi-
tiven ^ledizin folgendermaßen zeichnen: Das Ursprüngliche jeder
Heilbetätigung bilden wahrscheinlich einfache Instinkthandlungen,
deren Art man sich beim primitiven Menschen nicht viel anders
vorzustellen hat wie bei höherstehenden Tieren. Wie der Hund,
wenn er Unbehagen im Magen spürt. Gras frißt, so lange bis Er-
brechen erfolgt, und der Magen entleert wird, wie der Affe seine
Hand zu gebrauchen versteht, um einen in seine Haut eingedrungenen
Splitter oder Dorn zu entfernen, oder um die Blutung von Wunden
durch Aufdrücken zu stillen, so wird auch der Urmensch eine Reihe
einfacher Heilmaßnahmen vorgenommen haben, ohne viel über ihren
Grund und über ihre Wirkung zu denken. Die bloße Erfahrung,
daß in einem ähnlichen Falle dieses oder jenes geholfen, den
Schmerz beseitigt, das Uebelbefinden gemildert hatte, führte ganz
von selbst dahin, solche bewährten Mittel immer wieder anzuwenden.
Umgekehrt warnte die Erkenntnis, daß etwas eine ungünstige Wir-
kung hervorgebracht hatte, vor einer Wiederholung. So kam der
Mensch allmählich zur Sammlung eines rein erfahrungsgemäß ge-
wonnenen einfachen Heilschatzes, welcher aus dem Verzehren als heil-
sam erkannter Pflanzenteile, aus der Benutzung der Naturstoffe und
-kräfte (Wasser, Sonne), sowie aus Handbetätigungen, Reiben und
lO
Primitive Medizin.
Abb. I. No. I, 4 II. 5 Aderlaßinstrumente der Mapuche und Changos. No. 2, 3, 6 — lo
Skarifikationsinstrumente der Changos. No. ii Nadeln dazu. No. 12 Tonfigur mit
Thränenpunkten aus Coquimba. No. 13 Steinerne Tabakspfeife vom Rancosee (nach
O. Atichel).
Primitive Medizin. 1 1
Kneten schmerzender Körperteile, Entfernen von Fremdkörpern u. ä.m.
bestanden. Betätigungen, welche durch Mitteilung von einem Indi-
viduum zum anderen erweitert, durch Ausbildung und Uebung bei
einzelnen immer mehr verbessert wurden und bereits in unvordenk-
licher Zeit den Grundstock der ganzen späteren Entwicklung bil-
deten. Dabei sind an diesem Grundstock bereits die Wurzeln der
Hauptteile erkennbar, in welche wir auch heute noch die Heilkunst
zu gliedern pflegen ; vor allem der inneren Medizin und der Chirurgie.
Wenn wir uns vor Augen halten, daß wir nicht wenige der
wirksamsten Mittel unseres modernen Heilschatzes erst verhältnis-
mäßig spät von Naturvölkern übernommen haben — wie die China-
rinde, die Cocablätter, die Senega und Ipecacuanha u. a. — so zeigt
ims dies die große Fähigkeit dieser einfachen Menschen, in ihrem
innigsten Zusammenleben mit der Natur die Wirkungen der von
ihr gebotenen Stoffe zu beobachten. Das Gleiche beweisen die
mannigfachen anderen Maßnahmen, welche sich bei den Natur-
völkern als Mittel gegen die verschiedensten inneren Leiden finden :
— Wasserkuren, Dampf- und Schwitzbäder — welch letztere viel-
fach in der Weise verabreicht werden, daß in einem engen ge-
schlossenen Raum Wasser auf glühend gemachte Steine gegossen
wird. Daneben werden — wie schon kurz erwähnt wurde — von
fast allen Naturvölkern Bearbeitungen des Körpers mit der Hand
vorgenommen, sei es in der Form sanften Streichens, oder kräf-
tigeren Drückens und Knetens, Stoßens mit der Faust oder dem
Knie oder aber Peitschen mit Gerten und Nesseln usw.
Den Uebergang zu chirurgischen Eingriffen bilden die bei den
Naturvölkern ziemlich allgemein verbreiteten Methoden der Blut-
entziehung. Vom einfachen Schröpfen bis zum wirklichen Aderlaß
finden sich die verschiedensten Formen dieser Maßnahmen. Teils
wird nur die Haut mit einem scharfen Instrument aus Stein, Knochen,
Fischgräten u. ä. geritzt, und dann mit dem Munde oder einem Hohl-
körper das Blut ausgesogen. Teils wird aber auch unmittelbar die
Ader selbst eröffnet. Hierzu bedienen sich manche Volksstämme,
wie beispielsweise die Papuas auf Neu-Guinea, sonderbarer Mittel:
nämlich spannenlanger Bogen, mit denen sie winzige Pfeile aus
nächster Nähe in die zu eröffnende Vene abschießen.
Die Wundbehandlung ist ebenfalls in mannigfaltiger Weise aus-
gestaltet und entbehrt durchaus nicht vernünftiger Grundsätze.
Feuchte und trockene Verbände werden unter Verwendung von
allerlei Stoffen angelegt. Auch erhärtende Verbände mit Hilfe von
Ton sind in Gebrauch. Wenn auch meist das Zusammenwachsen
12
Primitive Medizin.
der Natur überlassen wird, so haben doch manche Stämme auch
bereits die Wundnaht ausgebildet. Eine in mehrfacher Hinsicht
merkwürdige Methode üben brasilianische Indianer aus : sie benutzen
Ameisen mit starken Kopf-
zangen, welche sie zu beiden
Seiten der Wunde sich fest-
beißen lassen, um dann so-
fort den Kopf vom Rumpf
zu trennen. Indem sie ein
Tier nach dem anderen an-
setzen, schließen sie nicht
nur die Wunde mit einer
Reihe von Klammern, son-
dern sie erzeugen durch
die von den Ameisen ver-
spritzte Ameisensäure ge-
radezu eine unbewußte anti-
septische Wirkung.
Einen sehr wichtigen
Teil der chirurgischen Be-
tätigung bildet bei den
Naturvölkern die Entfer-
nung der in den Körper
eingedrungenen Fremd-
körper, wie Splitter, Dor-
nen, Geschosse und der-
gleichen, welche auf die ver-
schiedenste Weise, teils mit
bloßen Fingern, teils mit
Werkzeugen, meist sehr geschickt bewerkstelligt wird. Auch aus
tiefer gelegenen Teilen werden derartige Fremdkörper mit großer
Abb. 2. Prähistorischer Wirbel mit eingeheilter und
von Knochenwucherungen umgebener Bronze-Pfeil-
spitze aus der Gegend von Saalfeld a. S. (Sammlung
Prof. Meyer-Steineg.)
Abb. 3. Arm mit geheiltem Bruch aus einem Hockergrabe der Zonenbacherzeit (Museum
zu Weimar, durch den Vorstand, Herrn Dr. Möller.)
Sicherheit hervorgeholt; und zahlreiche Knochenbefunde beweisen,
daß schon der prähistorische Mensch selbst so schwere Verletzungen,
wie beispielsweise Bauchschüsse, überstehen konnte. Das zeigt unter
Primitive Medizin.
13
anderem der Fund eines Wirbelknochens, in welchem eine tief ein-
gedrungene bronzene Pfeilspitze fest eingeheilt war. Die starke
Knochenwucherung, welche das Geschoß umgibt, beweist, daß der
Verwundete seine Verletzung lange überlebt hat.
Die teilweise vortreffliche Verbandtechnik einzelner Naturvölker
zusammen mit einer Reihe von Funden gut verheilter Knochen-
brüche aus prähistorischer Zeit lassen ferner erkennen, daß schon
der primitive Mensch sich mit dieser Seite der Chirurgie gut abzu-
finden wußte.
Abb. 4. Prähistorischer Schädel mit verheilter Trepanationswunde (''/^ Größe).
Neben kleineren Operationen, wie die Eröffnung von Abszessen,
die — übrigens meist aus rituellen Gründen ausgeführte — Ab-
tragung der Vorhaut, die Infibulation u. ä. m., sind schon in ältester
Zeit auch Eingriffe vorgenommen worden, welche selbst von der
modernen Medizin zu den schwereren gerechnet werden. Namentlich
verdient ein Verfahren Erwähnung, das nicht nur bei vielen Natur-
völkern geübt wird, sondern auch — wie nicht wenige Funde
zeigen — schon dem prähistorischen Menschen bekannt war. Es
ist die Trepanation des Schädels, welche zum Teil durch Aufbohren,
zum Teil durch allmähliches Aufschaben des Knochens ausgeführt
wurde. Gerade diese Operation zeigt, wie rein empirisch, ohne das
14 Primitive Medizin.
Wie und Warum der Wirkung zu kennen, derartige schwere Ein-
griffe vorgenommen werden.
Man fragt sich nun unwillkürlich, wie es unter so primitiven
Umständen möglich ist, solche schwere Operationen durchzuführen.
Bei unseren heutigen Vorstellungen von der Notwendigkeit pein-
lichster Asepsis kann man sich kaum ein Bild davon machen, wie
ohne diese Errungenschaft ein glatter Heilungsverlauf vor sich
"fehen kann.
Abb. 5. Schädel mit Hiebwunde, darüber Trepanationswunde aus Neu-Guinea (nach
Gipsabguß). ^/^ Größe.
Wenn wir nun auch diese Tatsache zum Teil mit der Annahme
erklären dürfen, daß die Heilungstendenz eines im Naturzustande
lebenden Menschen an sich derjenigen eines Kulturmenschen über-
legen ist, so ist es auf der anderen Seite doch auch nicht ausge-
schlossen, daß eine gewisse unbewußte Asepsis dabei mitgewirkt
hat. Eine Asepsis, welche sich auf die einfache Beobachtung und
Erfahrung stützte, daß Wunden bei Fernhalten aller Verun-
reinigungen besser heilen.
Die zweite Frage, die sich sodann von selbst aufdrängt, geht
dahin, wie denn der Mensch die schmerzhaften Operationen ohne
Betäubung aushalten konnte. Auch da ist die Antwort ähnlich:
zunächst steht es fest, daß der primitive Mensch im Durchschnitt
weit mehr Schmerz ertragen kann als der verweichlichte Kultur-
Primitive Medizin 15
mensch. Sodann fehlt es den Naturvölkern aber auch nicht an
Mitteln, welche die Schmerzempfindung aufheben oder doch herab-
setzen. Und wenn wir aus dem, was wir von noch vorhandenen
wilden Völkern wissen, auf entsprechende Verhältnisse bei den Ur-
menschen schließen dürfen, so können wir uns vorstellen, daß diese
bei ihren chirurgischen Operationen berauschende und betäubende
Mittel in mannigfacher Art gebraucht haben : alkoholische Getränke,
aus Pflanzen gewonnene, die Sinnesempfindung aufhebende Stoffe u. ä.
So mannigfach nun auch aber die geschilderten Heilmaßnahmen
sind und so vernünftig sie selbst nach heutigen Begriffen oft er-
scheinen, so handelt es sich doch in diesen Frühstadien stets nur
um empirisches Tun. Aus diesem wird erst eine wirkliche Heil-
kunde, wie wir sie auffassen, von dem Augenblick an, in welchem
der Mensch zwischen seinen Betätigungen und ihrer Wirkung ur-
sächliche Beziehungen herzustellen sucht, also die Frage nach dem
Wie und Warum aufwirft. Diese hängt aber auf auf das innigste
zusammen mit der Frage nach dem Wesen der Krankheit.
Dämonistisches Stadium.
Eine Reihe der alltäglichsten Krankheitserscheinungen war
auch dem primitiven Menschen nach Wirkung und Ursache klar.
Ihm leuchtete ohne weiteres Nachdenken ein, daß eine Wunde
blutete, daß auf eine äußere Gewalteinwirkung Schmerz folgte, daß
ein Parasit Beschwerden verursachte. Aber bei den weitaus meisten
Leiden fehlte ihm jede Möglichkeit der Erklärung, Und so kam
es, daß, ebenso wie das Geschehen in der großen Natur — der
Wechsel der Jahreszeiten, von Sonne und Mond, das Wüten des
Gewitters u. ä. m. — so auch die Vorgänge im Körper des Ein-
zelnen auf den Einfluß eines überlegenen Willens zurückgeführt
wurden. Mit solchen besonderen Kräften waien entweder andere
Menschen ausgestattet oder aber unsichtbare übersinnliche Wesen,
Geister, Dämonen. Und das Krankmachen geschah nach der Vor-
stellung bald durch das bloße UebehvoUen des anderen, also durch
eine Art Fernwirkung, oder aber dadurch, daß ein solcher Dämon
selbst in den Körper des Menschen eindrang in irgendeiner Form,
sei es in greifbarer Gestalt, etwa als Wurm oder Stein oder aber
als ein unfaßbares Etwas. Wir haben hier also die erste Krank-
heitstheorie vor uns: sie heißt „Dämonismus".
Mit diesen Vorstellungen nahmen nun natürlicherweise auch
die gegen die Krankheiten angewandten Mittel eine andere Gestalt
an. Zum Teil werden die, wie wir sahen, oft sehr vernünftigen
Maßnahmen vollkommen durch solche ersetzt, welche sich lediglich
gegen den vermeintlichen Verursacher des Leidens richten: der
i6
Primitive Medizin.
Kranke will den übelwollenden Menschen oder Geist versöhnen
durch Geschenke u. ä, oder er versucht den in ihm sitzenden bösen
Dämon herauszulocken oder zu treiben. Hierzu dienen dann Zauber-
formeln und alle möglichen mystischen Prozeduren. Zum größeren
Teile aber bleiben trotz der Herrschaft eines derartigen Gedanken-
kreises die alten empirischen Mittel erhalten. Es wird ihnen nur
eine den Vorstellungen entsprechende Deutung und eine Einkleidung
Abb. 6. Von links nach rechts: chirurgisches Messer, Skarifikationsinstrument, Idol der
Schwindsucht, des Rückenschmerzes, der Brustbeklemmung bei brasilianischen Indianern
(Jenaer med.-hist. Sammlung), ''/^ Größe.
gegeben, welche ihre Anwendung unter dem Gesichtspunkte einer
gegen den Dämon gerichteten Maßnahme erscheinen läßt. Aber
selbst dort, wo die ganze Heilbetätiguug zunächst jeder Vernunft
bar erscheint, ist bei genauerem Hinschauen fast stets ein ratio-
neller Kern erkennbar: die eigentliche Maßnahme des Heilens wird
nur durch alle möglichen mystischen Handlungen derart verdeckt,
daß sie dem naiven Menschen höchstens als ein ganz nebensäch-
Primitive Medizin. 17
liches Beiwerk des Ganzen erscheint. So, wenn der IMedizinmann
gewisser \'ölker den Kranken unter allem möglichen Hokuspokus
einen Amulettkranz zu knabbern gibt, dessen Perlen eine Erbrechen
erregende Substanz enthalten, oder wenn er unter dem Anschein
einer religiösen Handlung den erkrankten Körperteil massiert oder
blutig ritzt. Ja selbst chirurgische Eingriffe erscheinen unter diesem
Gesichtspunkte häufig als in erster Linie gegen den bösen Geist
gerichtet ; z. B. die bereits oben erwähnte Trepanation des Schädels.
Gerade dieser Eingriff zeigt besonders deutlich, wie innig mitunter
die beiden Formen der primitiven jMedizin miteinander verflochten
sind: wird doch mit dem hypothetischen Zweck der Dämonenaus-
treibung gleichzeitig der reale Erfolg einer Loslösung etwaiger
Verwachsungen des Schädels mit der Hirnhaut erreicht, und damit
unter Umständen eine Heilung epileptischer Anfälle (bei sogenannter
traumatischer Epilepsie) erzielt.
Zauberärzte.
Die Mannigfaltigkeit der Heilbetätigungen und der ihnen zu-
grunde liegenden Vorstellungen verlangte schon auf einer frühen
Kulturstufe besondere Individuen, die sich der Medizin berufsmäßig
widmeten. Man kann sich zwar sehr wohl einen Urzustand denken,
in welchem die Heilkunst lediglich nach dem Grundsatze „Eine Hand
wäscht die andere" ausgeübt wurde, ohne daß es zur Ausbildung
besonderer heilkundiger Personen gekommen wäre. Sobald aber die
Medizin in den Bann dämonistischer Vorstellungen gerät, geht auch
hierin ein Wandel vor sich. Diejenigen Individuen, welche sich
vermöge besonderer Fähigkeiten aus der Vielheit der anderen
herausheben und zu Vermittlern zwischen dem übersinnlichen Wesen,
dem Dämon, und den Menschen aufwerfen, ziehen auch die Aus-
übung der Heilkunst in ihren Betätigungskreis hinein. War die
Krankheit nichts als die Einwirkung eines mächtigen bösen Geistes,
so war der Dämonenbeschwörer oder Zauberer auch der berufene
Helfer.
Das Musterbeispiel für diese Individuen ist der Medizinmann
der Indianer. Dieser wird von Jugend auf für seinen Beruf ganz
regelrecht vorgebildet. Ein Jüngling, welcher in den Bund der
Mide aufgenommen zu werden wünscht, hat vorher eine lange
Lehrzeit durchzumachen. Er wird durch einen bereits in seinem
Berufe volltätigen Medizinmann in allem unterrichtet, was er für
seine zukünftige Stellung nötig hat. Dazu gehört ebenso die Kenntnis
der zu Heilzwecken verwandten Stoffe, die Art ihrer Gewinnung
und Zubereitung, wie auf der anderen Seite die Vertrautheit mit
den verschiedenartigen Zauberprozeduren und mystischen Maß-
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. 2
i8 Primitive Medizin.
nahmen. Vielfach wird nach Beendigung der Ausbildung eine
förmliche Prüfung abgehalten, welche mit der Zulassung zur Be-
rufsausübung schließt. Den beiden Seiten ihrer Betätigung ent-
sprechend, führen die Medizinmänner bei der Krankenbehandlung
neben mannigfachen wirklichen Arzneimitteln vor allem eine Menge
sonderbarer und auf die Phantasie des Kranken wirkender Geräte
und Dinge mit sich, darunter namentlich solche zur Erzeugung von
Lärm. Sie verstehen es äußerst geschickt, alle möglichen ratio-
nellen Maßnahmen unter ihren mystischen Handlungen zu ver-
bergen, wie Massage, Einreibungen von Medikamenten, Skari-
fikationen und manches andere mehr. So bietet schon die Kindheit
der Medizin ein recht buntes Bild, in dem einzelne Züge bereits
manche Linie der zukünftigen Entwicklung erkennen lassen.
Die Medizin im alten Mesopotamien.
Im innigsten Zusammenhange mit den übrigen Lebensäuße-
rungen, diu-ch tausend Fäden mit ihnen verknüpft, geht mit der
allmählichen Weiterbildung der allgemeinen Kultur die Heilkunst
ihren Weg weiter. Das Ansammeln größerer Erfahrungen, die
immer weiter fortschreitende Ausbildung ärztlicher Fertigkeiten, das
zunehmende Nachdenken über die Gründe und Ursachen des Krank-
seins und Wiedergesundens, die Einreihung aller dieser Vorstellungen
in die allgemeine Weltanschauung lassen nach und nach aus der ur-
sprunghaften ungeordneten Heilbetätigung eine wirkHche Heilkunde
erwachsen, wie sie ein jedes Volk auf einer gewissen Kulturstufe
aufzuweisen hat.
Im alten Mesopotamien, das man mit Recht die Wiege unserer
heutigen Kultur nennt, bildete die Medizin einen wichtigen Be-
standteil der gesamten Lebensäußerungen. Und ebenso wie die
altbabylonische Kultur als Ganzes eine eigentliche Entwicklung
nicht erkennen läßt, uns vielmehr schon in ihren ältesten Denk-
mälern gleichsam fertig entgegentritt, so ist uns auch über die Aus-
bildung der Heilkunde dort kaum etwas bekannt. Wenn man
dabei noch bedenkt, daß sich die Geschichte des Zweistromlandes
über mindestens drei Jahrtausende erstreckt, daß an ihr drei ver-
schiedene Völker, die Sumerer, Babylonicr und Assyrer beteiligt
waren, so leuchtet ohne weiteres ein, daß man nur ein Durch-
schnittsbild seiner Kulturerscheinungen zeichnen kann.
Unsere Kenntnis über die Heilkunde Altbabyloniens beruht
neben einer geringfügigen Zahl bildlicher Darstellungen und einigen
wenigen Funden chirurgischer Instrumente vor allem auf den zahl-
reichen Keilschrifttexten, welche ärztliche Dinge behandeln. Unter
diesen gestatten uns vor allem solche aus der Bibliothek Sar-
danapals (668—626 v. Chr.). welche durchweg auf weit älteren
Quellen basieren, einen ziemlich guten Einblick in das Denken und
Tun der babylonischen Aerzte.
Die Aerzte.
Die Tatsache, daß ein Herrscher des dritten Jahrtausends v. Chr.
ärztliche Fragen in seiner Gesetzgebung zu berücksichtigen ge-
2*
20
Die Medizin im alten Mesopotamien.
zwungen war — wie dies in dem sogenannten Kodex des Cham-
murapi (etwa um 22.50 v. Chr.) der Fall ist — zeigt schon für
sich allein genommen, daß bereits vor seiner Regierungszeit das
Aerztewesen eine ziemlich weitgehende Ausbildung erfahren haben
muß. Die Aerzte scheinen schon in sehr alter Zeit Beziehungen
zur Priesterschaft gehabt zu haben, welche an allen Geschäften
des täglichen Lebens, auch an den
profansten, ideellen und materiellen
Anteil nahm. In erster Linie waren
wohl die Priester des Heilgottes
Ea und seines Sohnes Marduk zu
Aerzten berufen.
Diese Priesterärzte haben sich
im übrigen wahrscheinlich vor-
wiegend mit der — bei fast allen
antiken Völkern als vornehmer
angesehenen „inneren Medizin" be-
faßt, während sie die Chirurgie
(im ursprünglichen Sinne ystpoop'cia
= Handwerk) einer besonderen
Klasse von Heilkünstlern über-
ließen. Dafür spricht die Tatsache,
da.i6 im Kodex Chammurapi
ausschHeßlich Taxen für operative
Eingriffe vorgesehen sind, während
sie für nichtoperative fehlen. Der
Priesterarzt bezog eben als Beamter
des Königs ein festes Gehalt und
war wahrscheinlich zur unentgelt-
lichen Ausübung seines Berufes
verpflichtet; die Chirurgen dagegen
lagen ihrer Tätigkeit als freiem
Berufe ob. Die Wertschätzung
ihrer Leistungen war aber, obgleich
sie an Ansehen den Priesterärzten
nachstanden, doch eine recht hohe;
das zeigt die Bemessung der ihnen
nach dem genannten Gesetzbuch zustehenden Gebühren. So heißt es
(§ 215): „Gesetzt ein Arzt hat an jemandem einen schweren Eingriff
mittels des bronzenen Messers vorgenommen und dadurch den Be-
treffenden geheilt, oder er hat den Star jemandes mittels des bronzenen
Messers geöffnet und dadurch das Auge geheilt, so darf er zehn Sekel
Silber nehmen." Es handelt sich demnach um ein geradezu fürst-
Abb.
7. Stele mit dem Gesetzeskodex
des Chammurapi.
Die Medizin im alten Mesopotamien.
21
liches Honorar, denn fünf Sekel Silber sind beispielsweise der jähr-
liche Mietpreis für ein besseres Haus; V30 Sekel Silber ist der ganze
Tagelohn eines Handwerksmeisters (§ 274).
Für eine gewisse Freiheit des Arztberufes sprechen die be-
sonderen Bestimmungen in dem Gesetzbuch Chammurapis.
Andererseits zeigen spätere — assyrische — Quellen, daß wenigstens
die Hofärzte unter Umständen
sich die Einmischung der
Priester in ihren Beruf ge-
fallen lassen mußten und da-
für ihrerseits den weniger
bevorzugten Berufsgenossen
gegenüber nicht immer die
Gebote der Kollegialität be-
achtet zu haben scheinen.
fr" —^
:S&^Mj
Für die Ausbildung der
Meyei ues aiiüaDvionisciien cninirgen
Urlugaledinu.
Aerzte hatte schon in sehr
früher Zeit der Staat durch
Gründung und Unterhaltung besonderer Schulen gesorgt, deren
bedeutendste (nach Strabo) zu Uruk und später zu Borsippa waren.
Daß das Honorarwesen schon in sehr alter Zeit geregelt war,
wurde bereits erwähnt. Den dem Arzte zugute kommenden Be-
stimmungen entsprach dann freilich auf der anderen Seite eine rigo-
rose Behandlung der ärztlichen Kunstfehler. Heißt es doch bei
Chammurapi {§ 218): „Gesetzt ein Arzt hat bei jemandem
einen schweren Eingriff mittels des bronzenen Messers vorge-
nommen und dadurch den Tod des Betreffenden veranlaßt, oder
er hat jemandes Star mit dem bronzenen Messer eröffnet und
dadurch das Auge zerstört, so wird man ihm die Hand abschneiden.
Mag diese Strafe auch wohl nur selten wirklich ausgeführt worden
sein, so hatte doch der Arzt jedes gröbere \^ersehen mit schwerer
Geldbuße wieder gut zu machen.
Neben den beiden genannten Gruppen von Aerzten bestand ein
niederes Heilpersonal, dem alle die Betätigungen oblagen, welche
jene unter ihrer Würde hielten. Diese Leute — Bader, Arznei-
bereiter und ähnliche — übten ihren Beruf teils als Gehilfen der
Aerzte, teils als selbständigen Erwerb aus.
Die medizinischen Anschauungen und Leistungen.
Der weitgehenden Ausbildung des Aerztewesens entsprach auch
ein schon recht beträchtlicher Hochstand der Heilkunde, die freilich
nach unseren derzeitigen, noch ziemlich unzureichenden Kenntnissen
ein merkwürdig buntes Bild aufweist. Sein wesentlicher Zug ist
22
Die Medizin im alten Mesopotamien.
eine außerordentliche Abhängigkeit von der allgemeinen Weltan-
schauung, wie sie sich sowohl in der medizinischen Theorie als auch
in der ärztlichen Praxis
kundgibt. In der erste-
ren spielt eine Haupt-
rolle die Annahme, daß,
wie alles Geschehen in
der Welt, die größten
und die kleinsten Dinge
von dem Willen einer
übergewaltigen gött-
lichen Macht abhängig
seien, so auch alle Vor-
gänge im und am
menschlichen Körper
dieser allgemeinen Ge-
setzmäßigkeit unter-
lägen ; daß demnach
alle Erscheinungen des
Daseins in der gleichen
Weise zu erklären seien.
Die feste Unterlage
dieser großzügigen An-
schauungen bildete die
Astronomie, welche als
die das ganze Denken
der Babylonier beherr-
schende Wissenschaft
auch die Medizin tief
in ihren Bann ver-
strickte. Die Bedeutung
dieses Zusammenhangs
offenbart sich an den
verschiedenen Bestand-
teilen der altbabyloni-
schen Heilkunde.
Alle Vorgänge im
gesunden, alle Verän-
derungen im kranken
Körper, der Zug der
epidemischen Krankheiten, der Wechsel in der Häufigkeit bestimmter
Leiden — alles dies erschien dem babylonischen Arzte ebenso ab-
hängig von den Himmelsvorgängen, wie auch bei allen ärztlichen
Abb. 9. Keilschrift-Tontäf eichen mit dem sogenannten
„Zahnwurmtext", einem Rezept gegen Zahnkaries, in
eine Beschwörungsformel eingekleidet.
Die Medizin im alten Mesopotamien. 23
Maßnahmen der Gang der Gestirne berücksichtigt sein will. Da-
neben werden zur Erklärung der Vorgänge im Körper mit Vor-
liebe Vergleiche mit den Geschehnissen in der übrigen großen Natur
herangezogen: die Durchströmung des Körpers mit Blut wird mit
der Befruchtung des Landes durch die Ströme, die Bedeutung der
dem Körper innewohnenden Wärme wird mit dem Einfluß der
Sonne auf das Gedeihen der Fluren, die Funktion der Atmung mit
den Winden verglichen u. a. m.
Die eigentliche Ursache des Krankwerdens wird fast durch-
weg außerhalb des Körpers gesucht. Für das Kranksein da-
gegen werden auch innere Vorgänge zur Erklärung herangezogen.
Ausgehend von der Erfahrung, daß gewisse, als Parasiten im
Körper lebende Tiere, die man sich aus faulender Substanz ent-
standen vorstellte, unter Umständen Krankheitserscheinungen her-
vorrufen können, suchte man auch für mancherlei Leiden, deren
Symptome irgendwelche x\nalogie darboten, einen solchen „Wurm"
als L'rsache, z. B. bei der Zahnkaries. Daneben scheint man vor
allem den im Körper kreisenden Flüssigkeiten (humores), nament-
lich dem Blute, eine besondere Rolle bei den I>ebensfunktionen zu-
geteilt zu haben.
Wir haben also bei den alten Babyloniern eine Mischung ver-
schiedener Krankheitstheorien : dämonistische , kosmische , parasi-
täre, humoralpathologische ; eine Mischung von übersinnlichen und
rationellen Vorstellungen, deren einzelne Komponenten, wahrschein-
lich zu verschiedenen Zeiten entstanden, allmählich die eine als Er-
gänzung der anderen erkannt und ohne Rücksicht auf die ihnen
untereinander anhaftenden Widersprüche zu einem Gesamtbilde ver-
einigt wurden.
Bei weitem nicht so bunt wie die Krankheitstheorie erscheint
die Lehre von den Krankheitssymptomen. Zwar findet sich auch
hier eine Verquickung mystischer und nüchterner Anschauungen;
aber die ersteren erweisen sich fast durchweg als bloße Einkleidung
der letzteren. Und wenn man in den überlieferten Texten dieses
mystische Kleid entfernt oder auch nur etwas lüftet, so treten fast
überall Krankheitsschilderungen zutage, welche eine nüchterne Be-
obachtungsgabe und die Fähigkeit bezeugen, das Wesentliche vom
Unwesentlichen zu trennen. Ohne daß geradezu Krankheitsbilder
im heutigen Sinne umrissen werden, ist doch die Zusammenfassung
der verschiedenen Symptome vielfach recht anschaulich. Dabei
herrscht das Bestreben vor, möglichst jeder kleinen Abweichung
Beachtung zu schenken, und sie als einen besonderen Fall zu be-
handeln; ein Verfahren, das — übrigens auch im Gesetzbuchc
Chammurapis durchgeführt — seine zwei Seiten hat: auf der einen
24 Die Medizin im alten Mesopotamien.
führt es zu einer ausgesprochenen Individualisierung, auf der
anderen aber zu einer ins Endlose gehenden Spalterei, die einer
Gewinnung höherer allgemeiner Gesichtspunkte durchaus abträg-
lich ist. So erklärt es sich auch, daß die ganze medizinische
Literatur Altbabyloniens von der sumerischen bis in die assyrische
Zeit hinein nicht über die Abfassung kasuistischer Sammlungen
hinausgegangen ist.
Um so anerkennenswerter ist die wohldifferenzierte Sym-
ptomatologie, welche eine große Anzahl der verschiedensten Krank-
heitserscheinungen in lebendiger Weise wiedergibt und im ein-
zelnen Falle zu einer Krankheitsdiagnose zu gelangen sucht. Sie
setzt eine gute Beobachtungsgabe und ein feines Unterscheidungs-
vermögen voraus, wie sie nur auf Grund einer langen Ausbildung
denkbar sind. Ein recht charakteristisches Krankheitsbild mit
mannigfaltigen Einzelzügen ist z. B. folgendes: „Wenn einem
Menschen, ohne daß er etwas geniefi^t, sein Inneres zum Erbrechen
neigt, er Auswurf in Menge auswirft, Wasser in seinen Mund
kommt wie . . ., sein Antlitz rot geworden ist, seine inneren Teile
entzündet sind, seine Körpermitte sich erweitert, seine Kniee an
einem kalten Tage ... er Speise und Rauschtrank (wieder er-
bricht?), kaltes Wasser in Menge trinkt, es wieder erbricht, in
seinem After . . .. die Muskeln seines Fleisches ihm ("erschlafft sind ?),
seine Fleischteile wie gelähmt, wer immer ißt, ihm zuwider er-
scheint, usw. usw."
Auch der Prognose in dem Sinne einer Vorhersag'e des
Krankheitsausganges wird in der babylonischen Medizin ein Platz
eingeräumt. Sie wird äußerlich vollkommen von astrologischen
Einflüssen beherrscht, welche sich nicht auf die allgemeine Vor-
ausbestimmung beschränken, sondern sich auf alle möglichen Einzel-
vorgänge im Körper erstrecken. Daneben aber besteht — wenig-
stens im Keim ^ eine rein ärztliche Prognostik, die sich ausschließ-
lich auf die im Einzelfall vorliegenden Krankheitssymptome stützt.
So, wenn es in einem alten Keilschrifttext heißt: „Wenn ein Mensch
an einem Ahhazu krank ist, sein Haupt, sein Antlitz, sein ganzer
Körper und sogar die Wurzel seiner Zunge ergriffen ist, an selbigen
Kranken soll der Arzt seine Hand nicht legen, selbiger Mensch
wird sterben und nicht genesen." Dieser Text enthält gleichzeitig
eine ethische Forderung an den Arzt, daß er nämlich in den von
vornherein aussichtslosen Fällen nicht erst seine Kunst anwenden soll.
Die Art der Krankenbehandlung hat viele gemeinsame
Züge mit der primitiven Medizin. Bei ihr herrscht beim ersten An-
blick ein bunter, aus verschiedensten Bestandteilen zusammen-
gesetzter Wirrwar, der scheinbar dem Arzte keinerlei zuverlässige
Handhabe bietet. Immer wiederkehrende Beschwörung-s- und Zauber-
Die ^ledizin im alten ^lesopotamien.
25
Abb. lo. Altbaby Ionische chirurgische Instrumente, gefunden zu Xinive. Von links nach
rechts: zweischneidiges Skalpell, Säge, Trepan, 2 Messer, sämtlich aus Bronze, 1 kleines
Obsidianmesser. (Sammlung Prof. Meyer-Steineg.)
26 Die Medizin im alten Mesopotamien.
formein machen vielfach die ganze Therapie aus. Und doch, sieht
man näher hin, so ändert sich das Bild außerordenthch : der Arzt
überläßt in Wirklichkeit keineswegs immer der Gottheit oder der
blind waltenden Natur das Heilgeschäft. Er greift vielmehr, inner-
lich wohl selbst viel freier von Aberglauben als es den Anschein
hat, durch eigne Handlungen energisch ein, wenn er diese auch,
um dem allgemeinen Glauben Rechnung zu tragen, meist mit allerlei
mystischem Beiwerk umkleidet. Das zeigen uns zahlreiche Texte,
wie etwa der oben schon erwähnte „Zahnwurm-Text". Während
in diesem die Beschwörungsformel fast den ganzen Raum einnimmt,
und die Heilmaßnahme nur als „Handlung dabei" bezeichnet wird,
ist in Wahrheit, abgesehen von der Suggestivwirkung, das eigent-
lich wirksame Prinzip die Ausfüllung des Zahnes mit einer schmerz-
stillenden Plombe aus Hyoscyamus und Mastix.
So weist auch der Arzneischatz der Bab)4onier eine ziem-
lich reichhaltige Sammlung aus allen drei Reichen auf: Pflanzen-,
Tierstoffe und Mineralien. Und ihre Anwendung geschieht in
mannigfaltiger Form : als Trank, Mixtur, Paste, Einreibung, Um-
schlag, Bad, Klistier u. a. m.
Auch die Chirurgie scheint — und zwar, wie oben erwähnt,
als Sonderfach — bereits wohlausgebildet gewesen zu sein. Denn
wenn im Kodex Chammurapi neben schlechthin „schweren Opera-
tionen" die Star-, Tränenfisteloperation mit Namen erwähnt werden,
wenn für die Behandlung von Knochenbrüchen oder schmerzhaften
Geschwülsten besondere Taxen aufgestellt werden, so muß in dieser
alten Zeit bereits eine ganze Reihe verschiedener chirurgischer Be-
handlungsmethoden vorgelegen haben. Dafür sprechen auch die
— freilich spärlichen — Funde chirurgischer Instrumente.
Die altägyptische Medizin.
Die altäg}ptische Heilkunde ähnelt — trotz mancher Ab-
weichungen im einzelnen — in ihren Grundzügen jener Babyloniens;
wie ja auch diese beiden Kul-
turkreise überhaupt mancherlei
verwandte Züge aufweisen. Rein
äußerlich betrachtet, läßt sich
bei den Aeg}"ptern zwar deut-
licher eine Art von Entwick-
lungsgang der Medizin fest-
stellen, der in Bab3ionien fehlt,
oder besser: zu fehlen scheint,
weil die Literatur der letzteren
chronologisch weit unsicherer
ist. Die Quellen der äg\'ptischen
Medizin zeigen, ihrem verschie-
denen Alter entsprechend, auch
ein verschiedenes Gepräge. Die
ältesten, unter dem „Alten Reich"
entstandenen, also in das3. Jahr-
tausend hinein reichenden Pa-
pyrosfunde (namentlich der so-
genannte „Veterinär - Papyros"
und der „gynäkologische PapATos
von Kahun") stellen im wesent-
liehen einfache Rezeptsam m- '
lungen mit kurzen Krankheits- |
bildern dar. Diese sind voU-
j
kommen frei von religiös-mysti-
schen Beimengungen und be-
weisen durch ihre gute Erfassung
der Symptomenkomplexe und
ihre einfachen, aber rationellen
Behandlungsmaßnahmen einen
ziemlich hohen Stand des ärzt- .^^ , , , _ . . „ ..
, . Abb. 1 1 . Imhotep, der ägyptische Hetigott
liehen Könnens und der ärzt- ^„ach Holländer. Plastik und Medizin, mit
liehen Erfahnmg. Genehmigung des Verf.).
28 Die altägyptische Medizin.
Die zweite Epoche, die mit dem „Mittleren Reich" zusammen-
fällt, wird am besten durch den berühmten „Papyros Ebers" be-
leuchtet, dessen Niederschrift zwar erst um 1550 v. Chr. erfolgt ist,
dessen Vorlagen aber weit älter sind. Sie zeigt deutlich das Ein-
dringen religiöser Vorstellungen in die Medizin ; doch bleibt überall
Abb. 12. Eine Kolumne ans dem ,, Papyros Ebers".
der empirische Grundcharakter noch sichtbar, und ganze Abschnitte
der aus dieser Zeit stammenden Papyri, insbesondere des erwähnten,
tragen vollkommen das Gepräge der ersten Epoche und erweisen
damit ihre Herkunft aus der Vergangenheit.
Mit dem Uebergange des , .Mittleren Reiches" zum „Neuen
Reiche", also etwa von 1500 v. Chr. ab, nehmen dann die aber-
Die altägyptische Medizin.
29
gläubischen Elemente in der ägyptischen Heilkunde immer mehr
zu, wie dies der Papyros Brugsch mit seinem starken Hervortreten
magischer Prozeduren zeigt.
Mit dem Beginn des i. Jahrtausends verschwindet sodann der
empirische Einschlag- fast vollkommen und macht einem Wust von
krassem Aberglauben und Geheimniskrämerei Platz.
Aber auch die Literatur der Blütezeit besteht, wie der Pap^Tos
Ebers beweist, nur aus Kompilationen aus der älteren Zeit. ^lag
auch den altägj^ptischen x\erzten selbst ein derartiges Buch als eine
Art Handbuch erschienen sein, so fehlt ihm nach unseren Begriffen
dazu vor allem jede kritische Sichtung und jegliche Durchtränkung
mit dem eigenen Geist des Verfassers, Im Gegenteil war dessen
ganzer Ehrgeiz offenbar darauf gerichtet, seinem Wissen durch
Zurückführung auf möglichst weit zurückliegende Zeiten und Ver-
knüpfung mit göttlichen Dingen eine größere Autorität zu verleihen.
Der Aerztestand.
Einen Aerztestand hat Aegypten schon in sehr alter Zeit her-
vorgebracht. Ursprünglich scheint die Heilkunde in den Händen
von Laienärzten g^elegen zu haben.
Diese waren aber vielleicht hierar-
chisch gegliedert, denn uns ist ein
unter der fünften Dynastie lebender
„Oberarzt" überliefert. In der Blüte-
zeit ist dann die Heilkunde in die
Hände der Priester übergegangen
— ganz ebenso wie in Altbaby-
lonien. Dabei steht aber nicht fest,
ob — wie die einen behaupten —
jeder Priester gleichzeitig ärztliche
Funktionen ausgeübt hat, oder ob
umgekehrt nur alle Aerzte der
Priesterkaste angehört haben. Sicher-
lich war ihre Zahl sehr groß; und
schon in sehr früher Zeit wurden
gewisse Sonderfächer der Medizin
von entsprechenden Spezialisten aus-
geübt. Nach Herodot gab es solche
„Fachärzte", von denen die einen
nur Augen, andere nur Kopfleiden,
wieder andere Krankheiten der Zähne
oder des Unterleibes oder bestimmter ^bb. 13. Der ägyptische Oberarzt
innerer Organe behandelten. Im jamatearch.
30
Die altägyptische Medizin.
übrigen waren wohl die Verhältnisse der ägyptischen Aerzte denen der
bab3'lonischGn. Aerzte ähnlich. Sie waren als Priester Beamte, die
ihr festes Gehalt aus den
Tempeleinkünften be-
zogen. Ihre Ausbildung
genossen sie in den den
Tempeln angeglieder-
ten Schulen, deren be-
rühmteste die von On,
Sais, Memphis und
Theben waren. Ihr An-
sehen war sehr hoch,
gründete sich aber we-
niger auf ihre eigentlich
ärztlichen Leistungen
als vielmehr auf ihre
Fähigkeit, diese in die
Form einer religiösen
Handlung einzukleiden.
Deshalb nehm.en unter
den drei Gruppen, in
die sich die Priester-
Abb. 14. Der altägyptische Arzt IWTI (19. Dynastie).
Abb. 15. Altägyptisches Votiv
eines Augenkranken (nach
Erman).
ärzte gliederten — innerer Arzt, Chirurg, Beschwörer — die letzteren
in der Blütezeit der ägyptischen Kultur den höchsten Rang ein.
Auffallend ist, daß zwar viel von berühmten Aerzteschulen,
aber nichts von bedeutenden Ärzten überliefert ist. Diese scheinen
also vollkommen in der Gesamtheit aufgegangen zu sein; eine Tat-
sache, welche neben anderem mit zu der Erstarrung der ägyp-
tischen Heilkunst beisfetrasren haben dürfte.
Die altägyptische Medizin. 31
Die medizinischen Anschauungen und Leistungen.
Die ägyptische Medizin selbst zeigt trotz aller Aehnlichkeit
mit der babylonischen doch in höherem Grade das Bestreben, für
das praktische Handeln des Arztes gewisse allgemeine Unter-
lagen zu schaffen. Die Kenntnisse über den Bau und die Funktionen
des normalen menschlichen Körpers sind freilich auch in Aegypten
noch recht gering. Die bei der üblichen Einbalsamierung der
Leichen gebotene Möglichkeit, sich wenigstens über die dabei frei-
gelegten Körperteile (also Bauch- und Brustorgane) zu unterrichten,
ist von den ägyptischen Aerzten auffallend wenig benutzt worden.
Wahrscheinlich aus einer gewissen religiösen Scheu heraus, welche
auch jede weitere Zergliederung des Leichnams streng verpönte.
Immerhin sind die Bauch- und Brustorgane einigermaßen gut be-
kannt, während über den Bau der Muskeln, der Knochen, Adern,
Nerven usw. ganz willkürliche Vorstellungen herrschten, die im
wesentlichen auf dem Wege reiner Spekulation gewonnen wurden.
Das sieht man ganz klar aus dem Abschnitt im Papyros Ebers, der
den Titel „Das Geheimbuch des Arztes, die Kenntnis vom Gang
des Herzens und die Kenntnis vom Herzen" trägt und mit einer
anatomisch-physiologischen Abhandlung beginnt.
Die Krankheitslehre ähnelt in vielfacher Beziehung der baby-
lonischen; sie beruht, ebenso wie diese, auf verschiedenen Vorstel-
lungen : obenan steht der Wille der Götter als Ursache alles Krank-
seins, bei den einzelnen Leiden spielen dann bestimmte Dämonen
eine Rolle, indem sie gleichsam von dem Kranken Besitz ergreifen.
Eine der wichtigsten Ursachen der Krankheiten aber ist auch hier
der „Wurm", Und zwar führte man auf jede einzelne Form von
Schmarotzern auch eine besondere Art von Krankheit zurück. Der
Wurm erscheint dem ägyptischen Arzte nicht einfach als ein Symbol
der Krankheit, sondern als ihre ganz reale Ursache. Als solche
werden auch Verstöße gegen die normale Lebensweise, insbesondere
falsch zusammengesetzte oder übermäßige Nahrung gewürdigt.
Den Krankheitsvorgang selbst sehen die Aegypter in Zustands-
veränderungen der verschiedenen Bestandteile des Körpers. Unter
diesen nimmt das Blut wieder eine hervorragende Stellung ein (also
wieder eine „humorale" Betrachtungsweise) ; aber über ihm steht
als höchstes Prinzip das „Pneuma". Unter diesem verstand man
oinen in der Luft enthaltenen unsichtbaren Stoff, welcher, durch
die Atmung von der Lunge aufgenommen, von dieser zum Llerzen
geleitet wird und von dort aus durch die Schlagadern, die man
sich ausschließlich mit diesem Medium erfüllt dachte, dem ganzen
Körper mitgeteilt wird. Normale Beschaffenheit des Blutes und
32
Die altägyptische Medizin.
Pneumas ist Voraussetzung der Gesundheit. Krankheit dagegen
ist im letzten Sinne eine Veränderung dieser beiden Stoffe, die in
vielen Fällen als eine Art „Fäulnis" bezeichnet wird. Neben der
Humoralpathologie steht hier also als gleichwertiges Prinzip die
Pneumalehre; beides wichtige Grundlagen späterer Krankheits-
theorien.
Steckt in diesen Anschauungen auch schon der Keim einiger
rationeller Gedankengänge, so steht doch an Bedeutung weit über
ihnen die Auffassung der Krankheitsbilder. Denn diese sind, wenn
schon sie sich nur zu einem kleinen Teile mit unseren heutigen
decken, so doch derart in sich
geschlossen und dadurch gegen-
einander abgegrenzt, da.ii sie
dem Arzte jener Zeit eine recht
brauchbare Unterlage für die
Behandlung boten. Man lese
z. B. im Papyros Ebers (XXVI) :
„Wenn du eine Person unter-
suchest, die an einer Verstopfung
ihres Leibes leidet; sie fühlt sich
beschwert, wenn sie Nahrung zu
sich nimmt, ihr Leib schwillt auf,
ihr Herz ist matt, wenn sie geht,
wie bei einer Person, die an Ent-
zündung im After leidet: laß sie
sich ausgestreckt hinlegen und
untersuche sie. Findest du dann,
daß ihr Leib heiid, ihr Unterleib
hart ist, so sage du zu ihr: es
ist ein Leberleiden. Mache ihr
das geheimnisvolle Pflanzen-
mittel , damit du ihren Leib
ausleerest. Wenn du, nachdem
dies geschehen ist, die beiden Seiten an ihrem Leib, die rechte
heiß, die linke kühl findest, so sag du dazu: das ist eine Krank-
heit, die dabei ist zu heilen, sie verzehrt sich. Besuche sie wieder.
Findest du, daß ihr Leib überall abgekühlt ist, so sag du:
deine Leber hat sich zerteilt und gereinigt, du hast die Arznei an-
genommen."
In ähnlicher Weise werden eine ganze Reihe von Krankheits-
zuständen gezeichnet; zumeist freilich beschränkt sich der Verfasser
des Pap3'ros auf eine bloße Benennung der Krankheit oder doch
auf die hervorstechendsten Symptomenangaben.
Abb. i6. Reiseapotheke der Königin Men-
tuhotep (2000 V. Chr.). Berl. Museum.
Die altägj^ptische Medizin. 33
Jedenfalls bauen sich alle diese Krankheitsbilder — wie schon
das eine Beispiel ersichtlich macht — auf einer recht vielseitigen
S3*mptomatologie auf, wie sie nur auf Grund einer gut entwickelten
Beobachtung sich ausbilden und mit Hilfe einer fortgeschrittenen
Diagnostik praktisch verwertet werden kann. Und in der Tat läßt
diese bereits deutlich die wichtigsten Elemente unserer heutigen
Untersuchungsmethoden erkennen: die Besichtigung, die Betastung
und die Behorchung. Die erstere dient dem ägyptischen Arzte zur
Feststellung von Veränderungen der Form, Farbe und Lage äußerer
Körperteile, der Haut, Haare, Xägel usw., ferner des Urins und
anderer Ausscheidungen. Die Betastung, welche besonders bezüg-
lich der Bauchorgane ziemlich fein ausgebildet ist, erstreckt sich vor
allem auf die Erkennung aller Abweichungen der Konsistenz, der
Lage, Form, Temperatur usw. So wird z. B. das Gefühl der „Fluk-
tuation" im Papyros Ebers (CVII) sehr gut charakterisiert: „Wenn
du eine Geschwulst in einem beliebigen Körperteile einer Person
antriffst und findest, daß sie unter den Fingern geht und kommt,
indem es zittert, auch wenn deine Hand still ist " Die Be-
horchung scheint ebenfalls als Untersuchungsmittel angewandt worden
zu sein, denn der Satz, „das Ohr hört darunter" kann kaum anders
verstanden werden.
In der Therapie kommt die Vermeng^ng rationell-empirischer
mit abergläubisch-theurgischen Elementen deutlich zum Ausdruck
jedenfalls wenn man die Blütezeit der ägyptischen Heilkunde dabei
in Betracht zieht. Aber wenn man von der späteren Verfallzeit ab-
sieht, so erscheinen die religiösen Verrichtungen, welche zumeist die
ärztliche Behandlung begleiten, sehr häufig als eine bloße Einkleidung
ganz vernünftiger, auf Erfahrung beruhender Maßnahmen und dienen
dann vor allem zu deren Unterstützung, indem sie als suggestive
Faktoren mitwirken. Daß der altägyptische Arzt auf sie nicht ver-
zichtet, erklärt sich ohne weiteres aus seiner Zugehörigkeit zur
Priesterkaste. Die Grundsätze, auf die sich die eigentliche Therapie
stützt, sind zwar nirgends in der auf uns gekommenen Literatur aus-
drücklich aufgestellt, sie lassen sich aber ohne weiteres aus den zahl-
reichen Verordnungen entnehmen und entsprechen den Anschau-
ungen über das Wesen der Krankheiten: sie richten sich nämlich
vielfach auf eine Ausscheidung der im Körper gebildeten „Fäulnis-
stoffe" und bestehen somit vor allem in Mitteln, welche die Magen-
und Darmentleerung, die Urin- und Schweißabsonderung befördern
oder das „schlechte Blut" entleeren. Insoweit stellen diese M<iß-
Mey er-Steineg u. Sudboff, lllustr. Geachichte der Medizin. 3
34 Die altägyptische Medizin.
nahmen die praktischen Folgerungen der humoralpathologischen Be-
trachtung dar.
Andere Behandlungsmethoden, welche auf Erregung von Auf-
stoßen und Abgang von Blähungen, d. h. also auf die Entfernung-
der „verdorbenen Luft" abzielten, lassen die pneuma-pathologische
Grundvorstellung erkennen. Wieder andere richten sich gegen die
wirklich vorhandenen tierischen Schmarotzer oder gegen die ange-
nommenen „Würmer".
Der von den ägyptischen Aerzten verwandte Arzneischatz ist
bereits außerordentlich reichhaltig und weist neben einer großen
Zahl nach unserer Anschauung wertloser Dinge — darunter nament-
lich auch solcher der Dreckapotheke — eine ganze Reihe wert-
voller, noch heute im Gebrauch befindlicher Stoffe auf. Dazu ge-
hören z. B. Lactuca, Absinth, Mohn (Opium), Rizinusöl, Granat-
wurzelrinde, Hyoscyamos, Stychnos, Natron, verschiedene Kupfer- und
Zinksalze, Kanthariden, verschiedene Arten von Tierfett und manches
mehr.
Ebenso mannigfaltig wie die Stoffe selbst ist ihre Zubereitung-
und Därreichungsform : einfache oder zusammengesetzte Auszüge,
Abkochungen, Elektuarien, Salben, Pasten u. v. m. werden als Tränke^
Klistiere, Gurgel- oder Spülwässer, Einreibungen, Einspritzungen,
Umschläge, Stuhlzäpfchen und Räucherungen verwandt. Die Rezeptur
mutet ganz modern an: sie enthält häufig neben dem Grundstoff
ein sogenanntes Hilfsmittel (Adjuvans) und Geschmacksverbesserungs-
mittel (Corrigens), So lautet ein Rezept zur Ausleerung des Darms:
Absinth
Datteln
Bitteres Bier
Brotteig
Wein
Eselsmilch
Kochen, Durchseihen und 4 Tage Einnehmen.
Ueber die Zeit und wichtigen Umstände der Darreichung werden
gewöhnlich genaue Vorschriften gemacht. Für bestimmte Krank-
heitsgruppen werden besondere Kuren verordnet, welche sich aus
einer fortlaufenden Reihe von einzelnen über die verschiedenen
Krankheitstage verteilten Maßnahmen zusammensetzen. So besteht
die Behandlung der akuten Leiden in einer eintägigen Vorbereitungs-
und einer 4-tägigen Hauptkur.
Ueber die chirurgischen Leistungen der alten Aeg3^pter ist leider
wenig bekannt. Doch lassen schon die Grundsätze der Wundbehand-
Vs
denä.
Vs
V2
Vs
V.S
I
Die altägyptische Medizin.
35
lung erkennen, daß dieses Gebiet keinesfalls hinter der inneren
Medizin zurückgestanden hat. Den einzelnen Stadien der Wund-
heilung entspricht eine verschiedene Behandlung. „Reine" und „ver-
unreinigte" Wunden werden voneinander getrennt. Auch die Eigenart
der Verletzungen an den verschiedenen Teilen des Körpers wird
beachtet. Im übri-
gen ist uns Ge-
naueres nur über
die Therapie der
Geschwülste be-
kannt, welcher der
Pap3'ros Ebers ( 1 04)
einen Abschnitt
widmet. Je nach
dem Sitz der Ge-
schwulst und je
nach ihrer Eigenart
wechselt die da-
gegen verordnete
Behandlung. Xeben
dem Messer wird
dabei auch dem
Kauter ein Platz
eingeräumt, teilszur
Zerstörung der Ge-
schwulst selbst, teils
aber — wie bei
Adergeschwülsten
— um nach der
blutigen Entfer-
nung die Blutung
zu stillen. Gerade
diese Aufgabe
scheint — begreif-
licherweise — dem
altägyptischen
Arzte besondere
Schwierigkeiten bereitet zu haben, denn bei dieser Gelegenheit werden
zur Unterstützung Zauberworte empfohlen.
Bei ganz aussichtslosen Leiden dagegen wird ausdrücklich ge-
raten, gar nichts zu unternehmen. Ob und welcher Art größere
chirurgische Eingriffe ausgeführt worden sind, läßt sich mangels
literarischer Quellen nicht mit Bestimmtheit sagen, höchstens kann
3*
Abb. 17. Altägyptische chirurgische Instramente: oben 2 Skari-
fikationsinstramente. Unten und rechts 3 Messer (Sammhing
Prof. Meykr-Steineg).
36
Die altägyptische Medizin.
Abb. i8. Operationsszene (Zirkumzission) aus der Nekropole von Sakkarah (mit Geneh-
migung des Verf. aus Holländer, Plastik und Medizin).
Die altägyptische Medizin. 37
man aus einer gewissen Reichhaltigkeit des Instrumentariums, wie
sie in einer Reihe von Funden zutage tritt, einige Rückschlüsse
auf die damit vorgenommenen Operationen ziehen. Für die chirur-
gischen Leistungen bei der Behandlung von Knochenbrüchen haben
wir greifbare Zeugnisse in zahlreichen gut verheilten ^lumienknochcn.
Unter den bereits oben (S. 29) erwähnten Sondergebieten der
äg}^ptischen Medizin steht obenan die Augenheilkunde. Welche
'- — ■■ .'-'-• TKfe^'**'*'
L
. .»w
- «* . ' -
i'
V
Abb. 19. Instrumentenschrank. Relief vom Tempel zu Köm Omboi in Ägypten (nach
Holländer, Plastik und Medizin, mit Genehmigimg des Verf.).
Wichtigkeit ihr eingeräumt wurde, sieht man daraus, daß der Ver-
fasser des Papyros Ebers ihr einen ziemlich umfangreichen Abschnitt
widmet. Von den Augenleiden sind in erkennbarer Weise geschildert
mehrere Arten von Erkrankungen der Lider, der Bindehaut, der
Hornhaut, der Regenbogenhaut sowie das Schielen. Sie scheinen
sämtlich als rein örtliche Leiden aufgefaßt worden zu sein. Einzelne
Symptome sind durchaus richtig dargestellt. Auch die Therapie
zeigt im allgemeinen einen rationellen Charakter, wenn auch einzelne
38
Die altägyptische Medizin.
Beschwörungsformeln eingestreut sind. Sie weist einige noch heute
gebräuchliche Mittel auf, wie vor allem Blei- und Kupfersalze in
verschiedener Zubereitung. Gegen Ohren- und Zahnkrankheiten
finden sich im Pap3Tos Ebers nur einige Rezepte.
Dagegen nimmt die Gynäkologie und Geburtshilfe in der äg3^p-
tischen Medizin einen ziemlich breiten Raum ein. Namentlich be-
faßt sich mit diesen Zweigen der bereits oben erwähnte (S. 27) Pap3T0s
von Kahun. Die Diagnostik der Schwangerschaft wird unter ver-
schiedenen Gesichtspunkten behandelt. Ferner finden sich Verord-
nungen zur Beförderung der Konzeption, zur Anregung der Wehen-
tätigkeit und der Milchabsonderung ; sie bestehen vorwiegend in ört-
lichen Applikationen. Von Frauenleiden werden namentlich die
■^^-^Trf^f^"^
Abb. 20. Altägyptische Darstellung einer Niederkunft (aus Sakkarah). Aus Holländer,
Plastik und ISIedizin, mit Genehmigung des Verf.
Störungen der Menstruation behandelt, aber auch die Erkrankungen
der Brüste und Genitalorgane. Die gynäkologische Diagnostik kenn-
zeichnet folgende Vorschrift des Pap3^ros Ebers (97): ,,\Venn du ein
Weib untersuchst, das viele Jahre gelebt hat, ohne daß ihre Men-
struation eingetreten ist, sie bricht etwas wie Schlamm aus, und ihr
Leib ist, wie wenn Feuer darunter wäre, aber sie erholt sich wieder
nach dem Brechen, so sag du zu ihr: ,es ist ein Steigen von Blut
in ihre Gebärmutter u. s. w.'." Die Behandlung ist in fast allen Fällen
vorwiegend örtlich und besteht in Spülungen, Sitzbädern, Räuche-
rungen, Einführen von arzneilichen Pessaren u. ä. m.
Ist nach den vorstehenden Ausführungen das Wissen und Können
der altägyptischen Aerzte in der Beurteilung und Behandlung der
Krankheiten bereits recht ansehnlich, so wird es doch weit über-
Die altägyptische Medizin. 39
troffen auf einem Gebiete, das in jener alten Zeit nur zum geringsten
Teile unter den ärztlichen Beruf fiel: der Hygiene. Wenn Herodot
die Aeg3'pter für das gesundeste Volk (neben den L3^biern) erklärt,
wenn DiODOR sagt : „Die ganze Lebensweise (der Aegypter) war so
gleichmäßig geordnet, daß man hätte meinen können, sie wäre nicht
von einem Gesetzgeber vorg^eschrieben, sondern von einem tüchtigen
Arzte nach den Regeln der Gesundheit berechnet", so zeugt das
beides von der Wertung, deren sich die äg3'ptische Hygiene schon
im Altertum erfreute. Durchführbar war sie freilich nur dadurch,
daß ihren Regeln die Form religiöser Gebote gegeben wurde. Das
gilt für das Bestattungswesen, für die streng gehandhabte Fleisch-
beschau, für die Gebote über die Reinhaltung der Wohnungen,
der Kleidung und des Körpers, über die Ernährung, den Geschlechts-
verkehr, kurz für fast die gesamte Lebensführung des einzelnen wie
der Allgemeinheit. Alle diese Vorschriften beweisen, daß die Er-
kenntnis, man könne leichter Krankheiten verhüten als heilen, bei
den alten Aeg}^ptern v^oUkommen Gemeingut war. Daß auch die
Aerzte auf dem gleichen Standpunkte standen, ergibt sich aus der
prophylaktischen Empfehlung, daß auch der Gesunde in gewissen
Zwischenräumen seinen Körper durch Brech- und Abführmittel ent-
leeren solle.
Wir haben also, alles in allem genommen, in der ägyptischen
ebenso wie in der altbabylonischen Medizin Leistungen vor uns, die
bei ihrer Vermengung von empirischem Rationalismus und religiösem
Mysticismus zwar der äußeren Form nach sich nicht sehr weit
über das Können mancher begabter Naturvölker erheben, ihren tat-
sächlichen Wirkungen nach aber eine vortreffliche Grundlage für
die weitere Entwicklung einer höheren Medizin abgaben. Und wenn
diese altorientalischen Völker über die Ansammlung von Einzelkennt-
nissen und einzelnen Heilmaßnahmen nicht herausgekommen sind,
so lag dieses vor allem daran, daß die bei ihnen herrschende Ueber-
schätzung der Tradition durch fortwährendes Mitschleppen des Alt-
hergebrachten das Neue nur so weit aufkommen ließ, wie es sich
ohne weiteres dem Alten anfügte. Es bedurfte also eines von einem
anders gearteten Geiste beseelten Volkes, um diese Hemmungen zu
überwinden und dadurch die Medizin auf eine höhere Stufe der Voll-
endung zu heben. Dieses Volk aber waren die Griechen.
Die Medizin im klassischen Altertum.
Die vorhippokratische Zeit.
Wie die Zusammenhänge zwischen der griechischen und der
altorientalischen Kultur überhaupt noch wenig aufgeklärt sind, so
fehlt uns einstweilen auch noch jede genauere Kenntnis von den
Beziehungen, welche zwischen der Heilkunde der beiden Kultur-
bereiche bestanden haben. Die Tatsachen aber, welche man heute
als feststehende betrachten darf, beweisen immerhin zur Genüge,
daß die griechische Heilkunde nicht ohne Anlehnung an die-
jenige des alten Orients, namentlich Babyloniens und Aegyptens,
sich entwickelt hat. Das ist ja auch keineswegs verwunderlich;
denn zuverlässigen Nachrichten zufolge haben schon in früher Zeit
griechische Aerzte teils freiwillig, teils gezwungen die Länder des
Ostens besucht. Und weiterhin macht die Entstehung der ältesten
und bedeutendsten griechischen Aerzteschulen von Rhodos, Kos
und Knidos — gerade an den Hauptverkehrspunkten mit dem
Orient — einen Zusammenhang wahrscheinlich.
Trotz unbestreitbarer Einflüsse der altorientalischen Medizin und
vielfach ganz im Gegensatz zu ihr hat sich aber die griechische
Heilkunde in einer durchaus selbständigen Weise bis zu einer Höhe
der Auffassung und des Könnens entwickelt, wie sie erst in der
neuesten Zeit wieder erreicht worden ist. Es ist schwer zu sagen,
worauf diese Tatsache beruht. Waren es völkische Eigenarten des
Griechenstammes, eine besondere geistige Veranlagung, überhaupt
irgendwelche inneren Gründe? Oder waren es mehr oder weniger
zufällige äußere Verhältnisse ? Sicher ist, daß die ganz andere Rolle,
welche die Religion in Griechenland spielte, bei der Ausgestaltung
ihrer Heilkunst mitbestimmend gewirkt hat. Denn niemals haben
in Griechenland religiöse Vorstellungen einen so starken Einfluß
auf das geistige Leben und Fühlen ausgeübt, wie bei den alt-
orientalischen Völkern ; und zu keiner Zeit hat das gesamte Handeln
des griechischen Menschen in einer solchen Abhängigkeit von einer
mächtigen Priesterkaste gestanden. Das macht sich zwar nicht so-
gleich in dem früheren Kulturstadium bemerkbar, wohl aber in
einem gewissen Punkte der Entwicklung: in dem entscheidenden
Die Medizin im klassischen Altertum.
41
Augenblick, in welchem das Nachdenken über das Warum und
Wie der Dinge an sich die Gefahr einer Beeinflussung durch die
Religion nahegerückt hatte.
Die älteste Form, in der uns die Heilkunde bei den Griechen
entgegentritt, ist wieder eine einfache, dabei aber gesunde Empirie,
wie sie eben bei einem jeden, in inniger Gemeinschaft mit der
Natur lebenden Volke sich findet. Die Medizin der Ilias, der ältesten
griechischen Quelle (sie führt uns in die Zeit um oder vor 1 000 v. Chr.)
Abb. 21. Altgriechisches Vasenbild: ein Kri^er I^t dem anderen einen kunstgerechten
Oberarmverband an.
trägt ganz den Charakter der Volksmedizin. Was war selbstver-
ständlicher, als daß ein jeder, so gut er konnte, im Notfälle Heil-
hilfe leistete? Und solche Fälle treten bei dem wildbewegten Leben
der Homerischen Helden recht oft ein, Sie erheischen nicht nur
Darreichung stärkender Tränke, sondern vor allem auch chirurgische
Hilfe bei den vielfachen Verwundungen. Und Leute, die sich durch
besondere Uebung oder Erfahrung in dem Bereiten von Arznei-
mitteln her\ortaten, waren begreiflicherweise besonders gesucht und
42 Die Medizin im klassischen Altertum.
wurden mit dem Titel „TroXD'^äpp.axoi" ausgezeichnet, worunter frei-
lich immer wirkliche Aerzte zu verstehen sind.
Solche Berufsärzte erscheinen dann häufiger in der Odyssee,
dem jüngeren der beiden Heldengedichte, das im ganzen eine bereits
weiter fortgeschrittene Kultur und namentlich einen sozial höheren
Standpunkt widerspiegelt. Diese ,Jatroi", welche man zu den so-
genannten Demiurgen, d. h. den im öffentlichen Interesse tätigen
Leuten zählte, erfreuten sich eines hohen Ansehens. „Denn der
Arzt" — so singt Homer — „ist ein Mann, der viele andere auf-
wiegt." Sie übten ihren Beruf, wie die anderen Demiurgen, ge-
wöhnlich in der Weise aus, daß sie sich von den Kranken, die
ihrer bedurften, ins Haus rufen ließen, wofür ihnen dann ein Ehren-
sold — sehr oft wohl in Naturalien — zuteil wurde.
Die Medizin selbst in der Odyssee enthält noch die gleichen
Elemente, wie in der llias; nur beginnen bereits religiös - aber-
gläubische Gebräuche in sie einzudringen: neben den rein empi-
rischen Heilmaßnahmen wird in schlimmen Fällen der Zauberspruch
(sTTwSy]) angewandt.
Im einzelnen betrachtet sind die Schilderungen mancher Krank-
heitszuständc, namentlich aber der Verletzungen, von äußerster
Lebendigkeit und Naturtreue, ohne daß dabei die nach unserer
'Auffassung erforderlichen anatomisch - physiologischen Grundkennt-
nisse über das hinausgehen, was man gelegentlich einer Verwun-
dung sehen konnte.
Der Arzneischatz ist freilich noch recht wenig reichhaltig;
wenigstens ist die Zahl der mit Namen benannten Mittel sehr gering.
Im allgemeinen begnügt sich der Dichter damit, schlechthin von
den „Heiltränken" oder den „lindernden Mitteln" zu sprechen.
In der folgenden Zeit sind dann — soweit man dies nach der
verhältnismäßig spärlichen Literatur von HesiüD im 8. Jahrhundert
an beurteilen kann — mystische Ideen und Gebräuche in steigen-
dem Maße in die griechische Medizin eingedrungen. Die Ver-
sorgung des Volkes mit wirklichen Berufsärzten war, wie es scheint,
so wenig zureichend, daß der gewöhnliche Mann im Notfalle, wo
ärztliche Hilfe nicht zur Stelle war, zu Zaubersprüchen und Be-
schwörungen seine Zuflucht nahm. Diese Neigung wurde sicher-
lich nicht wenig unterstützt durch die Einrichtung besonderer Heilig-
tümer, in denen eine heil- und gesundheitbringende Gottheit verehrt
und von den Kranken um Rat befragt wurde. So entwickelten
sich in den verschiedenen Gegenden Griechenlands eine ganze
Menge von Kultstätten, die bald dieser, bald jener Gottheit ge-
Die Medizin im klassischen Altertum.
43
weiht waren: wie Trophonius zu Lebadea, Amphiaraos zu Oropas
u. a. m.
nur als
trieben.
Als
Gottheiten,
Nebenberuf
die
be-
aber die Hcilunsf von Kranken cfleichsam
wirklicher Heil-
gott wurde vom 7. Jahr-
hundert V. Chr. an wahr-
scheinlich Asklepios
verehrt und die ihm ge-
weihten Kultstätten ver-
breiteten sich dann im
Laufe der folgenden Jahr-
hunderte über ganz Grie-
chenland und nahmen der-
art an Ansehen zu, daß
sie als Wallfahrtsorte; für
Kranke alle anderen in
den Schatten stellten. In
diesen Kultstätten ging
daim ein Zweig der grie-
chischen Heilkunde seiner
weiteren Entwicklung ent-
gegen : die sogenannte
Tempelmedizin. An und
für sich bestand somit
auch für die griechische
Heilkunde die gleiche Ge-
fahr wie für diejenige
Aeg}'ptens und Babylo-
niens, daß nämlich durch
ein Ueberwuchern des
religiös - mystischen Ele-
ments ihre gesunden Ent-
wicklungskeime abgetötet
wurden. Dieser Gefahr ent-
gingen die Griechen da-
durch, daß neben dem in
den Asklepiostempeln auf-
blühenden Heilbetrieb die
alte empirische Medizin
ihren ruhigen Gang weiter
ging, daß neben den Heilkunde treibenden Priestern ein wirklicher
Aerztestand sich ausbildete, der trotz der mannigfachen Fäden,
Abb.
32. Antike Asklepios-Statue aus Epidauros.
Nach HoliAnder. Plastik und Medizin.
44
Die Medizin im klassischen Altertum
welche zwischen beiden Berufsgruppen herüber und hinüber liefen,
seine ganz selbständigen Wege einschlug, welche weit ab von denen
des Asklepioskultes führten.
Dieser Kult selbst wuchs sich an manchen der ihm geweihten
Stätten zu einem wahren Heilschwindel aus, nicht nur nach unseren
heutigen Begriffen, sondern — wie wir aus den Mitteilungen mancher
alten Schriftsteller und den Anzüglichkeiten vieler Dichter sehen —
auch in den Augen der Griechen selbst. Ein Ort wie das alte Epi-
dauros auf der Halbinsel
Argolis, das im 4. Jahr-
■ hundert v, Chr. das
- Musterbeispiel eines der-
artigen Asklepiosheilig-
tums (man nannte diese
Stätten „Asklepieien")
war, ist durchaus mit
manchem unserer mo-
dernen Wallfahrtsorte zu
vergleichen, wie etwa
Lourdes oder Kevelaar.
Schon die ganze An-
lage von Epidauros ver-
rät seinen Charakter als
Ktiltstätte. Die vorhan-
denen natürlichen HeiU
mittel sind geringfügig
und würden schwerlich Veranlassung zur Gründung des Heilig-
tums gerade an dieser Stelle gegeben haben. Gutes Trinkwasser
mußte ziemlich weither geführt werden, und die geringe Erhebung
des Talgrundes über Meereshöhe wurde im Altertum ebensowenig^
wie heute als gesundheitlich günstig angesehen. Der Grund für die
Entstehung des Asklepieions war vielmehr ein religiöser: der Heil-
gott sollte an diesem Orte geboren sein.
Den Mittelpunkt der ganzen Anlage bildete ein großer Asklepios-
tempel, einer der schönsten und kostbarsten des Altertums über-
haupt. Um ihn gruppierten sich dann eine Reihe anderer Gebäude,
welche zum Teil ebenfalls kultischen Zwecken, zum anderen Teil zur
Unterbringung und Unterhaltung der Besucher dienten. Dazu
gehörten ein schönes Theater, ein Stadion, ein Hippodrom u. a. m.
Nach dort zogen nun tagtäglich aus der ganzen Umgebung, teilweise
sogar aus den entferntesten Teilen Griechenlands Kranke und Ge-
brechliche zu Fuß, zu Wagen und auf Reittieren.
Einen besonderen Umfang aber nahm der Zustrom der Heilung-
Abb. 23.
Ansicht von Epidauros, im Vordergrunde das
berühmte Theater.
Die Medizin im klassischen Altertum.
45
suchenden an den dem Gotte geweihten Festtagen an. Während die
Kranken durch religiöse Zeremonien — zu denen Waschungen,
Bäder, Gebete, Opfer, Fasten u. ä. gehörten — vorbereitet wurden,
suchten die Priester durch allerlei Mittel einen geeigneten Boden für
die eigentliche göttliche Betätigung des Asklepios vorzubereiten.
Hierzu rechnete vor allem die Betrachtung und das \"orlesen der
sogenannten Trtvaxs?, wie sie die Ausgrabungen in Epidauros zutage
gefördert haben. Dies waren Marmortafeln, auf denen eine große
Zahl von wunderbaren Heilungen des Asklepios aufgezeichnet waren.
Solche Berichte (täftata) lauteten beispielsweise:
„Ambrosia aus Athen, auf einem Auge blind. Sie kam
hilfesuchend zum Gotte, aber beim Umhergehen im Heiligtum
spottete sie über manche Heilberichte. Es sei unglaublich und
unmöglich, daß Lahme und Blinde durch bloßes Träumen gesund
werden könnten. Aber im Schlafe hatte sie einen Traum. Es
däuchte ihr, der Gott trete zu ihr und verspreche ihr, sie gesund
zu machen; nur müsse sie als Lohn ein Weihgeschenk in den
Tempel stiften, und zwar ein silbernes Schwein, zum Andenken
an ihre Dummheit. Xach solcher Rede habe er ihr das kranke
Auge aufgeschnitten und Balsam eingeträufelt. Als es Tag ge-
worden, ging sie gesund von dannen."
„Mann mit Geschwür im Unterleib. Er sah im Schlafe
ein Gesicht. Es däuchte ihm, der Gott gebe seinen ihm folgen-
den Dienern den Befehl, ihn zu fesseln und festzuhalten, damit
er den Leib aufschneiden könne. Er selbst habe fliehen wollen,
jene aber hätten ihn ergriffen und an dem Türring festgebunden.
Darauf habe Asklepios den Leib aufgeschnitten, das Geschwür
herausgeschnitten, ihn wieder zugenäht, und er sei der Fesseln
entledigt worden. Und danach kam er gesund heraus. Der
Fußboden des Allerheiligsten aber war voller Blut."
Wenn nun auf diese Weise die Kranken in die erforderliche
mystisch-religiöse Stimmung versetzt waren, so folgte der wichtigste
Akt: der sogenannte Tempelschlaf (incubatio, i^xot^j-T^ot?). Man ver-
brachte die Kranken in das Abaton, einen dem Tempel angegliederten,
wahrscheinlich in eine größere Zahl von Einzelgemächern geteilten
Raum, und ließ sie dort über Nacht. Unter dem Einfluß des vorher
Erlebten und in ihrer ganzen Phantasie völlig auf die wunderbare
Heilung eingestellt, die ihrer wartete, träumten begreiflicherweise
die Hilfesuchenden sehr oft etwas auf ihr Leiden Bezügliches, Unter-
stützt wurde diese Suggestion häufig noch durch die Priester, welche
nachts in der Maske des Gottes selbst, begleitet von Priesterinnen
und Dienern, den Kranken im Abaton erschienen. Vielfach sind
46
Die Medizin im klassischen Altertum.
die Kranken sogar gleich von dem Pseudo-Gotte behandelt worden.
Einstreichen von Augenmitteln, ja sogar blutige Operationen scheinen
vorgenommen worden zu sein. Wenigstens deuten manche von den
Heilberichten darauf hin. Natürlich würde dieses entweder eine ge-
wisse Sachkenntnis der Priester oder aber deren Unterstützung durch
wirkliche Aerzte voraussetzen. Beide Möglichkeiten bleiben offen.
Wenn nun aber die ^^^^^^^^^ '^uf hysterisch-neurasthe-
Heilung des Kranken ^^^^^^!^H nischer Grundlage einge-
nicht gleich während des ^^^^r WM treten sein — so pflegten
Tempelschlafes erfolgte — ^^^ '^B die Priester sich anderen
dieser Erfolg wird be- ^^^i|" v Tages Bericht erstatten
sonders oft bei Leiden B^^k m zu lassen über das, was
Abb. 24.
Abb. 25.
Abb. 26.
Abb. 24. Votive aus Alt-Kreta, Frau mit Kind im Mutterleib und "Wickelkind (Samm-
lung Prof. Meyer-Steineg).
Abb. 25. Altkretisches Votiv, halbseitige Lähmung darstellend.
Abb. 26. Altkretisches Votiv, Frauenkörper mit sichtbarer Gebärmutter.
der Kranke etwa geträumt habe. Der mitgeteilte Traum wurde dann
gedeutet, d. h. in Wirklichkeit mit dem bereits vorher festgelegten
Heilplan in Uebereinstimmung gebracht, und darauf eine Behand-
lung aufgebaut, welche angeblich im Auftrage des Gottes befohlen
und mit irgendwelchem religiösen Mäntelchen umkleidet wurde.
Den Kern solcher Verordnungen bildeten gewöhnlich Diätvor-
schriften, Bäder, Luftveränderung, Bewegung, psychische Mittel ver-
schiedenster Art, wie namentlich geistige Ablenkung. Arznei-
liche Behandlung war eine Ausnahme. Hatte dann die „Kur" Erfolg
gehabt, die wundertätige Kraft des Asklepios sich also wieder be-
tätigt, so war es fromme Pflicht für den Kranken, sich dem Gotte
Die Medizin im klassischen Altertum.
47
erkenntlich zu zeigen. Und das geschah mit Rücksicht darauf, daß,
wenn auch nicht Asklepios selbst, so doch seine Priester einen
irdischen Machen und die sonstigen Bedürfnisse der Sterblichen
Abb. 27.
Abb. 2J
Abb. 29.
Abb. 30.
Abb. 27. Altgriechisches Aiigenvotiv (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
Abb. 28. Altgriechisches Votiv, Wickelkind darstellend (Sammlung Prof. Meyer Steineg).
Abb. 29. Altgriechische Terrakott- Weihgabe einer unterleibskranken Frau Archestrate
(Sammluug Piof. Meyer-Steineg).
b. 30. Altgriechisches Votiv : Gebärmutter und Blase (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
hatten, durch Darbringung einer Dankesgabe, welche, zumeist den
ehemals kranken Körperteil des Geheilten darstellend, je nach dessen
Vermögen in (xold, Silber, Elfenbein usw. verfertigt wurde.
48 Die Medizin im klassischen Altertum.
Mag nun auch in den zahlreichen Kultstätten des Asklepios
nicht überall in der gleichen Weise verfahren worden sein, mag in
der einen mehr unbewußter frommer Betrug, in den anderen beab-
sichtigter .Schwindel die Grundlage des Heilbetriebes gewesen sein
— man denke auch hier wieder zum Vergleiche an moderne Wall-
fahrtsorte — sicherlich war überall das hauptsächlichste Mittel zum
Zweck eine planvolle suggestive Beeinflussung des Kranken, hinter
der alles andere weit zurücktrat.
Trotz alledem entwickelten sich einzelne derartige Asklepieien
zu wirklichen Heilstätten im ärztlichen Sinne, eine Tatsache, die mehr
als alles andere die unbeirrbare Selbständigkeit des ärztlichen Ge-
dankens bei den Griechen dartut. Freilich waren dann diese Stätten,
w^elche allen mystisch-religiösen Aufputz verschmähten, den Priestern
von Epidauros ein Dorn im Auge. Der Asklepioskult hatte an
solchen Orten eine ganz andere Bedeutung. Er entsprang lediglich
den religiösen Bedürfnissen der Aerzte selbst. Die ruhige Frömmig-
keit, deren sich auch der gebildete Grieche keineswegs schämte,
ferner die Erkenntnis der Grenzen, welcher seiner Kunst gesteckt
waren, ließen den Arzt dort, wo er nicht mehr weiter konnte, willig
den Gott eintreten, den er als seinen Schutzpatron verehrte. Und
ebenso wie wir genau wissen, daß an vielen, dem Asklepios ge-
weihten Orten rein ärztlich behandelt worden ist, ebenso können wir
uns sehr wohl den HiPPOKRATES vorstellen, wie er dem Gotte für
eine gelungene Heilung ein Dankopfer darbringt.
Die Heimat des HiPPOKRATES selbst war es denn auch, welche
eine der berühmtesten derartigen Stätten aufzuweisen hatte: die
Insel Kos an der Südwestspitze Kleinasiens, wo sich, wie oben
schon erwähnt wurde, dicht beieinander mehrere Pflegestätten der
Medizin entwickelten. Man kann geradezu von einem Brennpunkte
der medizinischen Kultur sprechen, denn von hier gingen seit dem
6. Jahrhundert v. Chr. wie leuchtende Strahlen eine große Menge
tüchtiger und hochangesehener Aerzte aus, um weithin ihre Kunst
zu verbreiten.
Wenn nun auch die Heilkunde sich vollkommen selbständig
entwickelte, so bestanden doch zwischen ihr und der altgriechischen
Philosophie mannigfache Beziehungen, welche zum Teil einen be-
fruchtenden Einfluß ausgeübt haben. Die naturforschenden Philo-
sophen haben von ältester Zeit her als eines der wichtigsten
Probleme die Erklärung der Lebens Vorgänge behandelt. Als einer
der ersten befaßte sich Pythagoras mit der Entstehung der Lebe-
wesen, die er als vom Samen bedingt erkannte. Alkmaion von
Die Medizin im klassischen Altertum. 4g
Kroton war der erste, der Sektionen von Tieren und mannigfache
anatomisch-ph3'siologische Untersuchungen vornahm. Er erkannte
im Gehirn das Zentralorgan aller Geistestätigkeit. Ihm folgte Axaxa-
GORAS, der namentlich die ersten Versuche der Gehirnzergliederung
machte und die meisten akuten Krankheiten dadurch zu erklären
glaubte, daß Galle in die Blutbahn oder in einzelne Organe dringe.
Demokritos beschäftigte sich eingehendst mit den verschiedensten
naturwissenschaftlich-medizinischen Fragen. Seine Atomlehre, seine
Beobachtungen über den Puls, seine Theorie der Entzündung, welche
diese Krankheitserscheinungen auf Ansammlung schleimiger Sub-
stanz zurückführte, seine Erklärung der Hundswut als einer Ent-
zündung der Nerven lassen die Vielseitigkeit dieses Mannes er-
kennen.
Die Aerzte und die Krankenpflege.
Es ist ohne weiteres zu begreifen, daß die Anschauungen dieser
Männer, die zum Teil selbst Aerzte waren, einen nicht geringen
Einfluß auf die Lehren der griechischen Aerzteschulen gehabt haben.
Es waren aber in erster Linie die in enger Nachbarschaft liegenden
Städte Kos und Knidos, die Orte, welche den Werdegang der
griechischen Medizin auf das nachhaltigste beeinflußt haben. In
diesen beiden Städten hatten sich etwa um 600 v. Chr. eine ganze
Reihe von „Asklepiaden" niedergelassen. Diese Leute, die ihren Ur-
sprung auf den Gott Asklepios selbst zurückführten, waren ursprüng-
lich eine Familie blutsverwandter ^Männer, bei denen der ärztliche
Beruf auf dem sicheren Grunde einer ererbten Anlage vom Vater
auf den Sohn, vom Oheim auf den Xeffen überging. Die patriarcha-
lischen Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern
machten jede Festlegung besonderer ärztlicher Vorschriften entbehr-
lich. Die Familienüberlieferung ersetzte sie vollkommen. Als dann
aber dem steigenden Bedürfnis nach ärztlicher Hilfeleistung die As-
klepiadenfamilie nicht mehr nachzukommen vermochte, als sie sich
vielmehr gezwungen sah, auch Jünglinge fremden Blutes aufzunehmen
und sich so zu einer Aerztezunft erweiterte, da blieb auch diese den
alten Ueberlieferungen treu: sie hielt die Vorstellung von der Ver-
wandtschaft ihrer Mitglieder aufrecht. Aber was früher selbstver-
ständlich war in einer durch Bande des Blutes zusammengehaltenen
Gemeinschaft, das wurde nun von den fremden Eindringlingen aus-
drücklich verlangt und satzungsgemäß festgelegt. Die diesem Zwecke
dienende Satzung ist uns unter dem Titel des „Hippokratischen
Eides" erhalten und lautet:
„Ich schwöre bei ApoUon, dem Arzte, bei Asklepios, Hygieia
und Panakeia und bei allen Göttern und Göttinnen, indem ich
Meyer-Stcineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. 4
50 Die Medizin im klassischen Altertum.
sie zu Zeugen mache, daß ich diesen meinen Eid und diese
meine -Verpflichtung erfüllen werde nach Vermögen und
Verständnis, nämlich denjenigen, welcher mich in dieser (ärzt-
lichen) Kunst unterwiesen hat, meinen Eltern gleich zu achten,
sein Lebensschicksal zu teilen, ihm auf Verlangen dasjenige,
dessen er bedarf, zu gewähren, das von ihm stammende Ge-
schlecht gleich meinen männlichen Geschwistern zu halten, sie
diese Kunst, wenn sie dieselbe erlernen wollen, ohne Entgelt
und ohne schriftliche Schuldverpflichtung zu lehren und die Vor-
schriften, Kollegien und den ganzen übrigen Lehrstoff meinen
Söhnen sowie denen meines Lehrers und den Schülern, welche
eingetragen und verpflichtet sind nach ärztlichem Gesetze, mit-
zuteilen, sonst aber niemandem.
Diätetische Maßnahmen werde ich treffen zu Nutz und Frommen
der Kranken nach meinem Vermögen und Verständnisse; drohen
ihnen aber Fährnis und Schaden, so werde ich sie davor zu be-
wahren suchen. Auch werde ich keinem, und sei es auf Bitten,
ein tödliches Mittel verabreichen, noch einen solchen Rat er-
teilen, desgleichen werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel
geben. Lauter und fromm will ich mein Leben gestalten und
meine Kunst ausüben. Auch will ich bei Gott keinen Blasen-
steinschnitt machen, sondern ich werde diese Verrichtung den-
jenigen überlassen, in deren Beruf sie fällt. In alle Häuser aber,
in welche ich auch gehen mag, will ich kommen zu Nutz und
Frommen der Patienten, mich fernhaltend von jederlei vorsätz-
lichem und schadenbringendem Unrechte, insbesondere aber von
geschlechtlichem Verkehre mit Männern und Weibern, Freien
und Sklaven. Was ich aber während der Behandlung sehe oder
höre oder auch außerhalb der Behandlung im gewöhnlichen
Leben erfahre, das will ich, soweit es außerhalb nicht weiter-
erzählt werden soll, verschweigen, indem ich Derartiges für ein
Geheimnis ansehe."
So streng sich hiermit die altgriechische Aerztezunft in dem Be-
streben, alle ungeeigneten und unlauteren Elemente von sich fern-
zuhalten, nach außen hin abschloß, so fielen unter denen, die einmal
in die heiligen Hallen der Kunst aufgenommen worden waren, alle
Schranken. Nur die aus eigenem Willen geborenen Gesetze regelten
die Beziehungen zwischen ihnen.
Eine derart organisierte Gemeinschaft konnte auch dem Staate
die Sorge um ihrer Mitglieder Verhalten nach außen hin abnehmen.
Und in .der Tat bildeten die Verpflichtungen, welche dem Jünger
der Heilkunst bei seinem Eintritt auferlegt wurden, einen vollen Er-
Die Medizin im klassischen Altertum. 51
satz für staatliche Rechtssätze. Neben den allgemeinen moralisch-
ethischen Gesetzen, welche die Lebensführung des Arztes, sein Ver-
halten gegen seine Kranken, die berufliche Schweigepflicht zum
Gegenstand haben, stehen besondere, dem ärztlichen Berufe ent-
springende Gebote und Verbote. Die Verpflichtung zur Bevorzugung
von Diätverordnungen bedeutet, daß der Arzt zunächst die einfachen
Mittel versuchen soll. Das Verbot, niemandem zum Selbstmord oder
zur Fruchtabtreibung behilflich zu sein, entsprang der Notwendigkeit,
diesen beiden im Altertum nicht seltenen Verbrechen einen Riegel
vorzuschieben. Und schließlich die Ablehnung der „Blasenstein-
operation" heißt nichts anderes, als daß der Arzt Funktionen, welche
nach den damaligen Anschauungen zu der Betätigung niederer Heil-
gehilfen gehörten, nicht selbst übernehmen soll.
Die Ausbildung der Aerzte geschah in der Weise, daß sich der
junge Adept einem anerkannten Arzte anschloß und von diesem
vollkommen in seinen Beruf eingeführt wurde. Nach vollendeter
Ausbildung scheinen dann mehr oder weniger weite Reisen zur Er-
weiterung der Kenntnisse und des Gesichtsfeldes vorgenommen
worden zu sein. Der ganze ärztliche Unterricht war aber lediglich
eine private Angelegenheit.
Dasselbe gilt in älterer Zeit im allgemeinen auch für die Aus-
übung der ärztlichen Praxis. Nur bei besonderen Anlässen, wie
Feldzügen, Belagerungen und Epidemien pflegten die Gemeinden,
in denen kein Arzt vorhanden war, sich an eine der Aerzteschulen
zu wenden mit der Bitte um Uebervveisung eines ihrer Mitglieder.
In einzelnen griechischen Kolonien freilich ist offenbar schon um
600 V. Chr. die Schaffung von Gemeindearztstellen (5rj[töaiot larpot)
üblich gewesen. Erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts war diese
Einrichtung ziemlich überall auf griechischem Boden eingebürgert.
Die Gemeinden erhoben eine besondere Aerztesteuer (larpixöv), aus
deren Erlös die Aerzte nicht nur besoldet, sondern auch oft mit der
notwendigen beruflichen Einrichtung versehen wurden. Im übrigen
stand es den Aerzten frei, für ihre Tätigkeit ein Entgelt anzunehmen,
aber sie hatten keinen rechtlichen Anspruch darauf. In der Regel
wird dieser freiwillige Ehrensold in der Form von Naturalien ge-
leistet worden sein. Doch erhielten manche Aerzte, namentlich für
die Behandlung hochstehender Leute, namhafte Honorare. Neben
den eigentlichen Aerzten bestanden besondere Hilfskräfte, welche
die mehr mechanischen Tätigkeiten des Sammeins und Her-
richtens von Arzneistoffen, der Unterstützung bei der Ausübung
des Berufes, Verabreichung von Bädern, Umschlägen, Einrei-
bungen, Schröpfen und andere Maßnahmen der niederen Chirurgie
versahen.
4*
52
Die Medizin im klassischen Altertum.
Die Tätigkeit der Aerzte spielte sich zu einem Teil in den Woh-
nungen ihrer Kranken selbst ab, zum anderen Teil in ihrer eigenen
Behausung. Bei Schwerkranken scheint das erstere die Regel ge-
wesen zu sein. Und daraus erklärt sich auch das vollkommene
Fehlen öffentlicher Krankenanstalten in älterer Zeit. Auch die Bereit-
Abb. 31. Das sogenannte „Haus des Chirurgen" in Pompeji (nach J. Overbeck). Raum r
Vorraum, 2 ärztlicher Behandlungsraum, 6 Krankenräume, 5 Tnnenhof, 9 Operationsraum;
die übrigen zum Teil Wirtschafts- und Nebenräume.
Stellung von Unterkunfts- und Behandlungsräumen für ihre Patienten
war lediglich eigene Angelegenheit des Arztes. Dieser sah sich also
gezwungen, seine Behausung so einzurichten, daß er in ihr nicht nur
ambulant behandeln, sondern im Notfalle auch Kranke aufnehmen
konnte.
In der Tat war im 4. Jahrhundert v. Chr. die Einrichtung von
Die Medizin im klassischen Altertum.
53
Krankenräumen im Hause des Arztes allgemein üblich, so daß sehr
viele von ihnen ihre eigene Privatklinik besaßen. Man nannte diese
Einrichtungen schlechthin „Jatreien" (latpsia), obwohl darunter ur-
sprünglich nur das ärztliche Arbeitszimmer verstanden wurde. Dieses
letztere bildete natürlich den wichtigsten Teil des Ganzen. Ein !Muster-
beispiel für ein derartiges, zur Aufnahme von Kranken mitein-
nafssiab
>c a -le '■c io v) >o 10 V ;(»«
Abb. 32. Plan des Asklepieions von Kos (nach Herzog). Der Grundriß vereinfacht und
etwas schematisiert, indem die meisten, nicht mit dem Heilbetrieb in Verbindung stehen-
den Anlagen fortgelassen sind, und die Einteilung der um die Hallen liegenden Räume
nur annähernd dem Ausgrabungsbefunde entspricht. Der Plan gibt den ungefähren Zu-
stand der Anlage etwa im 3. Jahrhundert v. Chr. wieder.
gerichtetes Arzthaus bildet das sogenannte „Haus des Chirurgen" zu
Pompeji, das zwar einer viel späteren Epoche entstammt, in seiner
ganzen Anlage aber vollkommen dem altgriechischen Vorbilde ent-
spricht
Neben diesen privaten Kliniken bestanden nun, wie bereits oben
erwähnt wurde, vereinzelte Asklepieien als öffentliche Anstalten, in
welchen Kranke aufgenommen und von wirklichen Aerzten behandelt
54
Die Medizin im klassischen Altertum.
wurden. Doch kann man sie keineswegs als staatliche Kranken-
anstalten bezeichnen; denn ihr eigentlicher Zweck war der, jungen
Aerzten die Möglichkeit zur Ausbildung zu gewähren. Sie waren
also ärztliche Lehranstalten. Das Musterbeispiel einer solchen Anlage
ist das bereits erwähnte Asklepieion zu Kos.
Abb. 33. Lageplan des Asklepieions von Kos (nach einem Gipsmodell des Verf.).
Dieses läßt ganz im Gegensatz zu Epidauros in seiner Anlage
klar erkennen, daß bei ihr ärztliche Gesichtspunkte die Hauptrolle
gespielt haben. Es lag eine Stunde von der gleichnamigen Hafen-
stadt in 100 m Höhe an dem die ganze Insel durchziehenden, un-
gefähr 1000 m hohen Gebirgszug, der neben der fieberfreien Lage
einen trefflichen Schutz gegen die bereits im Altertum als gesund-
heitsschädlich gefürchteten Südwinde bot. Vortreffliches Quellwasser
aus einer höher gelegenen Quelle nahm seinen natürlichen Lauf
.Die Medizin im klassischen Altertum.
03
gerade dort, wo das Asklepieion angelegt wurde. Sie wurde schon
in alter Zeit durch ein weitverzweigtes Wassernetz erweitert, welches
die ganze Anlage versorgte. Die Gebäude — das Bild gibt den Zu-
stand etwa im 3. Jahrhundert v. Chr. wieder — waren vor allem zur
Aufnahme von Kranken eingerichtet. Man kann geradezu sagen,
daß (nach Herzog) „eine Klinik der Asklepiaden der Kern ist, um
den sich die Heilanstalt des Asklepieions gebildet hat" und muß als
bestimmt annehmen, daß diese den Aerzten als Unterrichtsanstalt
gedient hat. Auf beides weisen eine Reihe von Funden hin. So
Abb. 34. Abb. 35.
Abb. 34. Altgriechisches Votiv, bauchwassersüchtige Frau darstellend (Sammlung Prof.
Me ver-Steineg) .
Abb. 35. Altgriechisches Votiv, Frau mit Brusttumor (Abguß aus der Sammlung Prof.
Meyer-Steineg).
waren also hier alle Vorbedingungen für eine Aerzteniederlassung
erfüllt, welche aus sich heraus den größten Arzt des Altertums her-
vorbringen sollte, HiPPOKRATES.
Wenn man dessen Bedeutung vollkommen verstehen will, so
muß man vor allem auch die übrigen Aerzteschulen, besonders die
von Knidos, in Betracht ziehen, welche, in unmittelbarer Nachbar-
schaft von Kos gegründet, schon im 6. Jahrhundert v. Chr. mit ihm in
lebhaften Wettbewerb traten. Denn nur aus dem Gegensatz der beiden
hervorragendsten Schulen kann man Hippokrates ganz erfassen.
56
Die Medizin im klassischen Altertum.
Abb. 36. Votivrelief aus dem Asklepieion zu Athen. Mann mit krampfaderkrankem
Bein (nach Holländer, Plastik und Medizin).
Die Medizin im klassischen Altertum.
57
Die altgriechischen Aerzteschulen.
Mögen beide Gründungen auch in ihrer äußeren Anlage und
ihrem Betriebe sich sehr ähnlich gewesen sein, so kann man sich,
was ihre Lehren anbetrifft, kaum größere Gegensätze denken. Und
diese Gegensätze, die hier zum ersten Male deutlich in die Erschei-
nung treten, um dann dauernd durch den ganzen Entwicklungsgang
der Medizin bald schroff und unvermittelt gegeneinander, bald mehr
friedlich nebeneinander zu stehen, verkörpern sich in der unterschied-
lichen Betrachtung der Heilkunde als Kunst oder als Wissenschaft.
Die Aerzte von Knidos haben zweifellos die letztere Auffassung
vertreten. Sie gingen bewußt darauf aus, eine medizinische Wissen-
schaft zu begründen. Sie
glaubten dieses Ziel erreichen
zu können, indem sie vor allem
bestrebt waren, eine möglichst
fein ausgearbeitete theore-
tische Krankheitslehre zu
schaffen, um auf ihr dann eine
ebensolche Therapie aufzu-
bauen, welche sich auf ein
für alle Male festgelegte
Grundsätze stützte. ^Mangels
ausreichender Kenntnisse über
den Bau und die Funktionen
des Körpers sahen die Knidier
sich gezwungen, ihre Zuflucht
zu allerlei Spekulationen zu
nehmen, in denen die An-
schauung, daß die Krank-
heiten zum größten Teile auf
der Ansammlung schädlicher
Stoffe in bestimmten Körper-
teilen beruhten, und daß je
nach der Art der „materia
peccans" an demselben Kör-
perteile die verschiedenartig-
sten Leiden auftreten könnten,
<lie erste Rolle spielte. Dieses
Theorem führte zu einer star-
ken Betonung des örtlichen ^^b. 36 a. Instrumentenkastcn-Deckd aus Elfen-
( harakters der Krankheiten, bein mit Hippokrates-Bildnis (Echtheit ange-
auf der anderen Seite aber zu zweifelt). (Sammlung Prof. Meyer -Steineg.)
58 Die Medizin im klassischen Altertum.
einer weitgehenden Schematisierung der gesamten Krankheitslehre.
Der Versuch,, möghchst viele Krankheitstypen voneinander abzu-
grenzen, brachte zwar eine Verfeinerung der Diagnostik mit sich, zu-
gleich aber auch eine vollkommene Vernachlässigung des kranken
Individuums zugunsten des Krankheitsbegriffs.
Nichtsdestoweniger haben einzelne Alitglieder der Knidischen
Schule Bedeutendes geleistet, namentlich die beiden großen Zeit-
genossen des HiPPOKRATES: EURYPHON und Ktesias (5. Jahr-
hundert V. Chr.).
Wollten die Knidier durchaus — ihrer Zeit weit vorauseilend —
eine medizinische Wissenschaft begründen, so tritt in dem Bestreben
der Koischen Schule eine auf nüchterner Schätzung der vorhandenen
Möglichkeiten begründete bewußte Selbstbeschränkung hervor. Sie
urteilten ganz richtig, daß die wahre Aufgabe des Arztes weniger
darin bestehe, den Erkenntnistrieb möglichst befriedigende Ein-
sichten zu erlangen, als vielmehr gewisse allgemeine Grundsätze für
die Krankenbehandlung. Deshalb verschmähten sie es, aus der Heil-
kunde eine für jeden erlernbare Wissenschaft zu machen, sie forderten
vielmehr, daß jeder, der Arzt werden wollte, gewisse besondere Eig-
nungen für diesen Beruf mitbringen müsse, die sich nicht durch
fleißiges Lernen ersetzen ließen. Kurz, sie betrachteten die Medizin
als eine Kunst, die nur der geborene Arzt wahrhaft ausüben könne.
Diese Auffassung geht als leitender Gesichtspunkt durch die meisten
der Schriften hindurch, die wir als echtes Gut der Schule von Kos
ansehen dürfen und die den gewichtigeren Teil der Sammlung bilden,
welche den Namen des größten der Koischen Aerzte trägt, des
HiPPOKRATES.
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
Wenn man den Namen des Hippokrates nennt und ihn mit
dem Zusätze des „Vaters der Heilkunde" schmückt, so entsteht bei
dem der Medizingeschichte Unkundigen leicht der Eindruck, als be-
deute dieser Mann den Anfang
aller Medizin, als sei vor ihm
ein Xichts gewesen. Die vor-
stehenden Ausführungen zeigen
aber, daß er lediglich das Glied
einer Kette bildet, deren Anfang
weit vor ihm liegt. Freilich ein
gewichtiges Glied, in gewisser
Hinsicht sogar ein Endglied.
Abb. 37. Abb. 38.
Abb. 37. Angeblicher Hippokrates. Antike Büste. Nach HoLL.\NDER, Plastik und Medizin.
At)b. 38. Bildnis des Hippokrates (Athen, Nationalmuseum). Nach Holländer, Phistik
und Medizin.
Was wir über das Leben des Hippokrates wissen, ist wenig.
Sein Vater, selbst Arzt und Abkömmling einer alten Asklepiaden-
6o Hippokrates und die hippokratische Medizin.
familie, hieß Herakleides und führte, der Sitte jener Zeit ent-
sprechend, den im Jahre 460 v. Chr. geborenen Sohn schon früh in
seine Kunst ein, natürlich im Sinne der Schule von Kos, aus der er
selbst hervorgegangen war. Dann begab sich Hippokrates auf
Reisen, die ihn in die verschiedensten Gegenden Griechenlands führten.
Dabei kam er mit mancherlei berühmten Leuten in Berührung, wie
mit dem Philosophen Demokritos, dem Rhetor GORGIAS und dem
Gymnasten Herodikos von Selymbria. Im Jahre 377 v. Chr. ist
er zu Larissa in Thessalien gestorben. Alles andere, was über sein
Leben erzählt wird — und die Legende hat schon wenige Jahrzehnte
nach seinem Tode einen mystischen Schleier um ihn gewoben — ist
unsicher, meist sogar nachweisbare Erfindung.
Auch über den persönlichen Anteil des Hippokrates an den
seinen Namen tragenden Schriften ist trotz eifriger Forschertätigkeit
noch wenig Zuverlässiges bekannt. Doch atmen viele von ihnen so
deutlich seinen Geist, daß man sie in diesem Sinne als eine Einheit
betrachten kann. Dazu gehören vor allem die Schriften: „Ueber die
alte Medizin", eine kurze Abhandlung über Aufgaben und Ziele der
Heilkunde; „Ueber Luft und Wasser und Bodenbeschaffenheit", eine
knappe Würdigung des Einflusses dieser Faktoren auf den allgemeinen
Gesundheitszustand; „Ueber die Prognostik", d. h. die Beziehungen
der einzelnen Krankheitssymptome zum voraussichtlichen Verlauf der
Krankheit, ferner 2 Bücher „Ueber epidemische Krankheiten", ein
zum Teil in Tagebuchform gehaltenes Werk über den Einfluß des
sogenannten „genius epidemicus" auf den Verlauf der einzelnen
Leiden ; sodann die Schrift „Ueber die Diät bei akuten Krankheiten",
und von den chirurgischen Werken diejenigen „Ueber die Knochen-
brüche", und „Ueber die Verrenkungen". Schließlich noch „Die
Aphorismen", kurze Sätze über alle möglichen Fragen der Medizin.
Wenn man die Auffassung des Hippokrates über die Medizin
mit kurzen Worten kennzeichnen will, so kann man diese etwa in
folgenden Sätzen zusammenfassen: die Medizin ist eine Kunst. Als
solche hat sie in ihren Leistungen ihre Grenzen, und eine Haupt-
aufgabe des Arztes besteht darin, sich dieser Grenzen stets bewußt
zu bleiben. Die Ausübung des ärztlichen Berufes verlangt eine Reihe
von moralisch-ethischen Eigenschaften, wie Uneigennützigkeit, Rück-
sichtsnahme, Schamhaftigkeit, Würde, Bereitwilligkeit, kurzum die
Fähigkeit, das eigene Ich den Interessen des Kranken stets unter-
zuordnen. Das Ärzten selbst beruht in erster Linie auf der Erfah-
rung. Erfahrung ist die Grundlage alles ärztlichen Wissens. Sie
lehrt den Arzt, im einzelnen Falle auf Grund dessen, was er schon
früher erlebt hat, den voraussichtlichen Verlauf des Krankheitsvor-
ganges zu beurteilen. Die Krankheit ist ein Kampf der dem Körper
Hippokrates und die hippokratische Medizin. 6i
innewohnenden natürlichen Heilkraft gegen die krankmachende
Schädigung. Der Zweck des Arztens ist also die Unterstützung des
Organismus in seinem Kampfe gegen die Krankheit, und das Ziel
besteht in ihrer Ueberwindung. Die Ausbildung der Aerzte hat dem-
nach eine ganz vorwiegend praktische zu sein, die Hauptsache ist
die Sammlung eigener Erfahrungen durch Selbstbeobachtung am
Krankenbette.
Unter diesen Grundgesichtspunkten bildet in der Hippokratischen
Medizin die Krankheitslehre nur die Unterlage, welche dem Arzte
gewisse allgemeine Handhaben für die Behandlung geben soll. Die
Hauptsache für den Arzt bleibt immer die Beobachtung des ein-
zelnen Falles, da jeder einzelne Organismus in einer nur ihm eigen-
tümlichen Weise reagiert. Der Hippokratiker ist sich vollkommen
klar darüber, daß eine wirkliche Einsicht in den Krank hei ts Vorgang
nicht zu erreichen ist. Trotzdem verzichtet er nicht etwa auf jedes
Nachdenken über die Frage, jedoch bleibt er sich, während er
gewisse Spekulationen der Xaturphilosophen sich zu eigen macht,
doch stets klar bewußt, daß dies eigentlich nicht zur engeren Auf-
gabe des Arztes gehöre.
Aus diesem Grunde interessierte auch den Hippokratischen Arzt
der gesunde Mensch in weit geringerem Maße als der Kranke, und
die normale Anatomie tritt sehr stark in den Hintergrund. Dazu
trug noch erheblich das religiöse Vorurteil bei, welches die Zer-
gliederung menschlicher Leichen verbot. Die Kenntnisse über den
Bau des Körpers waren deshalb noch gering. Zu einem Teil be-
ruhten sie auf Analogien mit Befunden beim Tier, zum anderen auf
gelegentlichen Beobachtungen bei Verletzungen, Verbrechern usw.
Am besten bekannt war das Knochensystem nebst Bändern und Ge-
lenken, weil man diese Dinge bei Skelettfunden ohne Verletzung
des religiösen Gefühls kennen lernen konnte; über die Eingeweide,
das Gehirn, Nervensystem, über die Adern und die Muskeln dagegen
wußten sie zwar eine Reihe von Einzelheiten, aber doch eben nur
so viel, als für die praktische Krankenbehandlung, namentlich für ihre
chirurgischen Eingriffe, erforderlich war. Bezeichnend ist dafür eine
Stelle im ersten Kapitel des Buches „Ueber die Einrichtung der Ge-
lenke": „Gesetzt, man entblößt den oberen Teil der Schulter von
Weichteilen, und zwar an der Stelle, wo sich der Muskel (Delta) hin
erstreckt, entblößt dann weiter die sich an der Achselhöhle und dem
Schlüsselbein entlang nach der Brust hinziehende Sehne (Pectoralis
maior), so würde sich zeigen, daß der Kopf des Oberarmknochens
usw. usw."
Auch von physiologischen Kenntnissen im heutigen Sinne ist
bei den Hippokratikern nicht die Rede. Trotzdem lehnten sie das
62 Hippokrates und die hippokratische Medizin.
Nachdenken und Untersuchungen über die normalen Funktionen
des Körpers keineswegs grundsätzlich ab. Neben allgemeinen Fragen
über die Ursachen des Lebens wurden auch Einzelprobleme von
ihnen aufgeworfen. Das zeigt beispielsweise der Vorschlag, die Tätig-
keit der Herzklappen an einem herausgenommenen Herzen kennen
zu lernen, ferner der Versuch, die Frage, ob normalerweise beim
Trinken auch ein Teil der Flüssigkeit in den Kehlkopf gelangen
könne, durch Eingießen gefärbter Flüssigkeit in das Maul eines
Schweines zu entscheiden. Im allgemeinen aber sind die physio-
logischen Betrachtungen ganz auf die Krankheitslehre abgestellt.
Diese ist ausgesprochen humoralpathologisch : die Säfte (humores)
bedingen durch ihr qualitatives und quantitatives Verhalten Gesundheit
und Krankheit. Die vier Kardinalsäfte sind das Blut, der Schleim,
die gelbe Galle und die schwarze Galle. Jedem dieser Säfte wohnen
bestimmte Eigenschaften inne: dem Blute das Feucht- Warme, dem
Schleime das Kalt-Feuchte, der gelben Galle das Warm-Trockene,
der schwarzen Galle das Kalt-Trockene. Eine richtige Mischung
dieser Säfte (eoxpaoia) bedingt Gesundheit. Fehlerhafte Mischung
(Soaxpaaia) ruft Krankheit hervor. Und zwar ziehen derartige
Mischungsänderungen, auch wenn sie zunächst nur örtlich auftreten,
doch stets allgemeine Krankheitserscheinungen nach sich.
Es entstand nun ganz von selbst für den Hippokratiker die vereitere
Frage: Welches sind die Ursachen, durch die derartige Verände-
rungen im Körper hervorgerufen werden? Und es ist bemerkens-
wert, daß sie bei der Beantwortung dieses schwierigen Problems
sich keineswegs in uferlose Spekulationen verlieren, sondern fast
durchweg streng auf dem Boden der beobachtbaren Tatsachen
bleiben. Die meisten Krankheitsursachen sehen sie in mancherlei
ohne weiteres sinnlich wahrnehmbaren äußeren Einflüssen: fehler-
hafte Ernährung, gewisse Schädigungen, welche der Beruf oder die
Lebensweise des Einzelnen mit sich bringt, dann das Klima, die ver-
schiedenen Temperaturen, namentlich ihr schroffer Wechsel, ferner
werden ungesundes Wasser, die Beschaffenheit des Bodens, besonders
bestimmte giftige Ausdünstungen (miasmata), der Einfluß der Jahres-
zeiten und noch vieles andere als ätiologisches Moment richtig ge-
würdigt. Dabei vergessen sie aber nie, daß alle diese Faktoren ver-
schieden auf die einzelnen Individuen wirken, indem dieser Mensch
seiner Anlage nach mehr zu der einen, jener mehr zu der anderen
Krankheit neige. Besonders betont wird die „hereditäre Disposition",
d. h. die Tatsache, daß manche Menschen die Hinneigung zu be-
stimmten Leiden kraft einer ererbten Anlage mit auf die Welt bringen.
Diese Anschaimngen der Hippokratiker erhalten ihre praktische
Ergänzutig durch ihre Lehre vom Krankheitsverlauf, wie sie sie auf
^ Hippokrates und die hippokratische Medizin. 63
Grund der Beobachtung der akut-fieberhaften Krankheiten ausbauten.
Bei diesen Leiden glaubten sie in besonders deutUcher Weise den
zwischen der krankmachenden Schädigung und dem Körper des
Patienten sich abspielenden „Kampf" beobachten und feststellen zu
können. Dieser Kampf geht nach ihrer Vorstellung in drei Stadien
vor sich. Im ersten Stadium wird durch irgendeine schädliche Ein-
wirkung eine Veränderung der Körpersäfte hervorgerufen, welche
sich in einer Art „Schärfe" (äzs(|>ia) derselben äußert. Die Absonde-
rungen zeigen eine dementsprechende Eigenschaft, wie z. B. das
Xasensekret oder der Urin. Durch diese Störung des Mischungs-
verhältnisses der Säfte wird dann im Organismus eine Reaktion
hervorgerufen, welche äußerlich in der Form einer Temperatursteige-
rung (Fieber) in die Erscheinung tritt. Ihr Wesen besteht darin, daß
die ..verdorbenen" Säfte durch die Erhitzung gleichsam gekocht d. h.
in eine andere Form umgewandelt werden. So kann sich durch eine
derartige Umwandlung aus Blut Eiter bilden. Dieses zweite Stadium
wird deshalb auch als das der „Kochung" (TCS'Lt?) bezeichnet. Die
weitere Tätigkeit des Organismus zeigt sich dann darin, daß er ver-
sucht, die umgewandelten Säfte zur Ausscheidung zu bringen. Des-
halb wird das dritte Stadium, das diesen Vorgang ausmacht, als das
Stadium der Krisis (xptai? = Ausscheidung) bezeichnet. Sie kann
örtlich auftreten (Urinausscheidung) oder allgemein (vor allem kri-
tischer Schweißausbruch!), sie kann in einer vollkommenen Entleerung
der schädlichen Materie bestehen, oder in einer Ablagenmg in un-
wichtigen Organen. Sie kann plötzlich, im Verlaufe weniger Stunden,
auftreten — dann handelt es sich um Krisis im engeren Sinne —
oder allmählich durch Auflösung der Krankheitsstoffe (Xoon;).
Diese Grundstadien der akuten Krankheiten sind nun nach hippo-
kratischer Anschauung gewöhnlich an bestimmte Tage gebunden,
die für die einzelnen Krankheitsformen in einem typischen, bei allen
Patienten wiederkehrenden Verhältnis zueinander stehen. Diese so-
genannten kritischen Tage sind die Termine, an denen die einzelnen
Stadien der Krankheit sich deutlich manifestieren. Die Siebenzahl
und die Vierzahl spielen dabei eine Hauptrolle.
Bei der Beobachtung des Ablaufes der Krankheiten drängte
sich nun den Hippokratikern begreiflicherweise die Frage auf, welche
Kraft bei dem sich im Körper abspielenden Kampfe wirksam sei.
Die Antwort auf diese Frage ist einer der besten Beweise für die
nüchterne Ueberlegung, welche sie selbst bei Dingen obwalten ließen,
die der unmittelbaren Beobachtung unzugänglich waren. Sie nahmen
nämlich an, daß dem Körper eine ihm angeborene Kraft innewohne,
welche unter normalen Verhältnissen alle Funktionen, also nament-
lich das richtige Mischungsverhältnis der Säfte regelte, bei einer krank-
64 Hippokrates und die hippokratische Medizin. ^
haften Störung des Gleichgewichts aber gleichsam den Kampf mit
dem schädigenden Agens aufnehme. Sie nannten diese Kraft Physis
{9001? = Natur), und glaubten, daß jedem einzelnen Menschen eine
besondere derartige Kraft eigentümlich sei.
Abb. 39. Hellenistisches Relief: Der Arzt Jason, eine „Palpation" der Lebergegend
vornehmend. Charakteristische Stellung des Patienten. (Rechts unten ein riesiger
Schröpfkopf.)
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
6.5
Die starke Betonung des kranken Individuums mit seinen nur
ihm allein zukommenden Erscheinungen gegenüber dem schemen-
haften Begriff der „Krankheit" ließ bei den Hippokratikern die
Diagnose hinter der Prognose zurücktreten. Da für sie der einzelne
Kranke ein Ding für sich war, dasselbe Leiden bei den einzelnen
sich ganz verschieden äußerte und ablief kraft der ihm ureigensten
Xatur, so mußte es ihnen weit wichtiger sein, festzustellen, wie in
jedem einzelnen Falle sich das krankhafte Individuum gegenüber
der krankmachenden Schädigung verhielt, als darüber nachzudenken,
welchem Typus von Krank-
heit der einzelne Fall unter-
zuordnen sei. Also steht dem
Hippokratiker eine indivi-
duelle Prognose vor einer
schematischen Diagnose.
Damit ist durchaus nicht
gesagt, daß die Diagnostik
vernachlässigt worden wäre.
Im Gegenteil werden alle
Krankheitssymptom.e auf das
sorgfältigste beobachtet, aber
eben nicht mit dem ausschließ-
lichen Zweck, dadurch ein
scharf umrissenes Krankheits-
bild zu gewinnen, sondern um
dem natürlichen Gang des
Krankheitsprozesses nach-
gehen zu können. Das Aufsammeln der einzelnen Krankheits-
zeichen geschieht in ganz systematischer Weise, welche — in einem
gegenüber den Aegyptern weiter entwickelten Maße — bereits deut-
lich eine Dreiteilung der Untersuchung erkennen läßt. Betrachtung
(Inspektion), Betastung (Palpation) und Behorchung (Auskultation).
Mit Hilfe des Auges unterrichtet sich der Hippokratiker über alle
sichtbaren Erscheinungen: den Gesichtsausdruck, die Haltung, die
Beschaffenheit der Haut, Haare, Nägel, das Aussehen der verschie-
denen Körperausscheidungen, wie Urin, Schweiß, Kot, Sputum, Nasen-
schleim usw. Der heute noch den Namen des HiPPOKRATES tragende
"^Nmptomenkomplex, die sogenannte „Facies Hippocratica", gibt ein
ciiischauliches Bild von der sorgfältigen Beobachtung.
„Spitze Nase, hohle Augen, eingefallene Schläfen, kalte und zu-
sammengezogene Ohren, abstehende Ohrläppchen, eine harte, straffe,
trockene Stirnhaut, eine gelbe, schwärzliche, Hvide oder bläuliche Fär-
bung des ganzen Gesichts" gelten als prognostisch bedenkliches Zeichen.
Meyer-Stcineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. 5
Abb. 40. AUgriechisches Votiv, Brustkrebs dar-
stellend (Sammlung Prof. ^Meyer-StejnEG^.
66
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
Die Betastung" wird in erster Linie zur Feststellung von Form-
iind Lageveränderungen gewisser Teile, namentlich der Unterleibs-
organe, angewandt. Besonders fein ausgebildet ist sie bei der Unter-
suchung der Knochenbrüche und Verrenkungen. Sodann dient sie
zur Prüfung des Pulses, von dem zwar noch nicht einzelne feinere
Unterschiede festgestellt werden, wohl aber die deutlicheren. Sehr
wichtig ist die Palpation auch für die Beobachtung der Körperwärme.
Zumeist wird zu diesem Zweck die Hand auf die Brust gelegt.
Auch eine einfache Form der
Behorchung gehört zu den hippo-
kratischen Untersuchungsmetho-
den. Mit ihrer Hilfe werden vor
allem die Atmungsorgane geprüft.
So wird beispielsweise das „Tra-
chealrasseln" als Geräusch über
der Luftröhre behorcht, die klein-
blasigen Rasselgeräusche werden
in bezeichnender Weise geschil-
dert : „Wenn man das Ohr an die
Seite (des Kranken) legt und
längere Zeit horcht, so siedet es
innen wie Essig." Das pleuritische
Reiben wird sehr charakteristisch
mit dem Knarren eines Leder-
riemens verglichen.
Neben diesen Untersuchungs-
arten wird dem Geruch und dem
Geschmack noch eine gewisse
Rolle eingeräumt, um bestimmte
Eigenschaften des Blutes, des
Urins, des Sputums u. ä. festzu-
stellen. Außerdem verwenden die
Hippokratiker auch einige beson-
dere Proben. Hierhin gehört die
Prüfung des Auswurfes Schwind-
süchtiger dadurch, daß man ihn auf glühende Kohlen schüttet: Der
besonders widrige Geruch galt dann als schlechtes prognostisches
Zeichen, weil man ihn als durch die im Sputum enthaltenen Gewebs-
fasern erzeugt ansah. Ebenso, wenn das Sputum von Phthisikern in
Meerwasser untersank, also eine auf dem spezifischen Gewicht be-
ruhende Probe. Auch das Umrühren des Urins mit einem Strohhalm
zur Untersuchung seiner Konsistenz ist eine solche Probe. Vor allem
aber die noch heute nach Hippokrates benannte „Succussio Hippo^
Abb. 41. Altgriechisches Votiv, Leisten-
drüsen-Vereitemng lind Oberschenkel-Ge-
schwür darstellend (Sammlung Prof. Meyer-
Steineg).
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
67
kratis", die ^Methode, welche durch Schüttelbewegungen und gleich-
zeitiges Behorchen des Thorax den Sitz eines vorhandenen Empvems
zu ergründen sucht. Schließlich zählt hierzu noch die absichtliche
Hervorrufung gewisser Symptome. „Wenn die Krankheitszeichen
nicht deutlich zutage treten, so hat die Xatur Zwangsmaßregeln er-
funden," Das heißt, in solchen Fällen erzeugten die Hippokratiker
bestimmte Reaktio-
nen, aus denen sich
Rückschlüsse auf das
bestehende Leiden
ziehen ließen : sie
verabreichten zur
Probe Brech oder-
Abführmittel, ließen
heftige Körperbe-
wegungen ausführen
u. ä. m.
In ihren Behand-
lungsgrundsätzen
schließen die Hippo-
kratiker sich an ihre
Krankheitslehre an.
Sie stellen gewisse
allgemeingültige Re-
geln auf, die für be-
stimmte, bei den ver-
schiedensten Krank-
heitsfällen stets in
gleicher Weise wie-
derkehrendeErschei-
nungen gewisser-
maßen einen Unter-
bau der Therapie zu
schaffen gestatten.
Im übrigen aber soll
der Arzt von Fall zu Fall je nach dessen Besonderheiten seine
einzelnen Behandlungsmaßnahmen auf Grund freier Intuition ein-
richten. Dieses Grundgesetz der hippokratischen Therapie wird ge-
kreuzt von einem anderen Prinzip, welches von der Erkenntnis seinen
Ausgang nimmt, daß nicht der Arzt die Krankheit heile, sondern
daß dies durch die dem Körper innewohnende, natürliche Heilkraft,
die Physis, geschehe. Hieraus wird als höchste Aufgabe des Arztes
die Unterstützung der Physis oder, wo diese ihm nicht den zweck-
5*
Abb. 41a. Altgriechisches Terrakotta- Votiv, einen Leisten-
bruch darstellend (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
68 Hippokrates und die hippokratische Medizin,
mäßigsten Weg einzuschlagen scheint, ihre Lenkung abgeleitet:
„Nützen oder doch nicht schaden, nichts zwecklos unternehmen, aber
doch nichts iibersehen", das sind zwei Leitsätze des ärztlichen Handelns.
Somit gliedern sich die ärztlichen Verordnungen von vornherein
in zwei Gruppen: allgemeine und besondere. Zu den ersten gehört
vor allem die ganze diätetische Therapie im weitesten Sinne. Denn
unter §iatTa verstanden die Alten nicht nur die Regelung der Nah-
rungsaufnahme, sondern des ganzen täglichen Lebens überhaupt. Es
zählen dazu also auch Vorschriften über die Kleidung, das Lager,
über Körperbewegungen, Bäder, Leibesübungen, Redeübungen und
manches mehr. Dabei galt den Hippokratikern aber stets eine weise
Mäßigung und Vermeidung jedes schroffen Uebergangs als wichtige
Forderung. „Jedes Zuviel ist dem natürlichen Heilungsbestreben
feindlich, das Allmähliche dagegen ist gefahrlos." Ferner werden
Brech-, Abführmittel u. ä., auch der Aderlaß und das Schröpfen, aus
dem allgemeinen Gesichtspunkt der Entleerung der Krankheits-
materie angewandt. Im Gegensatz dazu werden die „besonderen
Maßnahmen" von dem hippokratischen Arzte erst dann getroffen,
wenn es gilt, die einzelnen Krankheitserscheinungen zu bekämpfen.
Sie sind also im wesentlichen symptomatisch, wenn sie auch nach
Möglichkeit die Krankheitsursache — vorausgesetzt daß diese be-
kannt ist — berücksichtigen.
Gerade bei der ätiologischen Behandlung tritt nun ein weiterer
Grundsatz hervor, der später in den Satz „contraria contrariis" gefaßt
wurde; d. h. man bekämpfte gewisse Krankheitsschädigungen mit
entgegengesetzten Mitteln: Ueberfüllung mit Entleerung, die A'^er-
härtung mit erweichenden Maßnahmen usw.
Was die Mittel der Behandlung selbst betrifft, so ist der Arznei-
schatz — im Vergleich mit der orientalischen Medizin — verhältnis-
mäßig einfach. Neben den einheimischen Mitteln, wie Nieswurz,
Rettig, Wolfsmilch, Eselsgurke, Sellerie, Seidelbastbeeren, Essig, Ysop,
Thapsiawurzel, Meerzwiebel, Kanthariden, Lactuca, Mandragoras,
Baldrian, Wermut, Koriander, Myrrhe, Galbanum, Granatäpfeln,
Granatwurzel, Soda, Alaun, Schwefel, Kupferblüte, Eisenrost u. a. m.
finden sich auch einzelne aus Aegypten bezogene: wie Sesam, Carda-
momum usw. Die Anwendung dieser Mittel erfolgt bald äußerlich
in P^orm von Umschlägen, Einreibungen, Pflastern, Stuhl- und
Mutterzäpfchen u. a. m., bald innerlich als einfacher Aufguß oder
Abkochung, Auszug, Latwerge u. ä. Ihrer Wirkung nach scheiden
sich die Arzneimittel in Brechmittel, Abführmittel, zusammenziehende,
schweiß- und urintreibende, schmerzstillende, kräftigende Mittel usw.
Ein großes Gebiet für sich bildet bei den Hippokratikern die
Chirurgie, die man mit Recht vom heutigen Standpunkte aus als
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
69
ihre bedeutendste Leistung bezeichnet. Eine gewisse Geschicklich-
keit wurde als Mindestforderung aufgestellt: sie galt als nichterfüllt,
wenn der Arzt nicht merkt, daß Eiter in einer Wunde oder einem
Abszeß ist; wenn man Brüche und Verrenkungen nicht erkennt;
wenn man beim Sondieren am Kopf nicht merkt, ob der Knochen
einen Bruch hat; wenn man es nicht fertig bringt, einen Katheter
in die Blase einzuführen und das Vorhandensein eines Blasensteins
nicht erkennt usw.
Die allgemeinen Grundsätze über die Herrichtung des Operations-
zimmers, die Lagerung der Patienten, die Stellung des Arztes und
seiner Gehilfen, die Reinigung der Hände, namentlich der Nägel,
die Beleuchtung usw. lassen die tiefe Einsicht in die wichtigsten Er-
fordernisse der Chirurgie erkennen. Nicht minder gilt dies von den
6i*/ioX k ^^_*>
Abb. 42. Illustration aus dem Kommentar des Apollonios von Kilium /.u dci Ilippo*
kratischen Schrift „Ueber die Verrenkungen", die Einrichtung einer Wirbelverrenkung
darstellend.
70
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
Grundsätzen über die Wundbehandlung. Hier war oberstes Gesetz :
möglichst wenig mit den Wunden vorzunehmen. Frische, nicht
eiternde Wunden ließ man zunächst gehörig ausbluten. Sodann
wurden sie entweder vernäht oder möglichst trocken verbunden ; nur
im Notfall werden Umschläge verordnet, denn „trockene Substanzen
verhindern das Eitern der Wunden". Als wichtig sah man vor allem
die Ruhigstellung und richtige Lagerung des verletzten Teiles an.
Abb. 43. Aus dem gleichen Werke Darstellung einer Wiedereinrenkung einer Schuller-
verrenkung.
Die Blutstillung erzielte man durch Hochlagerung, Kälte, Kom-
pression, styptische Arzneimittel, manchmal auch durch das Glüh-
eisen. Die Unterbindung wurde noch nicht vorgenommen. Wunden,
bei denen eine glatte Heilung ausgeschlossen erschien — wie Quetsch-
und Rißwunden — wurden von vornherein wie Geschwüre behandelt;
man versuchte sie zur Eiterung zu bringen und unterstützte dann die
Reinigung durch Umschläge und Abspülungen mit verschiedenen
pflanzlichen und mineralischen Stoffen.
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72 Hippokrates und die hippokratische Medizin.
Geradezu hervorragend war die Behandlung der Knochenbrüche
und Verrenkungen. Ihre Diagnostik stützte sich auf eine recht gute
Kenntnis des Skeletts und auf vortreffliche Beobachtungen. Bei den
Knochenbrüchen wurden einfache und offene unterschieden, bei den
letzteren trennte man den Verlauf in drei Stadien, nach denen die
Behandlung sich zu richten hatte. Diese bestand hauptsächlich in
der Anlegung geschickter Verbände, deren Technik vortrefflich aus-
gebildet war. Neben allgemeinen, für jede Art von Verband gül-
tigen Grundsätzen bestanden noch für jede einzelne Form von
Knochenbrüchen, namentlich mit Rücksicht auf ihren Sitz, ins ein-
zelne gehende Vorschriften. Neben dem Verband fand die Schiene
Abb. 45. Altgriechisches Relief aus dem Asklepieion zu Athen: aufgeklapptes chirur-
gisches Besteck mit Messern (s. Abb. 46, Messer in der Mitte) und einem Doppelhaken.
Zu beiden Seiten ein Schröpfkopf.
in weitestem Umfange Verwendung, namentlich in der Form der
Hohlschiene. Die Reposition wurde entweder durch genauest vor-
geschriebene Handgriffe oder durch besondere mechanische Vorrich-
tungen bewerkstelligt. Auch die dauernde Extension war den Hippo-
kratikern bekannt. Für die Verrenkungen gilt — mutatis mutandis
— das gleiche. Ihre Symptomatologie ist teilweise geradezu meister-
haft und selbst heute nicht übertroffen. Ihre Behandlung entspricht
auch hohen Anforderungen.
Die operative Chirurgie umfaßte bereits eine ganze Reihe nicht
nur leichterer, sondern zum Teil selbst gewagter Eingriffe. Neben
Eröffnung von Abszessen, Entfernung von äußeren Geschwülsten,
Hippokrates und die hippokratische ^Medizin.
73
Poh'pen, Hämorrhoiden u. ä. gingen die Hippokratiker selbst an so
eingreifende Operationen heran wie Resektion einzelner Glieder,
Trepanation des Schädels, Nephrotomie bei Xierenabszeß, Bauch-
Abb. 46. Chinirgische Instrumente aus hippokratischer Zeit; von links nach rechts:
Hakenpinzette, Knochenzange, Doppelinstrument (oben bronzenes halbscharfes Myrten-
blatt-Messer, unten eingelassene Stahlklinge) ; Skalpell mit hohler Klinge, Löffel, Katheter
(Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
schnitt und manches andere. Die von ihnen selbst dabei gezogene
Grrenze war vor allem durch die Schwierigkeit der Blutstillung bedingt.
Von der Kauterisation wurde in vielen Fällen Gebrauch gemacht.
74
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
Nach der Vielheit und Mannigfaltigkeit der chirurgischen Maß-
nahmen sollte man bei den Hippokratikern an sich auch ein reich-
haltiges Instrumentarium erwarten. In dieser Hinsicht aber bestand
Abb. 47. Chirurgische Instrumente aus hippokratischer Zeit; von ünks nach rechts:
Wundhaken, Meißel (oben), Messer (unten), Salbenspatel, Knochensäge, Löffel (oben),
Nadel (unten), verschiedene Sonden (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
Hippokrates und die hippokratische Medizin.
75
der Grundsatz, mit möglichst wenigen und einfachen Werkzeugen
möglichst verschiedenartige Eingriffe vorzunehmen. Die Instrumente
bestanden zum größten Teile aus Bronze, nur die Schneideinstrumente,
teilweise sogar nur deren Kling^en, waren aus Stahl. Sie waren
durchweg unter Vermeidung jedes überflüssigen Zierrats ganz schlicht
gearbeitet und ließen sich somit sehr leicht sauber halten. Im ein-
zelnen benutzte man nur einige wenige Messer, Lanzetten, Pinzetten,
eine Knochenzange, Wundhaken, Spatel,
Nadeln, Zahnzangen, ein Raspatorium,
einen Kronen- und Perforativtrepan,
Katheter. Als Untersuchungsinstru-
mente dienten Sonden verschiedener
Form aus verschiedenen Metallen und
das Mastdarmspeculum.
Eine nach unseren Begriffen eigen-
tümliche Stellung nahmen die Hippo-
kratiker gegenüber der Frauenheilkunde
und Geburtshilfe ein. Sie war bedingt
durch eine gewisse Scheu gegenüber der
Berührung der weiblichen Geschlechts-
organe. Der Arzt gab infolgedessen zwar
seine Anordnungen, aber die ihnen zu-
grunde liegenden Untersuchungen und
die Ausführung der Behandlung selbst
war in die Hände der Hebammen ge-
legt, die freilich infolge dieses unmittel-
baren Zusammenarbeitens mit den
Aerzten eine recht gute Ausbildung ge-
habt zu haben scheinen. Von den
Frauenleiden finden in den hippokra-
tischen Schriften die Amennorrhoe, Dys-
mennorrhoe, Entzündungen der verschie-
denen Genitalteile, Lageveränderungen
der Gebärmutter, Geschwülste usw. Er-
wähnung und Behandlung. Diese ist
teilweise eine allgemeine, teils örtlich und besteht dann
bädern. Räucherungen, Einspritzungen, Spülungen, Einlegen
Mutterzäpfchen u, a. m.
In der Geburtshilfe waren verschiedene Kindslagen gut bekannt,
ebenso die dabei zu beobachtenden Handgriffe. Namentlich wurde
die Wendung durch äußerliche oder innerliche oder durch kombi-
nierte Handgriffe ausgeführt. In den Fällen, in denen die Geburt
eines lebenden Kindes unmöglich erschien, griff man zur Zerstücke-
Abb. 48. Altgriechisches dreiteiliges
Speculum (Athen).
in Sitz-
von
7 6 Hippokrates und die hippokratische Medizin.
lung desselben innerhalb der Gebärmutter, Hierzu dienten besondere
Instrumente, vor allem das Embryotom und der „Zermalmer". Bei
Verhaltung der Nachgeburt entfernte man diese in vorsichtiger Weise,
indem man das Kind zu Füßen der auf einem Lehnstuhl sitzenden
Mutter auf wassergefüllte Schläuche legte, diese anstach und so das
Kind durch eigenen Zug auf die Placenta wirken ließ.
Als Ganzes betrachtet, bietet uns so die hippokratische Medizin
das Bild einer hochentwickelten Kunst, und zwar einer Kunst, deren
Eindruck nicht nur auf ihren Leistungen, sondern nicht minder auf
der ganzen Auffassung ihrer Vertreter beruht. Bei einem theore-
tischen Wissen, das im Vergleich zu unseren heutigen Kenntnissen
zumeist primitiv anmutet, verfügten die Hippokratiker über ein bereits
reiches Können, das sie ebenso befähigte, selbst vortreffliche Aerzte
zu sein, als auch solche auszubilden. Und wenn die Medizin durch
den Lauf von zwei Jahrtausenden bis zum heutigen Tage dem Hippo-
kratismus so vieles verdankt, so beruht dies vor allem anderen darauf,
daß er zum ersten Male die ewig wahren Grundgedanken der Heil-
kunde aller Zeiten ausgesprochen und betätigt hat: daß das Haupt-
ziel die praktische Behandlung des kranken Individuums sei, daß
dieses durch eigene Beobachtung am Krankenbette zu erreichen, und
daß die Erfahrung die wahre Lehrmeisterin des Arztes sei.
Die nachhippokratische Zeit und die dogmatische
Schule.
Die hohen Anforderungen, welche die hippokratische Auffassung
der Medizin an ihre Jünger stellte, brachten es mit sich, daß ihr Ein-
fluß nur so lange im vollen Maße wirksam sein konnte, als die über-
wiegende Mehrheit der Aerzte ihren Ansprüchen gewachsen war.
Solange HiPPOKRATES selbst und seine Lehre lebendig waren, ver-
mochte auch die Schule von Kos, deren Gipfelpunkt sie bedeutete,
die übrigen Aerzteschulen in den Schatten zu stellen. Sobald aber das
Unmittelbare seines Geistes in Fortfall kam, ging auch seine be-
herrschende Wirkung verloren. Dazu kam noch, als äußeres Mornent,
daß das Bedürfnis nach Aerzten in immer zunehmendem Maße wuchs.
Es wurde allmählich immer schwieriger und schließlich zur Unmög-
lichkeit, unter den zum ärztlichen Berufe sich drängenden Jünglingen
nur die ihrer geistigen und körperlichen Anlage nach wirklich ge-
eigneten auszuwählen. Die Aerzteschulen sahen sich immer mehr
gezwungen, den Kreis ihrer Schüler zu erweitern. Alles dies hatte
zur Folge, daß man sich gezwungen sah, die Anforderungen den
Verhältnissen anzupassen ; und diese verlangten vor allem die Mög-
lichkeit, daß sich ein jeder, der sich dem ärztlichen Beruf widmen
wollte, die dazu erforderlichen Kenntnisse aneignen konnte. Diesem
Streben trug die Schule von Knidos weit mehr Rechnung, als die
von Kos. Ihre Auffassung der Medizin als einer erlernbaren Wissen-
schaft kam den neuen Bedürfnissen auf halbem Wege entgegen, und
ihr Einfluß war es, unter dem schon die unmittelbaren Nachfolger
des Hippokrates dessen Bahnen verließen, um ein wissenschaftliches
System der Heilkunde zu begründen, in welchem die Theorie — als
Grundlage — mit der Praxis zu einem einheitlichen Ganzen ver-
bunden sein sollte.
Von nicht geringer Bedeutung für diese Bestrebungen waren
die beiden großen Philosophen des 4. Jahrhunderts v. Chr., Platon
(427 — 347) und Aristoteles (384 — 32^, beide ihrerseits von den
zeitgenössischen Aerzten beeinflußt. Bei Platon war es hauptsäch-
lich eine Schrift „Timaios", welcher die medizinische Theorie manchen
Gedanken entnommen hat. Freilich haben diese Ideen, welche zu-
meist ohne alle reale Grundlage lediglich auf Spekulationen aufgebaut
78 Die nachhippokratische Zeit und die dogmatische Schule.
sind, der Medizin keinerlei Förderung gebracht. Im Gegenteil sind
sie ihr in mancher Hinsicht hindernd in den Weg getreten.
Der Einfluß des Aristoteles hat sich in doppelter Weise
geltend gemacht; seine nüchterne Sammlung und Darstellung eines
ungeheuren naturwissenschaftlichen Tatsachenmaterials wäre geradezu
das Ideal für eine Grundlegung der Medizin gewesen und hat auch
zweifellos außerordentlich anregend gewirkt. Die Methodik seines
Denkens hingegen hat, so bestechend sie in ihren Ergebnissen viel-
fach war, die medizinische Forschung auf Irrwege geführt, von denen
sie sich mehr als anderthalb Jahrtausende nie ganz frei zu machen
vermochte. Solange Aristoteles nur beschreibt, was er sieht, da
bilden seine Schriften eine wahre Fundgrube für den naturforschen-
den Arzt. Seine vergleichenden anatomischen Schilderungen, seine
Aufdeckung des Stufenganges im ganzen Naturreiche, seine natür-
liche Einteilung der Tiere in solche mit Blut und solche mit einem
Ersatzstoffe sind für die Heilkunde von größtem Wert gewesen.
Aber seine teleologische Betrachtungsweise, welche in allem die
Zweckmäßigkeit jeder Einrichtung als gegebene Tatsache nahm, und
seine deduktive Art der Beweisführung, welche aus allgemeinen, nur
mit dem Verstände erschlossenen Voraussetzungen die einzelnen
Schlußfolgerungen abzuleiten bestrebt war, schließlich seine willkür-
liche Uebertragung von Ergebnissen der Tiersektion auf den Men-
schen — alles dies hat auf die medizinische Forschung geradezu ver-
hängnisvoll gewirkt.
Es ist nun sicherlich kein bloßer Zufall, daß viele der Männer,
die in der nachhippokr.atischen Zeit den Gang der Heilkunde am
stärksten beeinflußt haben, zu der Schule von Knidos in mehr oder
minder enger Beziehung gestanden haben. Aristoteles und Eudoxos
selbst durch ihre Abkunft von Knidischen Asklepiaden, Chrysippos
u. a. durch ihre Zugehörigkeit zur Schule selbst. Allen gemeinsam
ist das den Knidiern von jeher innewohnende Streben, über die Auf-
fassung der Medizin als Kunst hinauszukommen und eine ärztliche
Wissenschaft zu begründen. Bei allen diesen Männern nimmt daher
auch die Betrachtung des normalen Menschen einen weit breiteren
Raum ein als in der hippokratischen Medizin. Sie versuchten in
den normalen Bau und in die normalen Funktionen tiefer einzu-
dringen, in der Hoffnung, daß dabei auch etwas für die praktische
Krankenbehandlung herauskommen werde.
Dies hohe Streben, das den Aerzten dieser Richtung in späterer
Zeit den Namen der Dogmatiker (SoY[xattxot) eintrug — man spricht
sogar von einer dogmatischen Schule — fand seinen vollkommensten
Ausdruck in dem bedeutendsten Arzte der nachhippokratischen Zeit,
dem „zweiten Hippokrates", DiOKLES von Karystos, dessen Lebens-
Die nachhippokratische Zeit und die dogmatische Schule.
79
zeit in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts fällt, also an die des
HiPPOKRATES immittelbar anschliefit. Dieser Mann, der die hippo-
kratischen Schriften zur Grundlage seines ärztlichen Wissens machte
und überhaupt in mancher Hinsicht hippokratischen Geist zeigte, ver-
falite gleichzeitig als erster ein selbständiges anatomisches Werk
(avaTO{jn]) und beschäftigte sich mit mancherlei physiologischen Pro-
blemen, die ihn weit über das hinausführten, was die Hippokratiker
a<ir-:
JlS--'5_- j : t /„KT Jt .> ~:-- l*V ^ ^-.
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, Abb. 49. Eine Seite des sogenannten „Anonymus Londinensis"
auf diesem Gebiete aufzuweisen hatten. Seine Lehre von der Ver-
dauung beispielsweise, über die er ein besonderes Buch (repi Tci'^cOiq)
verfaßt hat, ist von nachhaltiger Wirkung auf fast alle auf diesem
Gebiete sich beschäftigenden Aerzte gewesen, unter anderen auch
auf den großen Galenos. Die Verdauung der Nahrung erfolgt
seiner Meinung nach im Magen, indem die mit der Magen flüssigkeit
durchsetzten Speisen unter Einwirkung der mit ihnen aufgenommenen
8o Die nachhippokratische Zeit und die dogmatische Schule.
Luft einen Gärungs- und Fäulnisprozeß durchmachen, der durch die
dem Körper innewohnende Wärme befördert wird. Die verdauten
Teile der Nahrung gelangen dann in die Adern und durch diese in
den ganzen Körper, die „Ueberschüsse" kommen in den Darm. Auch
die übrigen Schriften des Diokles, unter denen noch ein „Pro-
gnostikon" und eine über „Pathologie, Aetiologie und Therapie" be-
sonders bemerkenswert sind, zeigen deutlich, wie er, trotz seiner
nahen Berührung mit den Lehren des Hippokrates doch versucht,
in jeder Hinsicht über sie hinauszukommen. Ihm verdankte auch die
Sikelische Schule, die mit der von Knidos sehr viel gemeinsam hat,
und für eine Zeitlang jedenfalls der Hauptsitz der dogmatischen
Richtung war, ihre Bedeutung,
Ein wichtiges Merkmal dieser Schule lag vor allem in der Rolle,
welche sie in ihrer Physiologie und ihrer Pathologie dem Pneuma
einräumte. Hierin ist der Hauptgegensatz gegenüber der fast aus-
schließlich humoralen Theorie der Hippokratiker zu sehen, Sie er-
kennen zwar die Bedeutung der Säfte für Gesundheit und Krank-
heit an, lassen die Zustände aber in noch höherem Maße von der
Beschaffenheit des Pneumas — d. h. des mit der Atmung aufge-
nommenen und durch die Adern im Körper verteilten luftförmigen
Stoffes abhängen.
Je mehr nun die einzelnen Anhänger der dogmatischen Schule
sich vom reinen Hippokratismus entfernten, je bewußter sie die
theoretischen Grundlagen der Medizin, also vor allem Anatomie,
Physiologie, Pathologie und Aetiologie in den Vordergrund schoben,
um so mehr bildeten sie den Uebergang zu einer Entwicklung, die
in der Folgezeit die Heilkunde auf eine Höhe zu führen berufen
war, wie sie dann bis in die neueste Zeit kaum wieder erreicht wurde.
Diese Entwicklung sollte in Alexandreia vor sich gehen.
I
Die Schule von Alexandreia.
Die äußeren Verhältnisse der Aerzte.
Eine ganze Reihe besonders glücklicher Umstände vereinigten
sich miteinander, um im 3. Jahrhundert v. Chr. zu Alexandreia eine
Stätte erstehen zu lassen, welche die verschiedensten Wissenszweige
zu einer ungeahnten Entfaltung brachte. Die Ansammlung gewal-
tiger Reichtümer durch Alexander und seine Nachfolger, die Er-
leichterung in der Benutzung der orientalischen Wissensschätze, nicht
zum wenigsten aber das lebhafte Interesse, welches die Ptolemäischen
Herrscher den Wissenschaften entgegenbrachten, alles dies schuf
derartig günstige Vorbedingungen für einen großen kulturellen Auf-
schwung, wie sie nicht oft wieder in der Geschichte zusammen-
getroffen sind. Neben der Mathematik, Astronomie, der Physik, der
Technik, der Literaturgeschichte, der Philologie und den beschrei-
benden Naturwissenschaften zog vor allem auch die Medizin einen
gewaltigen Nutzen aus den Verhältnissen, wie sie Alexandreia bot.
Ließen doch die ptolemäischen Könige nicht nur alle möglichen, der
Pflege der Kunst dienenden Gebäude errichten, sondern sie sammelten
auch alles, was an Handschriften zu erlangen war, sie legten zoolo-
gische und botanische Gärten an, und vor allem begründeten sie mit
fürstlicher Freigebigkeit die beiden Anstalten, welche es Gelehrten
und Forschern ermöglichten, ohne Sorge um das tägliche Brot sich
ganz ihrer Arbeit zu widmen: die alexandrinische Bibliothek und
das Museion. Erstere mit ihren über eine halbe Million Bücher-
rollen die gewaltigste Sammlung für viele Jahrhunderte, letzteres,
mit allen Vorrichtungen für ein geruhiges Leben der Gelehrten ver-
sehen und der ungestörten Forschung sowohl wie dem Unterrichte
der von allen Teilen der damaligen Kulturwelt hier zusammen-
strömenden Schüler gewidmet: also zugleich Forschungsakademie,
Hochschule und Gelehrtenpensionat. Diesen Lichtseiten standen frei-
lich auch Schatten gegenüber: denn die Gönnerschaft der Ptolemäer-
könige ließ unter den in der Hofluft aufwachsenden Männern nicht
immer die wahrhaft genialen und originellen Köpfe an die führende
Stelle gelangen, sondern oft auch solche Männer, welche durch Be-
redsamkeit und mancherlei äußerlich bestechende Eigenschaften sich
vorzudrängen verstanden.
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illostr. Geschichte der Medizin. 6
82 Die Schule von Alexandreia.
Für die Entwicklung" der Medizin wurde in Alexandrien eine
Tatsache vcm außerordentlicher Bedeutung, daß nämlich dort zum
ersten Male das antike Vorurteil gegen Zerstückelung menschlicher
Leichen überwunden wurde, durch welches bis dahin eine freie Ent-
faltung der Anatomie stark behindert worden war. Wenn man den
Berichten einiger Schriftsteller, wie Celsus und Tertullian glauben
darf, wurde den Aerzten sogar die Vivisektion an Verbrechern mög-
lich gemacht.
Jedenfalls waren auf dem Boden Alexandreias im 3. Jahrhundert
V. Chr. Vorbedingungen für einen weiteren Ausbau der Heilkunde
geschaffen, wie niemals vorher: die reichhaltige Bibliothek ermög-
lichte die Verarbeitung der gesamten medizinischen Literatur, die
Sektion menschlicher Leichen gestattete tiefere Einblicke in den
Körperbau als je, die Förderung" der beschreibenden Naturwissen-
schaften, der Zoologie und Botanik sowie vor allem der Physik gab
zum ersten Male eine zuverlässigere Unterlage für die physiologische
Forschung; und alle diese einzelnen Faktoren zusammen mit den
mancherlei äußeren fördernden Einflüssen boten auch für die übrigen
Teile der Medizin, wie Arzneimittellehre, Chirurgie usw. weit gün-
stigere Bedingungen als den früheren Aerzten.
So wurde Alexandreia sehr bald ein gewaltiger Anziehungs-
punkt für alle Aerzte und solche, die es werden wollten. Die Folge
war eine starke Zunahme derselben, welche vor allem auch dadurch
begünstigt wurde, daß die ärztliche Ausbildung für jedermann er-
möglicht war. Inwieweit dies auf die Zusammensetzung des Aerzte-
standes gewirkt hat, darüber ist uns Genaueres nicht bekannt. Sicher
ist nur, daß die Spezialisierung" einzelner Fächer, wie der Augen-
und Zahnheilkunde und anderer einen immer größeren Umfang
annahm. Im übrigen blieb der ärztliche Beruf im Grundsatz eine
reine Privatsache; nur breitete sich die Einrichtung der Gemeinde-
ärzte stärker aus, so daß gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr.
jede auch kleine Gemeinde ihren eigenen Amtsarzt hatte. Diese
führten seit dem 2. Jahrhundert dann die neue Amtsbezeichnung
„Archiater" (ap^^tatpöc), ein Name, der zuerst am Seleukidenhofe den
Hofärzten beigelegt worden war. Diese beamteten Aerzte, denen
wohl auch gewisse Aufsichtsrechte über die nichtbeamteten zuge-
standen haben, mögen ein gewisses Gegengewicht gegen die durch
die Berufsüberfüllung erzeugten Mißstände geschaffen haben.
In planmäßiger Ausnutzung der günstigen Verhältnisse wandten
sich die hervorragendsten Vertreter der alexandrinischen Medizin in
erster Linie den Forschungsgebieten zu, die bisher am meisten in
ihrer Entfaltung gehindert waren ; und dies um so mehr, als sie gerade
in diesen Fächern — nämlich vor allem der Anatomie und Physio-
Die Schule von Alexandreia.
83
logie — die Grundlagen der ganzen Heilkunde sahen, auf denen
sie das Gebäude eines in sich geschlossenen wissenschaftlichen
Systems aufbauen zu können glaubten. Diese Bestrebungen, die als
unmittelbare Forsetzung der Pläne der dogmatischen Richtung in
ihren ersten bewußten Anfängen auf die Schule von Knidos zurück-
gehen, wurden namentlich auch von den beiden bedeutendsten
Aerzten der alexandrinischen Zeit vertreten. Herophilos und Era-
SISTRATOS, freilich mit einer grundsätzlich verschiedenen Einstellung
gegenüber den älteren Lehren.
Herophilos und Erasistratos und ihre Schulen.
Ueber das Leben dieser beiden Männer ist uns nichts Näheres
bekannt. Von Herophilos wissen wir nur, daß er, um 300 v. Chr.
zu Chalcedon geboren. Schüler von Chrysippos und Praxagoras
war und unter den beiden
ersten ptolemäischen Kö-
nigen zu Alexandrien ge-
wirkt hat. Obgleich er
das Wissen und die Leis-
tungen der Aerzte v^orihm
anerkannte und verwer-
tete, so war er doch eine
durchaus selbständige
Xatur. Das zeigte er be-
sonders deutlich durch
seine Anschauungen und
Arbeiten auf dem Gebiete
der Anatomie. Denn wäh-
rend alle seine Vorgänger
trotz mancher wichtigen
Einzelergebnisse doch
nicht zu einer zusammen-
hängenden anatomischen
Betrachtung gekommen
waren, hat Herophilos
zum ersten Male in wirk-
lich systematischer Weise
He gesamte Anatomie
durchgearbeitet. System
lag in seinem Vorgehen
lauptsächlich insofern, als er sich nicht mit der Erforschung der
einzelnen Körperteile und Organe begnügte, sondern auch ihre Be-
ziehungen zu- und untereinander festzustellen versuchte. So war er
Abb. 50. Hellenistische Terrakott-Weihgabe : Lunge
und Luftröhre (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
^4 Die Schule von Alexandreia.
der erste, der ganz klar den Zusammenhang des Nervensystems mit
dem Gehirn und Rückenmark erkannte und die Nerven, von ihrer
Ursprungsstelle ausgehend, in ihrem weiteren Verlaufe verfolgte.
Auch den Zusammenhang der Verdauungsorgane mit den Chylus-
gefäßen sah er zum ersten Male deutlich. Von seinen übrigen ana-
tomischen Entdeckungen ist noch die des noch heute nach ihm be-
nannten „Torcular Herophili" des „Calamus Herophili", des Sehnerven
in seinen Beziehungen zu Auge und Gehirn zu nennen. Auch rührt
von ihm die erste eingehendere Beschreibung des Auges her. Die
meisten dieser Ergebnisse legte er in seinem Werke „avaTO[it>td" nieder.
Auch in seinen physiologischen Anschauungen suchte er über
das vorhandene Wissen hinauszukommen. Die hippokratische Physis
als allgemeines Erklärungsprinzip der körperlichen Gesamtfunktionen
befriedigte ihn nicht. Er strebte vielmehr danach, sie gleichsam in
ihre einzelnen Komponenten zu zerlegen; wobei er freilich ebenfalls
gezwungen war, zur Spekulation seine Zuflucht zu nehmen. Er ließ
den Lebensvorgang als Ganzes von vier Kräften beherrscht sein :
der ernährenden Kraft, welche in der Leber und den Verdauungs-
organen sitze, der erwärmenden Kraft mit dem Sitz im Herzen, der
denkenden Kraft, deren Zentralorgan das Gehirn sei, und der empfin-
denden Kraft, welche in den Nerven ruhe.
In seinen Einzelforschungen suchte er die Spekulation, deren
Gefahr er wohl erkannte, möglichst durch physikalische Erklärungen
und physiologische Untersuchungen zu ergänzen oder zu stützen. So
fand er, daß der Puls nicht auf einer rätselhaften, den Arterien selbst
innewohnenden Kraft beruhe, sondern daß diese Kraft durch die
Tätigkeit des Herzens, die Systole und Diastole, mitgeteilt werde.
Wenn nun auch dem Herophilos als Ideal eine möglichste
Vereinigung von Theorie und Praxis vorschwebte, so erkannte er
doch, daß eine zuverlässige Begründung der letzteren auf der ersteren
mit Rücksicht auf den ärztlichen Beruf noch nicht möglich sei. Und
so nimmt er in seiner Krankheitslehre und Therapie die alten wohl-
bewährten Prinzipien des Hippokratismus wieder auf; allerdings nicht,
ohne sie auf Grund der fortgeschrittenen Kenntnisse und der ver-
mehrten Erfahrung zu erweitern. Das Verhältnis zwischen Diagnose
und Prognose ist bei ihm demnach das gleiche wie bei den Hippo-
kratikern, aber er sucht sie im einzelnen zu verfeinern. So tritt bei
ihm die Pulsbeobachtung als Hilfsmittel der Krankenuntersuchung
weit stärker hervor als bei irgendeinem früheren Arzte. Unter Be-
nutzung der Wasseruhr, welche eine genaue Zählung gestattete,
untersuchte er den Puls unter den verschiedensten Bedingungen,
stellte seine Hauptqualitäten fest und brachte sie in Beziehung zu
den einzelnen Krankheitserscheinungen.
Die Schule von Alexandreia. 85
In seiner Therapie steht Herophilos ebenso wie die Hippo-
kratiker auf dem Standpunkte, daß der Arzt vor allem die Grenzen
seiner Macht kennen und berücksichtigen müsse. Er fußt also in
dieser Hinsicht auch auf der reinen Erfalirung. In der Verwendung
von Arzneimitteln geht er dagegen viel weiter; sein Arzneischatz
ist bedeutend reichhaltiger, was wohl weniger auf eine grundsätzlich
andere Auffassung als vielmehr auf den größeren Reichtum Aegyptens
an verwendbaren Stoffen zurückzuführen ist. Den übrigen Teilen
der Heilkunde, wie vor allem der Chirurgie und Geburtshilfe, wandte
Herophilos gleichfalls lebhaftes Interesse zu, wobei er durch seine
fortgeschrittene anatomische Erkenntnis nicht wenig unterstützt wurde.
Trotz mannigfacher Berührungspunkte entwickelte sich der
zweite der großen alexandrinischen Aerzte, Erasistratos, in einer
stark abweichenden Richtung. Er wurde zwischen 310 und 300 v. Chr.
als Sohn des Arztes Kleombrotos zu Julis auf der Insel Keos ge-
boren und von seinem hauptsächlichen Lehrer Metrodoros, einem
Schüler des ChrysippoS, schon früh im Sinne der Knidischen Schule
in die Heilkunde eingeführt. Ueber seinen weiteren Ausbildungs-
gang ist nichts Sicheres bekannt. Später war er eine Zeitlang Arzt
am Seleukidenhofe zu Antiocheia und starb zwischen 250 und 240
wahrscheinlich auf der Insel Samos.
Eines der Hauptmerkmale seiner Lehren ist der bewußte Gegen-
satz gegen die hippokratische Medizin sowohl als Ganzes als auch
in ihren einzelnen Teilen. Er war ein folgerichtiger Abkömmling
der Knidischen Schule und verfolgte als höchstes Ziel die Begrün-
dung eines lückenlosen medizinischen Systems auf naturwissenschaft-
licher Grundlage. Dabei sah aber auch er sehr wohl, daß nicht alle
Erkenntnisse über die normalen Funktionen des Körpers für den
Arzt eine wirklich praktische Bedeutung haben könnten und trennte
deshalb absichtlich seine dahin zielenden Forschungen, als der reinen
Naturwissenschaft zugehörig, von der eigentlichen Medizin. Zu jener
gehören also normale Anatomie und Physiologie, zu dieser nur Patho-
logie (im weitesten Sinne) und Therapie.
Da es ihm nicht wie Herophilos um die Darstellung eines
anatomischen Gesamtbildes zu tun war (er hat deshalb auch kein zu-
sammenfcissendes Werk über dies Gebiet geschrieben), so beschränkte
er seine anatomischen Untersuchungen auf eine Zahl von Einzel-
problemen, zu deren Klänmg er dann freilich hervorragend bei-
getragen hat. Sein Hauptforschungsgebiet war das Gefäß- und
Nervensystem, deren genaue Trennung ihm allerdings erst in
späteren Jahren gelang. Seine wichtigste Entdeckung war, daß es
zweierlei Nerven gäbe, Empfindungs- und Bewegungsnerven, und
daß beide dieselbe Substanz enthielten, wie das Gehirn, aus dessen
86 Die Schule von Alexandreia.
Marksubstanz sie entsprängen. Ferner stammt von ihm die erste
richtige Beschreibung des Herzens, sowie eine genauere der Leber
mit ihren Gallengängen.
In seinen physiologischen Anschauungen bevorzugte Erasi-
STRATOS jede Art von mechanistischer Erklärung. Alle Funktionen
des Organismus, den er sich aus feinsten, nicht mehr teilbaren Teilen
(Atomen) zusammengesetzt denkt, beruhen im letzten Sinne auf dem
Verhalten des Blutes und des Pneumas, welche ihn beide nach allen
Richtungen hin durchströmen. Das Blut, welches aus der Nahrung
gewonnen wird und auf dem Wege der von der Leber ausgehenden
Hohlvenen durch den ganzen Körper verbreitet wird, dient zum
Aufbau sämtlicher Organe; welche ein Parenchym enthalten, und
zum fortwährenden Ersatz der durch die Körpertätigkeit verbrauchten
Substanzen. Während so das Blut den Stoff bildet für den Körper-
haushalt, ist das Pneuma der Träger der Energie und somit das
eigentliche oberste Prinzip aller Lebensfunktionen. Es wird zugleich
mit der Einatmungsluft in die Lunge aufgenommen, gelangt durch
die Lungenvene in die linke Herzkammer und von dieser aus durch
die Arterien in den ganzen Körper, wo es in einzelnen Organen in
spezifischer Weise umgewandelt wird, z. B. in dem Gehirn zu
„seelischem Pneuma" (7rvcD[xa (J;d/ixöv). Es bestehen demnach zwei
Kreislaufsysteme nebeneinander, das des Blutes, dessen Mittelpunkt
das Herz ist und dessen Wege die Venen sind, und der Pneuma-
kreislauf, der gleichsam drei Zentren hat: das Herz, die Leber, von
denen aus durch die Adern es sich im Körper verbreitet, und das
Gehirn, das es auf den Bahnen der Nerven von sich ausströmen
läßt. Beide Systeme stehen an ihren periphersten Enden durch
„Synanastomosen", welche aber unter normalen Verhältnissen un-
durchgängig sind, miteinander in Verbindung.
Mittelbar oder unmittelbar setzt nun Erasistratos alle Einzel-
funktionen zu den geschilderten Grundvorgängen in Beziehung, wo-
bei das Gesetz des „horror vacui" eine wichtige Rolle spielt. So er-
klärte er beispielsweise das Wachstum der Teile durch ein Hin-
strömen des die Ernährungsflüssigkeiten enthaltenden Blutes zu den
infolge Leerheit nach der Aufnahme neuer Stoffe begierigen Stellen.
Die Atmung kommt nach ihm durch Nachströmen der Luft in den
erweiterten Brustkorb infolge „horror vacui" zustande. Eine grob
mechanistische Erklärung der Muskelbewegung gibt er in seiner
Annahme, daß das Gehirn bei dem Willensimpuls durch die Nerven
das Pneuma in die zu bewegenden Muskeln presse, deren Hohlsäume
gleichsam aufblase und dadurch ihre Verkürzung hervorrufe.
Zwischen diesen Lehren, welche Erasistratos selbst — wie
gesagt — als rein naturwissenschaftlich bezeichnet, und seiner Patho-
Die Schule von Alexandreia.
87
logie, die er als die eigentliche und unmittelbare Unterlage der Me-
dizin betrachtet, besteht in den meisten Punkten nur eine äußere
gezwungene Verbindung. Krankheit ist nach seiner Meinung nichts
anderes als die Behinderung- des Organismus in seinen normalen
Funktionen infolge Ueberfüllung seiner Teile mit den aus der Nah-
rung stammenden, nicht genügend verdauten Stoffen. Er bezeichnet
diesen Zustand als „Plethora" und sucht damit alle einzelnen Krank-
heitserscheinungen zu erklären. Seine Beobachtungen an der Leiche,
die ihn als ersten eine Reihe von sichtbaren anatomischen Krank-
heitsveränderungen dieses und jenes Organs erkennen ließen (z. B.
der Leberskirrhose bei Wassersucht), führten ihn zu einer stark lokal-
pathologischen Betrachtung: so ist das Fieber, das er übrigens nicht
als selbständige Krankheit, sondern als bloßes Symptom erkannte,
nichts anderes als die Stockung des Pneumakreislaufes in den großen
Arterien infolge Eindringens des „überfüllten" Blutes aus den ^^enen.
Entzündung bedeutet ihm dem Wesen nach das gleiche, nur ist ihr
Sitz in den feinsten Endigungen der Gefäße. Arthritis beruht auf
einer „Plethora" der Gelenke, Lungenentzündung auf einer Stauung
der Lungenarterien usw. Man erkennt bei allen diesen Anschauungen
unschwer, wie Erasistratos bemüht war, die auf Grund nüchterner
Beobachtungen am Krankenbette und an der Leiche festgestellten
Tatbestände mit gewissen aprioristischen Theoremen zu einem Bilde
zu vereinigen.
■<=lSa9.?-.;'li>-.A.
Abb. 51. Abb. 52.
Lbb. 51. Hellenistisches Votiv: Knabe mit rechtsseitiger Augengeschwulst (Sammlung
Prof. Meyer-Steineg).
Lbb. 52. Hellenistisches Votiv: Mann mit linksseitiger FacLiHs-Lähmung (Sammlting
Prof. Meyer-Steineg).
88
Die Schule von Alexandreia.
Indem [Erasistratos alle Krankheiten auf das eine Prinzip
der „Plethora" zurückzuführen suchte, behielt er in seinen Lehren
keinen Raum für eine eigentliche Aetiologie übrig. Denn die ferner
liegenden Ursachen der Plethora konnten danach für ihn lediglich
theoretische Bedeutung haben. Seine Diagnostik war daher auch
viel stärker lokal gefärbt, als etwa bei Herophilos, sie ähnelt
hierin noch am meisten der älteren knidischen.
Genaueres über seine Unter-
suchungsmethoden ist aus den
wenigen Bruchstücken seiner
Schriften nicht zu entnehmen;
nur das eine steht fest, daß er
der Pulsbeobachtung nicht an-
nähernd die Bedeutung beimaß,
wie sein großer Zeitgenosse. Wie
sehr aber auch er bestrebt
war, eine möglichst zuverlässige
Unterlage für die Behandlung
zu erhalten, zeigt sein Ausspruch:
„Es geziemt sich für den, der
richtig arzten will, sich in den
auf die Heilkunst bezüglichen
Dingen zu üben und keine der
die Krankheit begleitenden Er-
scheinungen ununtersucht zu
lassen, sondern darauf zu achten
und danach zu forschen, auf
Grund welcher Disposition (Sca-
■9-saic) jede einzelne (der Erschei-
nungen) auftritt."
Folgerichtigerweise gestal-
tete Erasistratos seine The-
rapie nach zwei Grundgedanken.
Sie mußte sich einmal gegen die
allgemeine Ursache, die „Plethora", richten und war in dieser Hinsicht
also im weiteren Sinne ätiologisch, in zweiter Linie aber zielte sie
auf eine unmittelbare Beeinflussung des leidenden Teiles ab, war
also lokalpathologisch begründet. Zu den allgemeinen Maßnahmen,
welche die „UeberfüUung" beseitigen sollten, gehörte eine einschrän-
kende Regelung der Diät bis zum vollkommenen Fasten, Abführ-,
Brech-, harn- und schweißtreibende Mittel, Bäder, Einreibungen und
anderes. Der Aderlaß wurde nur in seltenen Fällen angewandt,
weil durch ihn, wenn man wenig Blut abzapfe, auch nur wenig von
den schädlichen Stoffen entfernt werde, wenn man aber diese letz-
Abb. 53. Hellenistisches Votiv, multiple
Hautgeschwülste darstellend (Sammlung Prof.
Meyer-Steineg) .
Die Schule von Alexandreia.
89
teren in genügender Menge beseitigen wolle, mehr Blut entzogen
werden müsse, als unter Umständen gut sei. An die Stelle des
Aderlasses setzte er meist Einwickelungen der Glieder oder Appli-
kationen von Schröpfköpfen, Kautern und anderem, also örtliche
Mittel der verschiedensten Art, welche überhaupt in fast allen Fällen
ergänzend zu den Allgemeinmitteln hinzutreten mußten.
Ueber die Leistungen des Erasistratos auf den übrigen Ge-
bieten der ^ledizin ist zu wenig bekannt, um eine deutliche Vor-
stellung darüber zu erhalten.
Abb. 54. Hellenistisches Relief: Arzt vor seinem Schrank (innen BQcherrolIen, darüber
Instrumentenkasten), in einer Bücherrolle lesend (vielleicht zur Vorbereitung für eine
Operation).
90
Die Schule von Alexandreia.
Der Einfluß der beiden großen Alexandriner auf den weiteren
Gang der Medizin war ein nachhaltiger. An beide schlössen sich
eine große Reihe unmittelbarer Schüler und mittelbarer Anhänger
an, welche zum Teil die Lehren ihrer Meister als unantastbares
Abb. 55. Chirurgische Instrumente aus Alexandrinischer Zeit. Von links nach rechts:
Salbenreiber, Spatelmesser, „Löffel des Diokles" zur Ausziehimg von Pfeilspitzen, Messer
und scharfer Löffel, Kornzange, Unterbindungsnadel (Oehr mangelhaft sichtbar). (Samm-
lung Prof, Meyer-Steineg.)
Die Schule von Alexandreia.
91
Dogma hinstellten und in dessen Befolgung die Schöpfer der Lehre
selbst zu übertreffen suchten. So entstand eine Schule der Hero-
phileer und eine der Erasistrateer, die beide sich eines wech-
Abb. 56. Chirurgische Instrumente aus alexandrinischer Zeit: scharfer Löffel, geöhrte
Sonde, ^lesser und Löffel, Medikamentenlöffel, Lidpinzelte mit Messer, Lidpinzette,
scharfer Löffel, Hakenmesser, Arzneinäpfchen (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
selnden Einflusses erfreuten und bis in nachchristliche Zeiten sich
erhielten, Sie verdankten dies nicht zum wenigsten dem außer-
ordentlichen Eifer, mit dem sie andauernd gegeneinander im Kampfe
lagen, einem Eifer, der keiner der beiden Schulen gestattete, auf
92
Die Schule von Alexandreia.
^^
dem Erworbenen auszuruhen, vielmehr immer neuen Antrieb zum
Weiterarbeiten gab.
Dabei waren die Gegensätze zwischen ihnen im Grunde ge-
nommen nicht so er-
hebHch. In den wich-
tigsten Fragen wa-
ren sie sogar völlig
der gleichen Mei-
nung: daß nämlich,
ebenso wie bei ihren
Meistern, der Ana-
tomie die erste Rolle
einzuräumen sei.
Während aber ihre
Vorbilder dabei eine
ziemlich scharfe
Trennung zwischen
den Verhältnissen
beim Menschen und
beim Tier durchge-
führt zu haben schei-
nen, stellt bei den
Nachfolgern die
Anatomie, soweit die
geringen erhaltenen
Bruchstücke erken-
nen lassen, ein ziem-
lich buntes Gemisch
von menschlicher
und tierischer Ana-
tomie dar. Im übri-
gen hatte der scharfe
Wettbewerb zwi-
schen beiden Schu-
len die erfreuliche
Folge, daß beide zur
Ausgestaltung der
einzelnen Teile der
Medizin erheblich
beigetragen haben, so dafd man die Zeit nach Herophilos und
ErasistratoS vielleicht als die fruchtbarste der antiken Medizin
bezeichnen darf. Neue theoretische Erkenntnisse von allgemeiner
Bedeutung haben allerdings weder die einen noch die anderen
Abb. 57. Chirurgische Instrumente aus alexandrinischer
Zeit: oben Kanüle, Kanüle, geöhrte Sonde, Wundhaken,
Spitzsonde, Blasensteinhaken, unten Punktionskanüle, Lanzette
(Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
Die Schule von Alexandreia.
93
in nennenswertem Umfange zutage gefördert. In dieser Hinsicht
schienen die beiden Vorbilder den gesamten Geist der Zeit aus-
geschöpft zu haben. Das zeigt vor allem die geradezu sklavische
Abb. 58. Augenärztliches Instrumentarium aus alexandrinischer Zeit. Oben Lidhaltcr,
Kauter, Slamadel, Starmesser, 2. Lidhalter, Cilienpinzette. Unten: K.isten, Spatel, scharfer
Löffel, Reiber. (Sammlung Prof. Meyer-Steineg.)
Anhänglichkeit der Erasistrateer an die Lehre von der
Plethora, die in ihrer theoretischen Begründung sowohl als auch
in ihren praktischen Konsequenzen ihnen als der Inbegriff aller
ärztlichen Wissenschaft erschien. Von den Einzelgebieten, welche von
94
Die Schule von Alexandreia.
•'«■«yiii^v
den alexandrinischen Aerzten eine bedeutsame Förderung erfahren
haben, steht obenan die Chirurgie. Einer der wichtigsten Fort-
schritte war die Anwendung der Narkose. Welcher alexandrinische
Arzt sie zuerst angewandt hat, ist nicht bekannt. Es steht nur fest,
daß die Chirurgen Alexandriens sich eines Auszugs aus der Alraun-
wurzel (Mandragoras) bedient haben, um, wie später DiOSKURiDES
berichtet, beim Operieren mit Messer oder
Glüheisen Empfindungslosigkeit zu erzeugen.
Eine weitere Entdeckung von großer
Tragweite war die Adernunterbindung, die
es gestattete, auch solche chirurgische Ein-
griffe vorzunehmen, an welche die Aerzte bis
dahin sich wegen der Verblutungsgefahr
nicht gewagt hatten, wie beispielsw^eise die
Amputation größerer GHeder. Von den um
die alexandrinische Medizin besonders ver-
dienten Aerzten ist vor allem Claudios
Philoxenos, der das gesamte Gebiet be-
handelt hat, zu erwähnen, sodann Apol-
LONIOS von Kition, welcher vor allem
durch Kommentierung hippokratischer Schrif-
ten berühmt wurde, und AmmoNIOS, der eine
vervollkommnete Methode der Blasenstein-
operation nebst dem dazu gehörigen Instru-
mentarium angab.
Auf dem Gebiete der Frauenheilkunde
und Geburtshilfe leisteten hervorragendes
Demetrios von Apameia, der eine neue Er-
klärung des „Flusses" der Frauen gab und
über Dystokie schrieb, ferner Claudios
Philoxenos und Lampsakos.
Als Augenärzte taten sich Andreas von
Karystos und Gaius hervor. Den nach-
haltigsten Einfluß auf diesem Gebiete übte
aber Demosthenes Philalethes aus, dessen
Werk „o'fO-aXjitXQ?" für eine lange Reihe
von Jahrhunderten die von zahlreichen Autoren benutzte Quelle
blieb.
Auch die Arzneimittellehre wurde von vielen der alexandrinischen
Aerzte bereichert. Unter ihnen ragen vor allem HiKESiOS mit seinem
Werke „uspl uX-^?" (= de materia medica) und Andreas von Karystos
mit seiner Schrift „Der Arzneikasten" (vdpö-^4) hervor, die sich beide
nur mit einzelnen Teilen der Pharmakologie beschäftigt haben.
Abb. 59. Instrumenten-
büchse mit Asklepios.
(Sammlung Prof. Meyer-
Steineg.)
Die Schule von Alexandreia. 95
Zwar wurden von keinem einzigen dieser Leute die großen
beiden Vorbilder erreicht, aber es gelang ihnen doch, die einmal
vorhandene Tradition durch einen wenigstens äußerlichen und mittel-
baren Anschluß an die Meister aufrecht und damit die Bedeutung
Alexandriens für die Medizin mehrere Jahrhunderte hindurch lebendig
zu erhalten. Durch ihre Bearbeitung der Einzelgebiete der Heil-
kunde imd Aufsammlung einer großen Menge von Einzeltatsachen
bereiteten sie so den Boden vor, auf dem dann vierhundert Jahre nach
Herophilos und Era.SISTRATG5 deren Streben nach einem die
Jahrhunderte überdauernden, alles beherrschenden medizinischen
Lehrgebäude wirklich seine tatsächliche Erfüllung finden sollte in
in dem großen Galexos, den man somit als das eigentliche Endglied
der alexandrinischen ^Medizin bezeichnen kann.
Die Schule der Empiriker.
Die geschlossene Einheit, welche die Sekten der Herophileer
und Er asis trateer nach außen hin bildeten, war in Wirklichkeit
nicht so fest, wie es den Anschein hatte. Nicht wenige der ihnen
formal zugehörenden Aerzte standen im Grunde auf einem ganz
anderen Standpunkte. Bei dem einen tritt das deutlicher, bei dem
anderen weniger sichtbar hervor. Die ursprünglichen Lehren der
beiden führenden Geister hatten schon bald nach ihrem tatsächlichen
Ausscheiden viel von ihrer Wirksamkeit eingebüßt, die doch — wie
das gewöhnlich der Fall ist — zu einem großen Teil mit der Per-
sönlichkeit selbst eng verbunden war. Hätten die Lehrmeinungen
des Erasistratos und Herophilos ihre Schüler und Nachfolger
wahrhaft befriedigt, so würden sie versucht haben, ihren Kern weiter zu
entwickeln. So aber wandten sich die meisten denjenigen Einzelheiten
zu, deren Bearbeitung eine ganz andere Forschungsmethode verlangte,
bei welcher der Empirie ein weit breiterer Raum gewährt wurde.
Mag dieser Zusammenhang den meisten der alexandrinischen
Aerzte gar nicht voll zum Bewußtsein gekommen sein, so gab es
doch auch etliche unter ihnen, welche in ausgesprochener Opposition
gegen die Grundanschauungen der herrschenden Lehren vorgingen,
Sie setzten der Forderung einer wissenschaftlichen Behandlung der
Medizin den Standpunkt der reinen Erfahrung entgegen. Sie er-
klärten sich durchaus unbefriedigt durch eine Methode, welche zwar
über mancherlei naturwissenschaftliche Probleme gewisse theoretische
Aufschlüsse geben zu können versprach, aber — nach ihrer Meinung
— damit keinerlei zuverlässige Unterlagen für die praktische Kranken-
behandlung schuf. Sie übersahen geflissentlich die Bedeutung, welche
die Grundgedanken und Bestrebungen des Herophilos und Era-
sistratos auch dann für die Weitergestaltung der Medizin hatten, wenn
ihre Absichten sich niemals voll verwirklichen ließen und schössen des-
halb in ihren eigenen Ideen weit über das Ziel hinaus, dessen Er-
streben an sich als gesundes Gegengewicht gegen eine zu sehr überhand-
nehmende Theoretisierung der Medizin ganz berechtigt gewesen wäre.
Schon der Name „Empiriker" (l[j.:retpt%oL), den sie sich beilegten,
wirkte wie ein Kampfruf in einer Zeit, welche gerade diesen Stand-
punkt endgültig beseitigt zu haben glaubte. Noch mehr taten dies
die Leitsätze, in denen sie ihre Bestrebungen begründeten, „Die
Heilkunst sei entstanden, indem man durch die Gesundung der einen
Die Schule der Empiriker. 97
und durch das Zugrundegehen der anderen das Schädliche von dem
Heilsamen unterscheiden gelernt habe. Und erst nachdem man die
Heilmittel in der Medizin gefunden habe, hätten die Leute begonnen,
über deren theoretische Begründung zu disputieren. Die Heilkunde
sei also nicht auf Grund der theoretischen Ueberlegung erfunden,
sondern man habe eine theoretische Begründung erst gesucht, nach-
dem die Heilmethode bereits erfunden worden sei." Ferner „sei
nicht von Interesse, was eine Krankheit hervorrufe, sondern was sie
beseitige", und „man könne Krankheiten nicht durch Beredsamkeit,
sondern nur durch Heilmittel heilen".
Die Empiriker gingen demnach in der Begreifung des reinen
Erfahrungsstandpunktes sogar noch über H1PPOKRA.TES hinaus, der
doch die Theorie, wenn auch nicht als Grundlage der Kranken-
behandlung, so doch wenigstens als Bildungsmittel für den Arzt
gelten ließ. Für sie baut sich die Heilkunde ausschließlich auf drei
Fundamenten, auf, dem sogenannten „empirischen Dreifuß". Dessen
wichtigster Teil ist die eigene Beobachtung {rqp'qaic). Sie bezieht
sich nicht nur auf das, was sich dem Beobachter „von selbst" dar-
bietet, sondern auch auf das, was ihm seine Versuche zeigen. Der
zweite Punkt ist die Ueberlieferung der Beobachtungen anderer
(loTopia), w^elche die eigene Beobachtung ergänzen soll. In Fällen,
in denen diese beiden Unterlagen nicht ausreichen, soll der Analogie-
schluß {i.zb Tob 6'AOioo {ieraßaot<;) aushelfen.
In der Einseitigkeit ihrer Auffassung liegt sowohl die Schwäche,
wie aber auch die Stärke der Empiriker. Ihre Schwäche insofern,
als sie jeden erkenntnistheoretischen Fortschritt vollkommen unmög-
lich machten, ihre Stärke, indem sie alle ihre Kraft auf die prak-
tischen Ziele der Heilkunde sammelten. Ihre Verdienste liegen daher
auf den Gebieten, auf denen die bloße Erfahrung Fortschritte zu
erzielen vermag: der Symptomenlehre, der Untersuchungsmethodik,
der Arzneimittelkunde und der Chirurgie.
Als Begründer der empirischen Schule galten Philinos von
Kos und Serapion aus Alexandreia, beide in der zweiten Hälfte
des 3. Jahrhunderts v, Chr. Sie waren gleichzeitig die heftigsten
Gegner des Hippokratismus, in welchem sie vöUig zu Unrecht den
Ausgangspunkt der ganzen dogmatischen Richtung sahen. Ge-
mäßigter ging Glaukias von Taras vor, der um 170 v. Chr. lebte
und einen Kommentar zu allen hippokratischen Schriften schrieb, in
dem er zwischen deren Grundsätzen und denen seiner Schule zu
vermitteln suchte. Den Höhepunkt des Empirismus bedeutet Hera-
kleides von Taras im Beginn des i. Jahrhunderts v. Chr. Er hat
eine Schrift in sieben Büchern über seine eigene Sekte verfaßt, in
der er offenbar ihre Prinzipien auf das ausführlichste auseinander-
Meyer-Stcineg u. Sudhoff, Ulustr. Geschichte der Medizin. 7
g8 Die Schule der Empiriker.
gesetzt und begründet hat. Seine übrige schriftstellerische Tätigkeit
ist ebenfalls für die empirische Schule kennzeichnend. Er schrieb
über „die inneren und äußeren Heilmittel", eine Kriegschirurgie mit
dem Titel „Der Soldat", ein Buch „Die Diät", eines über „Bereitung
und Prüfung der Arzneimittel". Gerade das letztere Werk, in dem
er zahlreiche eigene pharmakologische Versuche niedergelegt haben
soll, zeigt die Lichtseite der empirischen Forschung.
Was im einzelnen die Empiriker für die gesamten Gebiete der
Medizin geleistet haben, ist nicht unmittelbar aus ihren Schriften zu
erschließen, von denen nur kleine Bruchstücke bei anderen Autoren
uns überliefert sind. Dagegen zeigen uns die teilweise erheblichen
Unterschiede, welche die spätere Literatur — namentlich das ganz
auf alexandrinischen Quellen aufgebaute Buch des Römers Celsus
— gegenüber den früheren aufweist, welche Fortschritte in der
Zwischenzeit gemacht sein müssen.
In die Bestrebungen der empirischen Schule fügen sich die-
jenigen einiger zeitgenössischer Herrscher ein, welche zum Teil aus
wirklichem Interesse, zum anderen Teil aber aus durchaus selbstischen
Gründen sich auf dem Gebiete der Giftlehre betätigten. So baute
Attalos III von Pergamon (138 — 133 v.Chr.) selbst allerlei giftige
Gewächse, die mit Vorliebe zum Meuchelmord benutzt wurden, an
(Schierhng, Bilsenkraut u. a.) und benutzte Verbrecher, um die Wir-
kung dieser Gifte zu erproben und Gegenmittel ausfindig zu machen.
In gleicher Weise verfuhr Nikomedes von Bithynien (f 91 v. Chr.),
Noch weiter als dieser ging Mithridates Eupator (120 — 63 v. Chr.).
Er experimentierte nicht nur an anderen, sondern vor allem an sich
selbst. Auf Grund langer Versuche setzte er ein noch Jahrhunderte
später nach ihm „Mithridaticum" benanntes Antidot aus 54 Bestand-
teilen zusammen, wodurch er ein Gegengift gegen jede mögliche
Art von Vergiftung gefunden zu haben glaubte. Er nahm täglich
erst das Antidot ein, dem er das Blut von pontischen Enten hinzu-
setzte, die mit Vorliebe einige der hauptsächlichsten Giftpflanzen
fraßen, dann hinterher nahm er in steigenden Dosen Gift. Auf diese
Weise vermeinte er, sich gegen jeglichen Vergiftungsversuch immuni-
sieren zu können. Seine Erfahrung legte er auch in persönlichen
Aufzeichnungen nieder.
Die Wirkungen der alexandrinischen Medizin haben, wie bereits
erwähnt wurde, weit über die Zeit hinaus sich erstreckt, welche im
übrigen Alexandreia mit seiner Kultur beherrscht hat; sie haben
noch weit bis in jene Epoche hinein sich bemerkbar gemacht, welche
bereits deutlich den Einfluß eines neuen kulturellen Mittelpunktes
erkennen läßt, Rom.
Die Heilkunde bei den Römern vor der Einführung
der griechischen Medizin.
Entwicklung des römischen Aerztestandes.
Erst spät hat sich bei den Römern eine wirkliche Heilkunde
entwickelt, wie sie die übrigen Völker des Altertums bereits auf
einer ziemlich frühen Kulturstufe aufzuweisen hatten. So lange die
Römer im wesentlichen ein
Volk aus rauhen Kriegern
und abgehärteten Bauern
waren, war auch das Be-
dürfnis nach Aerzten und
ihrer Hilfe gering. Ein jeder
half sich, so gut er konnte,
mit Hausmitteln und nahm,
wenn diese versagten, zu
der Zauberkunst marsischer
und etruskischer Gaukler
seine Zuflucht. Das führte
dann allmählich zu einer
starken Verquickung der
Heilmaßnahmen mit reli-
giösen Dingen, die sich in
der Verehrung bestimmter
Gottheiten kundgab ; so wur-
den neben der eigentlichen
Heilgöttin, der „Dea Salus",
bei besonderen Leiden auch
besondere Götter angerufen
bei Fieber die „Dea Febris"
und „Mephitis", in Geburts-
fällen die „Carmenta" und
„Lucina" usw., denen man
dann vielfach Weihgaben in
Form von Nachbildungen der erkrankten Körperteile darbrachte.
Allerlei Beschvvörungs- und Zauberformeln ergänzten diese Maß-
nahmen.
Abb. 60. Exvoto (aus dem Thermen-Museum)
mit Darstellung der Eingeweide.
loo Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin.
Dabei trat ein nicht geringes Verständnis für allgemeine sanitäre
Einrichtungen bereits in ziemlich früher Zeit hervor. Denn die Zwölf-
tafel-Gesetzgebung (450 V. Chr.) verbot schon die Beerdigung und
Verbrennung von Toten innerhalb der Stadt. Die Anlage der „Cloaca
maxima" und der Wasserleitungen geht ebenfalls in alte Zeit zurück.
Eine „Lex Regia" untersagte die Beerdigung einer „Paritura"; und
die Fürsorge für den „Demens" und „Furiosus" war schon gesetzlich
Abb. 61. Abb. 62.
Abb. 61. Römisches Marmorvotiv (Vatikan-Sammlungen in Rom). Nach Holländer,
Plastik und Medizin.
Abb. 62. Eingeweide-Torso (Vatikanische Sammlung). Nach Holländer, Plastik und
Medizin.
geregelt. Trotzdem gab es bis in das 2. Jahrhundert v. Chr. hinein
bei den Römern weder eine richtige Heilkunde noch wirkliche
Aerzte.
Erst durch die Sklaven, welche sie aus ihren Kriegen mit heim-
brauchten, lernten sie die Segnungen einer bereits entwickelten Heil-
kunst kennen, namentlich durch Sklaven griechischer Abkunft. Und
wenn diese auch zumeist nicht einmal wirkliche Aerzte, sondern nur
Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin. loi
Vertreter des niederen Heilgewerbes (s, oben S. 51) waren, so wußten
sie doch durch ihre Leistungen sich bald ihren Herren derart un-
entbehrhch zu machen, daß jeder römische Bürger, der durch sein
Vermögen zur Haltung einer größeren Sklavenschar imstande war,
sich einen „servus medicus" zu verschaffen suchte. Infolgedessen
bildete sich in Rom das eigentümliche Verhältnis heraus, daß nur
eine Anzahl von Begüterten über wirkliche ärztliche Hilfe verfügte,
während die Allgemeinheit diese nach wie vor entbehren mußte.
Freilich mögen die „Arztsklaven" häufig von ihren Herren zur Hilfe-
leistung außerhalb der eigenen Familie verdungen worden sein, jeden-
falls aber war die Institution des „servus medicus" sowohl der Ent-
wicklung einer römischen Heilkunde als auch eines richtigen Aerzte-
standes mehr hinderlich als förderlich.
Um die Wende des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. scheinen zum
ersten Male freie Aerzte aus Griechenland den \'ersuch gemacht zu
haben, sich in Rom niederzulassen. Plinius schildert etwas anek-
dotenhaft, wie ein gewisser Archagathos (= Guter Anfang) im
Jahre 219 v. Chr. als erster griechischer Arzt nach Rom gekommen
und vom Volke zunächst mit Begeisterung aufgenommen worden
sei. Man habe ihm das Bürgerrecht verliehen und einen „Laden" am
,.conpitus Acilius" auf Staatskosten eingerichtet. Zum Dank für seine
Tüchtigkeit habe man ihm den Titel eines „Wundenheilers" beigelegt.
Bald aber habe er die Gesinnung der Römer durch sein grausames
Brennen und Operieren umgewandelt, so daß man ihn einen „Schinder"
genannt und nicht nur seiner selbst, sondern aller Aerzte überdrüssig
geworden sei.
Jedenfalls zeigt des Plinius Erzählung die Schwierigkeiten und
Vorurteile, mit denen die griechischen Aerzte in Rom zu kämpfen
hatten. Und diese Schwierigkeiten bestanden nach zwei Richtungen
hin: einmal hatte der im 2. Jahrhundert v. Chr. immer zunehmende
Einfluß griechischen Wesens und griechischer Bildung auf selten
nationalgesinnter Römer eine mächtige Gegenströmung hervorge-
rufen. Das zeigt das Auftreten von Leuten wie Cato dem Censor,
der in der nicht unbegründeten Furcht, daß unter dem weiteren
Eindringen griechischer Sitten die altrömische Einfachheit leide, und
daß namentlich durch die griechischen Aerzte die Verweichlichung
immer mehr gefördert werde, auf das heftigste und nicht ohne Er-
folg gegen die letzteren agitierte. Das zweite Hemmnis lag in der
unsicheren und niederen sozialen wie rechtlichen Stellung, welche
der PVemde im alten Rom genoß. So kam es, daß in Rom lange
Zeit weder die freien noch die Sklavenärzte sich selbst und ihrem
Berufe zur Anerkennung verhelfen konnten.
Erst allmählich erkämpften sich die Aerztesklaven eine freiere
I02 Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin.
Stellung. Manche von ihnen wurden von ihren Herren aus Dank-
barkeit freigelassen und genossen dann als „medici liberti" eine ge-
wisse Selbständigkeit, welche ihnen die freie Ausübung ihrer Kunst
ermöglichte. Die Zahl solcher Aerzte aus dem Freigelassenenstande
nahm sehr bald zu, so daß sich nach und nach die Grundlagen eines
ärztlichen Standes bildeten. Dazu kam noch, daß auch die Römer
selbst ihren grundsätzlichen Standpunkt gegenüber der Ausübung
des ärztlichen Berufes allmählich änderten. Die alte römische An-
schauung, daß jede Art von entgeltlicher Berufstätigkeit eines civis
Romanus unwürdig und ausschließlich den Sklaven und Fremden zu
überlassen sei, konnte sich auf die Dauer nicht behaupten. Man
kam vielmehr zu der Einsicht, daß die Ausübung gewisser, eine be-
sondere Fachkenntnis erfordernder Tätigkeiten, der sogenannten
„artes liberales" im Gegensatz zu den handwerksmäßigen „artes illibe-
rales" nichts Schimpfliches an sich habe. Zu jenen Berufen aber
rechnete man den des Medicus, unter dem man dann freilich nur
die auf Grund besonderer Vorkenntnisse tätigen Aerzte verstand im
fjregensatz zu den Pfuschern und mit Zauberei und ähnlichem arbei-
tenden Schwindlern. Indem man diese wirklichen Aerzte auch recht-
lich den übrigen Vertretern der freien Berufe — wie den Rhetoren,
Lehrern, Anwälten und Landmessern — gleichstellte, erkannte man
sie zum ersten Male als einen Berufsstand an.
Nachdem auf diese Weise das Ansehen der Aerzte und ihres
Berufes erheblich gestiegen war, wagten seit dem Beginn des i. Jahr-
hunderts v. Chr. auch wieder freie Aerzte griechischer Abkunft nach
Rom überzusiedeln, zumal mit der fortschreitenden Umwandlung
der einstigen Landstadt in eine Weltstadt auch das Bedürfnis nach
einer zureichenden ärztlichen Versorgung sich immer mehr fühlbar
machte. Trotzdem dauerte es noch etliche Jahrzehnte, bis auch von
Staats wegen zum ersten Male ärztliche Dinge geregelt wurden. Und
so bedeutet ein Erlaß Caesars vom Jahre 46 v. Chr. einen wirk-
lichen Markstein in der Geschichte der römischen Medizin. Denn
durch diesen Erlaß verlieh er allen freien Ausländern, die in Rom
ärztliche Praxis ausübten, das Bürgerrecht und damit die Möglich-
keit, ungestört wie jeder freie Römer seinen Beruf auszuüben. Zu-
gleich aber wurde dadurch auch für die Römer selbst, welche sich
der Medizin v/idmen wollten, eine bessere Gelegenheit zur Aus-
bildung geschaffen. Diese Gelegenheit wurde denn auch von immer
mehr römischen Bürgern ausgenutzt; und während noch im Beginn
des I . Jahrhunderts V. Chr. fast alle Aerzte Roms einen griechischen
Namen trugen, so finden wir in den letzten Jahrzehnten v. Chr. be-
reits eine ganze Reihe römischer darunter. Einen vorläufigen Ab-
schluß aber erhielt diese ganze Entwicklung durch AuGUSTUS,
Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin. 103
welcher seinem dem Freigelassenenstande angehörenden Leibarzt
Antonius Musa zum Dank für die ihm geleisteten Dienste den
Ritterrang und Steuerfreiheit verlieh und diese Vergünstigung auf
Abb. 63. Römischer Militänerbandplatz (Trajans-Säule).
und Medizin.
Nach Holländer, Plastik
alle Aerzte ausdehnte. Damit war mit einem Schlage ein wenigstens
nach außenhin einheitlicher Aerztestand zu Rom anerkannt.
Eine wesentliche Voraussetzung einer in jeder Hinsicht zweck-
mäßigen Ausübung des ärztlichen Berufes ist von jeher das Vor-
handensein von Krankenhäusern gewesen. Die griechische Zeit
I04 Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin.
hat dieser Anforderung — wie wir oben sahen — in doppelter
Weise Rechnung getragen: durch die Einrichtung der Jatreien und
3oneter
Abb. 64. Plan des Militärlazaretts von Novaeslum (nach C. Koenen) aus dem i. Jahr-
hundert n. Chr.
Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin. 105
durch Schaffung der Asklepieien, deren letztere freilich in erster
Linie als Unterrichtsanstalten gedacht waren. Diese Einrichtungen
sind von den Römern in den Gebieten, in denen sie bereits
N u
.s s
= 2;
es S
^ I
s i
= fä
io6 Heilkunde bei den Römern vor Einführung der griechischen Medizin.
bestanden, ohne weiteres übernommen worden und haben sich allmäh-
lich auch in Rom selbst durchgesetzt. Daneben aber hat sich noch
eine Art besonderer Krankenanstalten entwickelt, die den eigen-
tümlichen römischen Verhältnissen in eigener Weise entsprachen :
die sogenannten Valetudinarien. Sie verdanken ihre Entstehung
einem doppelten Bedürfnis, dem privaten einer gewissen Bevölke-
rungsgruppe und dem öffentlichen des Heeres. Auf den großen
Landgütern, die durch ganze Scharen von Sklaven bewirtschaftet
wurden, machte es sich für den Besitzer durchaus notwendig, für
seine kranken Angestellten, deren jeder ja als Eigentum seines Herrn
einen gewissen Wert vorstellte, möglichst günstige Bedingungen für
eine schnelle Gesundung und Wiedererlangung der Arbeitskraft her-
zustellen. So wurden denn in den letzten Jahrzehnten v. Chr. viel-
fach von den größeren Grundbesitzern Valetudinarien eingerichtet,
die teilweise einen großen Umfang gehabt haben müssen und wahr-
scheinlich nicht nur den Sklaven, sondern im Notfalle auch dem
Eigentümer, seiner Familie und schließlich auch anderen Personen
Unterkunft und ärztliche Behandlung gewährten. Sie blieben aber
in jedem Falle vollkommen private Unternehmungen und wurden
von einem oder mehreren „servi medici" versorgt.
Aehnlich lagen die Verhältnisse im Heere. In republikanischer
Zeit bestand die ganze Fürsorge für die verwundeten und kranken
Soldaten darin, daß man sie, sobald es anging, nach Rom oder einer
in der Nähe gelegenen größeten Stadt schaffte und dort bei Privat-
leuten in Pflege gab. War der Transport ausgeschlossen, so erfolgte
die Unterbringung in dem gleichen Zelt mit den gesunden Kame-
raden. Seit AUGUSTUS wurden zugleich mit der Regelung des
übrigen Militärwesens sowohl in den Feldlagern als auch in den
Standlagern besondere Unterkunftsräume geschaffen, die dann zu
wirklichen in sich abgeschlossenen Lazaretten — die man ebenfalls
Valetudinaria nannte — ausgestaltet wurden. In ihrer Anlage
lassen diese frühesten Militär-Valetudinarien, denen dann ein ganz
bestimmter Platz im Lager zugewiesen wurde, noch den Grundriß
des griechisch-römischen Privathauses deutlich erkennen.
Die Einführung der griechischen Medizin in Rom.
Mit den zahlreichen griechischen Aerzten waren natürhch auch
die verschiedenen Richtungen der griechischen Me-
dizin nach Rom gekommen. Ihnen allen stand als gemeinsamer
Feind die altrömische Volksmedizin gegenüber, wie sie sich
beispielsweise in dem Rezeptbuche Catos des Censors, verkörpert,
in welchem neben ganz vernünftigen Hausmitteln (Granatrinde gegen
Würmer, Wacholderbeerwein gegen Harnbeschwerden u. a.) der
Kohl als wahres Universal- und Beschwörungsformeln als wirk-
samstes Mittel bei Verrenkungen und ähnlichem im friedlichen Bei-
einander sich finden. Die Autorität eines Mannes wie Cato wird
nicht wenig dazu beigetragen haben, der griechischen Heilkunde
das Eindringen nach Rom zu erschweren. Dies um so mehr, als
seine Anschauungen der Ausdruck einer Neigung waren, welche dem
Römertum auch in späterer Zeit eigentümlich geblieben ist: der Neigung,
auch wissenschaftliche Dinge vorwiegend vom praktisch-nüchternen
Standpunkte zu betrachten und — umgekehrt — doch auch wieder
allen praktischen Dingen ein wissenschaftliches Mäntelchen umzu-
hängen. Alle diese Umstände erschwerten die Einbürgerung der grie-
chischen Medizin außerordentlich. Und diese vermochte erst dann auf
dem Boden Roms Wurzel zu schlagen, als sie in einer Form dargeboten
wurde, welche den besonderen Verhältnissen Rechnung trug. Das
geschah zum ersten Male durch den Bithynier ASKLEPIADES.
Die weitere Entwickelung der Heilkunde bei den Römern ist
auf das engste mit einer ärztlichen Schule verknüpft, als deren Vor-
läufer ASKLEPIADES betrachtet werden muß. Dieser Mann, der
etwa um 120 v. Chr. zu Prusa geboren worden war und sich zu-
nächst mit Rhetorik und Philosophie, darauf mit Medizin beschäf-
tigte, kam, dem Zuge seiner Zeit folgend, gegen 90 v. Chr. nach
Rom, wußte sich dort durch sein gewandtes Auftreten Zutritt zu
hochangesehenen Leuten, wie M. Antonius und Q. Mucius zu ver-
schaffen und verstand es überhaupt ganz vortrefflich, das römische
Publikum für sich zu gewinnen. Der Erfolg seines Auftretens be-
ruhte einmal darauf, daß er an Stelle der herkömmlichen Therapie
mit ihren mannigfaltigen Maßnahmen und reichlichen Medikamenten
eine möglichst einfache und „naturgemäße" Behandlung empfahl, die
in ihrer Sinnfälligkeit besonders der großen Menge einleuchten mußte,
sodann aber darauf, daß er dieser Behandlung eine theoretische Be-
io8 Die Einführung der griechischen Medizin in Rom.
gründung" gab, welche mit ihrer Anlehnung an die epikuräische
Philosophie bei dem gebildeten Römer Anklang fand.
Nach diesen Lehren sollte der menschliche Körper (ebenso wie
alle sonstigen Dinge in der Welt) aus den „Grundstoffen der Atome"
zusammengesetzt, und deren Beschaffenheit in erster Linie für alle
Lebenserscheinungen im gesunden wie im kranken Organismus aus-
schlaggebend sein. „Die die Hohlgänge des Körpers durchlaufenden
Säfte", namentlich auch das Blut, welches „Materie aus größeren
Körperchen" enthalte, spielen eine sekundäre Rolle, indem sie gleich-
sam nur Träger der Atome sind. Auch das Pneuma, in dem er
„einen aus allerkleinsten Körperchen zusammengesetzten vStoff" sieht,
wird von ihm als für die Lebensfunktion wichtig angesehen. Seine
Anschauungen sind demnach weder einseitig solidarpathologisch
noch humoralpathologisch, sondern versuchen die verschiedenen Prin-
zipien miteinander zu vereinigen. Das tritt vor allem deutlich in
seiner Krankheitslehre hervor.
Krankheit entsteht nach der Ansicht des Asklepiades zumeist
durch „Stockung der Körperchen". Zur Stockung aber kommt es
infolge ihrer Größe oder Form, oder ihrer Menge oder ihrer über-
mäßig schnellen Bewegung oder durch Knickung der Poren. Ent-
sprechend der Verschiedenheit der Gegend und der Poren entstehen
die verschiedenen Krankheitsformen. Aber nicht alle Leiden beruhen
auf Stockung der Körperchen. Manche, z. B. leichte fieberhafte
Krankheiten entstehen durch Störung der Säfte und des Pneumas.
Diese Störungen können nun den ganzen Körper betreffen oder nur
einzelne Teile. Bei seinen Versuchen, die örtlichen Krankheiten ge-
nauer zu lokalisieren, bediente sich Asklepiades der fortgeschrittenen
anatomischen Kenntnisse, von denen er sonst wenig Gebrauch machte.
So bringt er z. B. die Krämpfe der Epileptiker mit Veränderungen
in den Hirnhäuten in Verbindung- und verlegt die Pleuritis in das
Rippenfell (nicht in die Lunge), die Peripneumonie in die um die
Luftröhre liegenden Teile der Lunge usw.
Für seine Therapie stellte Asklepiades eine Reihe von Grund-
sätzen auf, denen er nicht zum geringsten Teile seine Erfolge beim
Publikum verdankte. Sein Motto „Tuto, celeriter, jucunde", seine
Forderung, der Arzt müsse für jeden Krankheitsfall zwei bis drei
Mittel erprobt und in Bereitschaft haben, seine Bevorzugung der
einfachen und „natürlichen" Hilfsmittel (wie Diät, Bewegung, Bäder,
Schwitzen, Wasserkuren usw.) trugen nicht wenig zu seiner Beliebt-
heit bei und gewannen ihm auch unter den Aerzten viele Anhänger.
Seine in schroffem Gegensatz zu fast allen Aerzten vor ihm stehende
Behauptung, die Natur sei nicht nur ohne Vernunft und Kunst, sondern
geradezu schädlich, brachte ihm den Ruf eines kühnen Neuerers ein.
Die Einführung der griechischen Medizin in Rom. 109
Im einzelnen war er bestrebt, seine Behandlungsmaßnahmen
möglichst seinen theoretischen Lehren anzupassen: die oberste Auf-
gabe war, die in Stockung geratenen Körperchen durch Erweiterung
der Poren wieder in Bewegung zu bringen; in den seltenen Fällen,,
in denen eine zu starke Bewegung bereits vorhanden sei — wie bei
dem durch heftige Schweißausbrüche gekennzeichneten „Morbus car-
diacus" — versuchte er umgekehrt die Poren zu verengern. Bei
besonderen Aufgaben wich er aber unbedenklich von seinen allge-
meinen Grundsätzen ab. Wenn etwa der leidende Teil durch seine
Lage sich einem unmittelbaren Eingriff entzog (wie bei Gehirn-
erkrankung), oder wenn der Sitz des Leidens ihm nicht klar war, so
suchte er durch „Ableitung der Krankheitsstoffe auf den Darm" oder
„durch Herausschaffung der verdorbenen Materie" zum Ziele zu se-
langen. Ueberhaupt merkt man bei genauerem Hinsehen deutlich, daß
ASKLEPIADES, SO sehr er auch bemüht ist, jede therapeutische Maßnahme
als unmittelbaren Ausfluß seiner Krankheitslehre erscheinen zu lassen,
in Wirklichkeit doch stets in erster Linie den praktischen Erfolg im
Auge hat und diesem dann erst eine theoretische Erklärung unterlegt.
Die Lieblingsmittel des Bithyniers waren die Reibung, der Wein,
das Wasser und die ..passive Bewegung". Ihre Anwendung hat er
bis ins einzelne ausgestaltet, wobei er immer bemüht war, sie jedem
vorliegenden Falle genau anzupassen. Die Reibung wurde bald
sanft, bald kräftig, bald trocken, bald feucht, bald am ganzen Körper,
bald nur teilweise vorgenommen. Die passive Bewegung bestand in
Fahrten auf Wagen oder im Schiff, in Bewegungen im Schwebe-
bette oder auf einem Tragstuhl u. a. m. Das Wasser wurde von
ihm mit Vorliebe in kaltem Zustande in Form von Voll- oder Teil-
bädern, von Regen- oder Schaukelbädern angewandt. Auch strenge
Diät bis zum völligen Fasten verordnete er gern; Medikamente da-
gegen nur ausnahmsweise.
Man hat den Asklepiades wegen des bewußten Eingehens auf
die Strömungen seiner Zeit vielfach als einen Charlatan hingestellt.
Aber tatsächlich besteht nicht der mindeste Grund für die Annahme,
daß er von der Richtigkeit seiner Lehren und der Wirksamkeit
seiner Anordnungen nicht völlig überzeugt war. Er war also viel-
mehr ein Neuerer, der unter geschickter Benutzung des Vorhandenen
sich den besonderen \'^erhältnissen, die er in Rom vorfand, auf das
vortrefflichste anzupassen verstand, und durch seine Ideen sowohl
wie durch sein Auftreten großen Einfluß auf den weiteren Gang der
Medizin ausgeübt hat. Von seinen Schülern ist der bedeutendste
Themison von Laodikeia.
Themison von Laodikeia) die Methodiker und die
römische Medizin-I^iteratur.
Dadurch, daß ASKLEPIADES sich und seine Lehren in Rom ein-
gebürgert hatte, war zwar der Boden für seine Schüler und An-
hänger in trefflicher Weise vorbereitet ; aber es war nur ein verhält-
nismäßig kleiner Kreis von Aerzten, die ihrem Lehrer zu folgen
vermochten. Denn dies erforderte eine besondere Veranlagung, über
welche nicht viele von ihnen verfügten. Der überwiegenden Mehr-
zahl der römischen Aerzte fehlte nach wie vor die Möglichkeit, sich
die zu ihrem Berufe erforderlichen Kenntnisse in bequemer Weise
zu verschaffen. Aus dieser Erkenntnis heraus unternahm es The-
mison, das eine originale Persönlichkeit erfordernde Heilsystem
seines Meisters Asklepiades in eine leicht begreifbare praktische
Heilmethode zu verwandeln, und gelangte zur Gründung einer
ärztlichen Schule, welche — da sie einen „einfachen Weg" ({xe^oSöc)
zur Krankenbehandlung als ihr Hauptziel ansah — sich selbst als
„Methodiker" bezeichnete. Eine Schule, welche, auf römischem Boden
erwachsen, mit römischem Geiste getränkt und auf römische Ver-
hältnisse zugeschnitten, während des ganzen Bestandes des Römer-
reiches bei weitem die einflußreichste aller ärztlichen Sekten war und
mehr Anhänger gezählt hat, als alle anderen.
Der Grundkern der Lehren Themisons ist nach Celsus fol-
gender: Die Kenntnis irgendeiner Ursache habe keinerlei Beziehungen
zu der Art der Behandlung; es genüge, gewisse allgemeine Er-
scheinungen ins Auge zu fassen. Von diesen gebe es aber drei
Arten: die einen seien der Zustand des Zusammengezogenseins, der
zweite der Zustand der Erschlaffung und der dritte der gemischte
Zustand. Denn bald schieden die Kranken zu wenig aus, bald zu
viel; bald an einem Körperteile zu wenig, an einem anderen aber zu
viel. Diese Arten Krankheiten aber verliefen bald akut, bald chro-
nisch, bald befänden sie sich im Stadium der Zunahme, bald des
Stillstandes, bald der Abnahme. Habe man also erkannt, welcher
von diesen Zuständen vorhanden sei, so müsse man, wenn der Körper
sich im Zustande der Zusammenziehung befände, die Zerteilung an-
regen; wenn er an übermäßigem „Fluß" litte, müsse man zusammen-
ziehend wirken. Wenn das Leiden in einem gemischten Zustande
Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische iNIedizin-Literatur. 1 1 1
bestehe, so müsse man zunächst dem heftigeren Uebel entgegen-
wirken. Außerdem müsse man akute Krankheiten anders behandeln
als veraltete, anders im Stadium der Zunahme, anders im Stadium
des Stillstandes und wieder anders, wenn bereits Neigung zur Heilung
bestehe. In der Beobachtung- dieser Dinge bestehe die Heilkunde.
Nach diesen programmatischen Sätzen hat für Themison die
Aetiologie keinerlei praktische Bedeutung; sie besitzt, wie uns aus
Bruchstücken seiner Schriften bekannt ist, für ihn nur theoretischen
Wert. Ferner legt er keinerlei Gewicht auf die Abgrenzung der
einzelnen Krankheitst}'pen voneinander. Er sucht vielmehr aus der
Vielheit der Symptome das Gemeinsame heraus und baut hierauf
dann seine „Grundformen der Krankheiten" auf. Diese sind: „der
Status strictus", d. h. der Zustand, bei dem sich die Körpergewebe
in einer abnorm vermehrten Spannung befinden, die Poren verengert,
die Ausscheidungen und Absonderungen angehalten sind. Sodann
der „Status laxus", dadurch ausgezeichnet, daß die Gewebsspannung
abnorm herabgesetzt ist, die Körperoberfläche aufgelockert, jede Art
sichtbarer Absonderungen vermehrt sind. Diese Grundformen des
Krankseins werden „Kommunitäten" genannt. Die Trennung der
akuten und chronischen Krankheiten geschah hauptsächlich unter
dem praktischen Gesichtspunkte, daß die ersteren in der Regel dem
Status strictus, die letzteren dem Status laxus zugewiesen wurden.
Bei einer Betrachtung der Krankheitsstadien mußte Themison folge-
richtigerweise das erste Stadium, in dem die krankhaften Verände-
rungen noch nicht sichtbar in die Erscheinung traten (das hippo-
kratische Stadium der „Apepsia"), unberücksichtigt lassen. Bei ihm
beginnt die eigentliche Krankheit gleich mit dem Stadium der Zu-
nahme, wo in steigender Weise die Symptome sich zeigen. Dann
kommt das Stadium des Stillstandes, das die Hippokratiker überhaupt
nicht annahmen, und dann des Abfalls. Hier macht sich der unter
dem Einfluß seines Lehrers stehende Gegensatz des THEMISON gegen
die älteren Lehren besonders deutlich bemerkbar. Denn während
bei den Hippokratikern das eigentliche Krankheitsbild mit dem
Augenblicke beendet ist. in dem durch die dem Körper innewohnende
„Physis" die krankmachende Schädigung überwunden wird (also mit
der „Krisis"), so beginnt bei Themison das Ende der Krankheit mit
dem Wirksamwerden der ärztiichen Maßnahmen.
Die Grundsätze seiner Behandlung sind entsprechend seiner
Krankheitslehre außerordentlich einfach: man hat in jedem Falle nur
die vorliegende „Kommunität" festzustellen. Besteht danach „Status
laxus", erkennbar an starken Schweißen, Durchfall, Vermehrung der
Harnsekretion, allgemeiner Erschlaffung u. ä., so arbeitet er diesem
Zustande durch entgegengesetzte Mittel entgegen. Bei „Status stric-
1 1 2 Themison von Laodikera, Methodiker u. römische Medizin-Literatur.
tus" mit seinen Symptomen von Verstopfung, Krämpfen, Benommen-
heit, Verhaltung des Urins, allgemeiner Spannung des Körpers u, ä.
sucht er „erschlaffend" zu wirken. Sind an verschiedenen Körper-
teilen beide Zustände zusammen vorhanden, so bekämpft er zunächst
die „vorherrschende Kommunität".
Die Einteilung der Krankheiten in einzelne Stadien hat zur
Folge, daß Themison je nach dem Vorherrschen der einen oder
anderen Symptome während des Krankheitsverlaufs auch die Therapie
wechselt. Durchbrochen wird dieser Grundsatz noch von einer sche-
matischen Einteilung in je drei Tage (sogenannte Diatritos). Auch
die scharfe Trennung der Behandlung der akuten und chronischen
Leiden geschieht nach einem reichlich starren Schema. Namentlich
bei den chronischen Krankheiten bleibt ausschließlich die Beachtung
des „Status laxus" maßgebend.
Aber, wenn man die Lehren des THEMISON als Ganzes be-
trachtet, so erscheinen sie mit ihrem doppelten Gesicht in vortreff-
lichster Weise den zeitlichen Verhältnissen angepaßt. Und, während
die Heilkunst des Asklepiades immer noch griechische Medizin auf
römischen Boden verpflanzt war, so darf man die methodische Schule
von Themison ab unbedenklich so weit als Vertreterin römischer
Sinnesart bezeichnen, daß man von da ab von römischer Medizin
sprechen kann.
Wie richtig dies ist und wie weit und tief der Einfluß der
Methodikerlehre ging, das zeigt sehr deutlich auch das in der ersten
Hälfte des i. Jahrhunderts n. Chr. entstandene Werk des Römers
Cornelius Celsus.
Dieser Mann, von dessen Leben man nichts weiter weiß, als daß
es in die Zeit unmittelbar nach Christi Geburt fällt, war, wie zweifel-
los feststeht, kein Arzt, sondern ein gebildeter Laie, Sein Werk, das
den Titel „De medicina libri octo" trägt, war ein Teil einer großen
Enzyklopädie, welche neben Rhetorik, Philosophie, Landwirtschaft
und Jurisprudenz auch Heilkunde behandelte. Daß Celsus zur Ab-
fassung des uns allein erhaltenen letztgenannten Werkes überhaupt
fähig war, erklärt sich nur so, daß er Gelegenheit hatte, seine durch
literarische Studien gewonnenen Kenntnisse durch eigene Beobach-
tungen zu ergänzen. Und diese Gelegenheit bestand ja für einen
Laien in der Tat in den oben erwähnten Valetudinarien. Denn die
in diesen untergebrachten Sklaven boten, da ihr Herr in jeder Hin-
sicht frei über sie verfügen konnte, ein denkbar bequemes Studien-
objekt. P'ür die Besitzer solcher Sklavenkrankenhäuser, freilich auch
wohl für wirkliche Aerzte, ist das Werk des Celsus wohl auch ge-
schrieben.
Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur. 113
In welchem Umfange nun Celsus auch immer auf einer oder
mehreren griechisch-alexandrinischen Quellen gefußt haben mag, so
ist doch in seinem ganzen Werke vor allem der Einfluß der metho-
dischen Schule sichtbar. Er bekämpfte sie zwar als solche ziemlich
energisch, steht aber trotzdem in mehr als einer Hinsicht ihr sehr
nahe: so geht auch er davon aus, daß die Medizin die Mitte zwischen
reiner Empirie und ausgesprochenem Dogmatismus halten müsse;
auch er stellt seine Lehren ganz auf den praktischen Endzweck der
Krankenbehandlung ein. Vor allem aber übernimmt er gerade
die wichtigsten und charakteristischsten Behandlungsweisen der
Methodiker.
Obgleich das Werk des Celsus in durchaus systematischer Weise
abgefaßt ist, so kann man doch keineswegs die Gesamtheit der darin
niedergelegten Anschauungen und Ratschläge als ein „System der
Medizin" ansprechen. Es lag zweifellos auch nicht im mindesten in
seiner Absicht, ein solches zu schaffen,
vielmehr kam es ihm nur auf eine Schaf-
fung eines praktisch verwendbaren Hand-
buches der Heilkunde an.
Er geht deshalb nach seiner Ein-
leitung gleich in medias res und gibt
im ersten Buche eine breit angelegte und
gut disponierte Diätetik. Zunächst Ver-
haltungsmaßregeln für Gesunde; sodann
folgen Angaben über den Einfluß der
verschiedenen Umstände auf die Gesund-
heit: des Beischlafes, der allgemeinen Abb. 66. Altrömisclier Schröpf-
Körperkonstitution, der Nahrung, des ^°P^-
Lebensalters usw. Dann kommt eine spe-
zielle Diätetik für einzelne Krankheitsformen. Das zweite Buch enthält
seine allgemein-pathologischen Anschauungen, seine Lehre von den
Krankheitszeichen und von den Prognosen, daneben auch die allge-
meinen Indikationen für verschiedene Behandlungsarten, sowie zum
Schluß Angaben über den Nährwert der einzelnen Nahrungsmittel und
ihren Einfluß auf gewisse Körpertätigkeiten. Die beiden folgenden
Bücher enthalten eine Pathologie und Therapie der einzelnen Krank-
heiten, und zwar zunächst der allgemeinen und dann der örtlichen.
Das fünfte Buch behandelt in seinen ersten fünfundzwanzig Kapiteln
die Pharmakologie, indem es die Mittel für die verschiedenen Leiden
nach ihrer Art, Wirkung, Zubereitung und Rezeptur anführt. Der
zweite Teil dieses Buches ist der Behandlung von Wunden, Ver-
giftungen u. ä. gewidmet. Das sechste Buch ist nochmals eine Patho-
logie und Therapie „a capite ad calcem", bei der den Augenkrank-
Meyer- Steine^ u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. 8
114 Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur.
heiten ein besonders breiter Raum zugemessen ist. Den bedeutendsten
Teil des ganzen Werkes bildet Buch sieben, das ausschließlich der
Abb. 67. Pompejanische chirurgische Instrumente. Von links nach rechts: Spatelsonde
und Sonde, Spritze (oben), Kanüle (unten), Löffelsonde, Behälter.
Chirurgie gewidmet ist und in seiner ganzen Anlage, der Anordnung
und Verteilung des Stoffes, der Behandlung der chirurgischen Grund-
Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur. 115
Sätze am meisten unseren heutigen Anforderungen entspricht, ja
sich stellenweise wie ein Stück einer modernen Chirurgie liest.
Abb. 68. Porapejanische chirurgische Instrumente. Von links nach rechts: 2 Wund-
haken, kleiner Löffel, Katheter, Kanüle, Raspatorium, geschlitzte Sonde, Kauter.
8*
ii6 Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur.
Buch acht schließlich beginnt mit einer Osteologie unter Betonung
der für den Chirurgen wichtigen Tatsachen und schließt mit der Be-
handlung der Brüche und Verrenkungen.
Abb. 68 a. Pompejanische chirurgische Instrumente. No. i Pinzette, 2 Schere, 3, 4 und
6 Zangen, 5 Pinzette mit Schieber, 7 Skarifikations-Instrument.
Alles in allem ist das Werk des Celsus, wie es uns heute vor-
liegt, ein groß angelegtes Kompendium der gesamten praktischen
Medizin, dessen Disposition zwar nicht immer ganz logisch ist, das
Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur. 117
aber alles nach der Auffassung und den Bedürfnissen der damaligen
Zeit Wissenswerte enthält.
War das Werk des Cei.sus ein Niederschlag des schulmedi-
zinischen Wissens und Könnens seiner Zeit, so zeigt sich in der
Abb. 69. Römische chirurgische Instrumente. Von links nach rechts: Sondenspatel,
Wundhaken, Zange, Zahnzange.
1 1 8 Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur.
übrigen ärztlichen Literatur der Römer deutlich der Einfluß volks-
medizinischer Tendenzen. Hierhin gehört vor allem die in der zweiten
Hälfte des i. Jahrhunderts n. Chr. entstandene „Naturalis historia"
n
Abb. 70. Römische chirurgische (Instrumente. Von links nach rechts: Wurzelzange,
kleine Zahnzange, 3 verschiedene chirurgische Messer, Wundhaken.
des Plinius, die einen vortrefflichen Ueberblick über die Mittel und
Anschauungen gibt, über die die damalige Volksmedizin verfügte.
Der Gegensatz gegenüber der wissenschaftlichen griechischen Me-
Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur. 119
dizin, die bei vielen Römern immer noch bestand, das laienhafte
Mißtrauen gegen die wirklichen Aerzte, und die Vorliebe für aUe
möglichen mystisch-abergläubischen Dinge, finden bei Plixius ihren
deutlichsten Ausdruck.
Diese Hinneigung zur Popularisierung der Heilkunst gibt auch
der übrigen medizinischen Literatur der Römer ihr Gepräge : so den
Schriften des VALGros RUFUS, NiGIDIUS FlGULUS, TULLIUS Bassus
u. a. m. Selbst das etwa 45 n. Chr. verfaßte Rezeptbuch des SCRI-
BONIUS Largus, eines fraglos über den Durchschnitt hervorragenden
Arztes, läßt mit seiner Einreihung zahlreicher wundergläubiger Volks-
mittel die Wirkung dieser Tendenz erkennen. Auf der anderen Seite
zeigt es aber auch unverkennbar den Einfluß der methodischen
Schule in einem so hohen ]Maße, daß man den SCRiBONros geradezu
als einen ihrer Anhänger bezeichnet hat.
Abb. 71. Römischer Instramentenkasten.
Die Entwicklung der methodischen Schule war nun keineswegs
mit Themison abgeschlossen. Sie ging vielmehr nach den zwei in
ihr liegenden Richtungen weiter. Die eine führte näher zu der dog-
matisch-wissenschaftlichen, die andere zu der empirischen Medizin
hin. Zu den Anhängern der letzteren gehörte vor allem Thessalos
von Tralles.
Seine hauptsächlichste Leistung bestand in einem weiteren Aus-
bau der THEMlsONschen Lehre nach der praktischen Seite. Aus
dem stark schematischen Begriff der „Kommunitäten" entwickelte
er den Begriff der „Indikationen". Und zwar verstand er unter
Hauptindikationen gewisse, bei den verschiedensten Krankheitsformen
\ orkommende, diesen also gemeinsame Symptome, aus denen sich
120 Themison von Laodikeia, Methodiker u. römische Medizin-Literatur.
bestimmte, für sämtliche Leiden allgemeingültige Behandlungsnormen
ableiten lassen, mit deren Aufstellung eine Grundlage für jede Einzel-
behandlung gewonnen wird, ohne diese jedoch völlig zu erschöpfen.
Vor allem stellte er solche Hauptindikationen für die beiden wich-
tigsten Gruppen der Krankheiten auf: die akuten und chronischen.
Bei den letzteren richtete er sein Augenmerk namentlich auf die
durch sie stets bedingte hochgradige Veränderung der ganzen Körper-
gewebe und entnahm daraus als wichtigste Indikation aller chro-
nischen Leiden die Notwendigkeit einer vollkommenen „Umstimmung"
des ganzen Organismus. Zu diesem Zwecke wandte er besondere
sogenannte metasynkritische (d. h. umstimmende) „Kuren" an, welche
vor allem eine kräftige Aufrüttelung des Körpers bezweckten und
neben einer Anregung seiner gesamten Funktionen gleichzeitig seine
Kräftigung im Auge hatten. In der Erkenntnis, daß neben der all-
gemeinen Behandlung auch eine den einzelnen Symptomen angepaßte
Therapie am Platze sei, schuf er neben den „Hauptindikationen"
noch eine ganze Reihe spezieller Indikationen und damit zweifellos
außerordentlich einfache Unterlagen für die praktische Kranken-
behandlung.
Der reale Sinn des Thessalos fand aber noch in einer anderen
Beziehung seinen Ausdruck. Da seiner Meinung nach zur Ausübung
des ärztlichen Berufes nur die Kenntnis bestimmter allgemeiner und
ziemlich engbegrenzter besonderer Krankheitszeichen sowie der ent-
sprechenden einigermaßen feststehenden therapeutischen Grundsätze
erforderlich war, so war damit jeder weitere theoretische Unter-
richt für den Arzt überflüssig; es genügten sechs Monate hierfür.
Die Hauptsache blieb die praktische Unterw^eisung am Kranken-
bette, die er mit zahlreichen Schülern ausgeführt zu haben scheint.
Auf einem grundsätzlich ganz anderen Standpunkte stand ein weiterer
Anhänger der methodischen Schule, gleichzeitig wohl ihr bedeutendster
Vertreter überhaupt: SORANOS von Ephesos.
Soranos von Kphesos.
Dieser Mann, der als Sohn des Mexaxdros und der Phoibe
geboren wurde und hauptsächlich in Alexandreia seine Ausbildung
erhielt, lebte unter Trajan und Hadrian in Rom. Er ging davon
aus, daß „die Lehre vom gesunden Körper mit Bezug auf das End-
ziel der Medizin ohne Nutzen sei"', hält aber doch eine Ausbildung
darin für notwendig, da sie „für die Wissenschaft zur Zierde gereiche".
Er führte deshalb in seinen Werken, von denen uns das „über
Frauenkrankheiten" im Urtext, das „über die akuten und chronischen
Krankheiten" in einer freien lateinischen Bearbeitung erhalten ist,
mit bewunderungswerter Konsequenz die Trennung von Theorie
und Praxis durch. Sein Hauptverdienst liegt auf den Gebieten der
Gynäkologie und Geburtshilfe.
Wenn auch andere Aerzte vor ihm — wie Demetrios von
Apameia. Claudios Philoxenos u. a. — sich mit diesen Teilen
der Medizin eingehend beschäftigt hatten, so war SORANOS doch
der erste, der sie unter Ausschaltung aller mystischen Anschauungen
und Maßnahmen und unter Beseitigung der mannigfachen rohen'
und gewalttätigen Eingriffe in klarer und rationeller Weise be-
arbeitet hat. Die von ihm dabei zu überwindenden Schwierigkeiten
waren groß. Sie bestanden hauptsächlich darin, daß, der Sitte jener
Zeit entsprechend, die Untersuchung der kranken oder gebärenden
Frau in der Regel durch Hebammen, nur selten durch den Arzt
selbst vorgenommen wurde.
Seine Beschreibung der normalen weiblichen Genitalien ist dem-
nach ziemlich mangelhaft, sie ist zum größten Teile auf die Be-
funde am Tier begründet. Sehr sorgfältig wird die Schwergeburt
behandelt: ihre Ursachen sieht SORANOS in dem Allgemein-
zustande der Mutter, sowie in Abnormitäten der Geschlechtsteile,
wobei auch dem verengerten Becken eine gewisse Aufmerksam-
keit geschenkt wird. Sodann in den unrichtigen Lagen des Kindes,
welche eingehend geschildert und nach ihrer Bedeutung für den
Geburtsakt gewürdigt werden. Bei der Untersuchung der Geni-
talien wird häufig das Spekulum (StoTCtpov) verwandt. Bei der
Geburt selbst bedient sich SORANOS des Gebärstuhles, eines be-
quemen, mit Rück- und Seitenlehne versehenen Art Sessels, dessen
122
SoRANOS von Ephesos.
Sitz vorn halbkreisförmig ausgeschnitten ist. Ueber die Stellung der
Hebammen und ihrer etwaigen Gehilfinnen, über die Lagerung der
Gebärenden in besonderen Fällen, über die sonstigen Vorbereitungen
zur Geburt, über deren einzelne Akte bis zur Entfernung der Nach-
geburt werden genaue Angaben gemacht. Bei abnormen Kinds-
lagen wird zunächst die Wendung durch kombinierte innere und
' t**A/tUt>ta ai'fki-tTAyf i^r>tj^Ar<V
I.-v-^o
Abb. 72. Kindslagen-Darstellungen aus einer Handschrift des Soranos von Ephesos.
äußere Handgriffe versucht. War keine Aussicht, ein lebendiges Kind
herauszubef ordern, so wurden zerstückelnde Operationen vorgenommen :
Exartikulation einzelner Glieder, Embryotomie oder Embryulcie, Ein-
griffe, zu denen ein ziemlich reichhaltiges Instrumentarium benutzt
wurde.
Der zweite Teil des ersten Buches behandelt in ausführlicher
Weise die Pflege des Kindes von der Geburt an bis über die
Entwöhnung hinaus und daran anschließend die Krankheiten der
SoRANos von Ephesos.
123
Abb. 73. Antikes Spekulum. («/^ nat GröBe.)
124
SoRANOS von Ephesos.
Säuglinge. Dabei werden gleichzeitig die wichtigsten Leitsätze über die
Auswahl und Lebensweise der Amme aufgestellt. Das zweite Buch
Abb. 74. Gynäkologisch-geburtshülfliche Instrumente. Von links nach rechts: Fragment
einer Kephalotryptor-Zange, Haken, Spülkatheter, Embryotom, Zange, Sichelmesser,
Kürette, Löffclspatel, Spatelsonde, Doppelsonde (Sammlung Prof. Meyer-Steineg).
SoRANOS von Ephesos. 125
behandelt im wesentlichen die Frauenkrankheiten : die Älenstruations-
störungen, die „H3"sterie", die Entzündungen des Uterus und der
Vulva, die Lageveränderungen, Geschwülste u. a. m. Die Krank-
heitsbilder sind zum größten Teil sehr anschaulich gezeichnet, die
einzelnen Symptomengruppen so scharf gegeneinander abgegrenzt,
daß man von Differentialdiagnosen sprechen kann. Im übrigen kommt
in jeder Hinsicht die Anhängerschaft des SORAXOS an die metho-
dische Schule zum Ausdruck, ganz besonders in der Behandlung.
Die Lehre von den Kommunitäten findet sich in der von Thes-
SALOS umgedeuteten Form, ebenso die Beachtung der einzelnen
Krankheitsstadien, die Gründung der Therapie auf Haupt- und Einzel-
indikationen.
Seine Zugehörigkeit zu der Schule der Methodiker tritt noch
deutlicher in dem zweiten der oben erwähnten Werke hervor. Seine
Stellung zur Anatomie und Physiologie entspricht auch hier den an-
gegebenen Grundsätzen. Seine Anschauungen über die Frage nach
den Krankheitsursachen ist eine vermittelnde : das Nachforschen nach
den „dunklen Ursachen", die sich der Kenntnis der Arztes entziehen,
hält er für überflüssig und schädlich. Er scheidet die „vorhergehen-
den" von den „fortwirkenden" Ursachen. Erstere sind die eigent-
liche Veranlassung des Erkrankens, z. B. äußere Einwirkungen ver-
schiedenster Art, Verdauungsstörungen, einseitige Ernährung, Ver-
giftungen, psychische Vorgänge und schließlich Ansteckung („con-
tagio"). Alle diese Ursachen haben aber nur theoretischen Wert,
weil sie, als in der Vergangenheit liegend, nicht mehr beeinfluß-
bar sind. Eine wichtige praktische Rolle spielen dagegen die
„fortwirkenden Ursachen". Zu ihnen gehören : die ganze Körper-
anlage des Kranken, sein Alter, Geschlecht, die Witterung, Jahres-
zeit u. a. m.
Die Krankheitstheorie des SORANOS steht auf einem deutlich
betonten solidar-pathologischen Standpunkte, d. h. die festen Teile
(solidae partes) sind für das Verhalten des Körpers ausschlaggebend.
Genauer gesagt, sind es die festen Gewebe, welche durch ihren Ein-
fluß auf die in den zwischen ihnen befindlichen Poren kreisenden
feinsten Teilchen Gesundheit und Krankheit bestimmen. Die im
Krankheitsfall auftretenden Erscheinungen werden nicht einzeln in
ihrer Mannigfaltigkeit verwertet, sondern nach Methodikerart unter
einige wenige, allen Krankheitsformen gemeinsame Grundzustände
— die sogenannten Kommunitäten — untergeordnet, atif denen die
Indikationen zur Behandlung in der oben (S. 1 19 f.) geschilderten Weise
aufgebaut werden. Die pathologische Anatomie nimmt bei SoRANOS
die gleiche Stellung ein wie die normale. Die zahlreichen Be-
merkungen darüber — z. B. Erklärung der Entzündungen durch
126 SoRANOS von Ephesos.
Eindringen der „Körperchen" des Blutes in die Wunden, der „Gra-
nulation" als Bildung jungen Narbengewebes aus den Venen, der
„Verhärtung" der Leber bei Wassersucht, der Hämorrhoiden der
Gebärmutter als Ursachen von Genitalblutungen u. a. m. — haben
für ihn nur wissenschaftlich-theoretische Bedeutung. Wichtiger ist
die von ihm betonte Tatsache, daß an demselben Organ verschiedene
Formen krankhafter Veränderungen vorkommen : z. B. an der Niere
die einfache entzündliche Schwellung, die Verhärtung, Vereiterung,
Geschwürbildung und „Fluß".
Die Lehre von den Krankheitszeichen kann geradezu als Glanz-
punkt des Werkes bezeichnet werden. Sie ist zwar nicht im Zu-
sammenhange behandelt, blickt aber aus jedem Kapitel deutlich her-
vor. Ein großer Fortschritt gegenüber allen früheren Aerzten liegt
in dem scharfen und konsequenten Trennen der eigentlichen „Krank-
heitszeichen", von den „Symptomen" der Krankheit. Unter den ersteren,
den „Signa passionis", versteht er die Aeußerungen des Krankseins,
welche, während des ganzen Verlaufes des Leidens vorhanden, der
Ausdruck der krankhaften Vorgänge sind und somit die Art der-
selben erkennen lassen. Die „Symptome" dagegen haben mit dem
Wesen der Krankheit eigentlich nichts zu tun, sie zeigen nicht an,
welche Krankheits a r t vorliegt, sondern lassen nur die Unterschiede
der einzelnen Krankheitsfälle erkennen. Sie sind deshalb unbe-
ständiger und mannigfaltiger als die „Zeichen". Beide Arten von
Krankheitserscheinungen fassen sowohl die subjektiven als auch die
objektiven in sich. Zu den ersteren, unter denen wir die dem Kranken
selbst zum Bewußtsein kommenden verstehen, gehören das allgemeine
Krankheitsgefühl, Mattigkeit, Hitzegefühl, Schwindel, Appetitlosig-
keit, Durst, Zittern u. a. m. Zu den letzteren, von dem Arzte selbst
festgestellten Erscheinungen gehören vor allem: das Aussehen des
Kranken, sein Gesichtsausdruck, Mienenspiel, die Haut- und Haar-
farbe, der Ernährungszustand, Veränderungen der Körperoberfläche,
Beschaffenheit der Ausscheidungen, des Pulses, der Atmung und
manches mehr.
Auf Grund dieser nicht nur theoretisch wohlerwogenen, sondern
auch praktisch gut durchgearbeiteten Symptomatologie gelangt
SoRANOS zu einer bis dahin von keinem Arzte erreichten Exakt-
heit in der Trennung der einzelnen Krankheitsbilder und erscheint
durch seine meisterhafte Abgrenzung nahe verwandter Leiden
geradezu als der erste Schöpfer einer brauchbaren Differential-
diagnostik.
In der Krankenuntersuchung geht SORANOS außerordentlich
systematisch vor: sie läßt klar eine wohldurchgebildete Dreiteilung
erkennen, wie sie in der hippokratischen Medizin bereits vorbildlich
SoRANOS von Ephesos. 127
angedeutet war. Die „Betrachtung" (inspectio) erstreckt sich auf
alles, was man überhaupt mit dem Auge wahrnehmen kann, auch
auf manche Dinge, die wir heute wenig mehr beachten. Die „Be-
tastung" (palpatio) wird in der gleichen Weise wie bei den Hippo-
kratikern angewandt, hauptsächlich zur Feststellung von Verände-
rungen in der Konsistenz der verschiedenen Teile, von abnormen
Widerständen (Geschwülsten oder Wurmknäueln im Darm) u. a. m.
Eine besondere Form ist eine einfache Art von Perkussion (con-
cussus palmae), die uns hier zum ersten Male entgegentritt : z. B. das
Beklopfen des Bauches zur Begrenzung des sogenannten „tympa-
nitischen Schalles" (resonus tympani) oder des „halbvollen Schlauches".
Auch die Beobachtung der Körpertemperatur gehört hierher. Mit
Hilfe der Behorchung werden die verschiedenen Geräusche im Leibe,
vor allem aber in der Brusthöhle, und zwar durch Anlegen des Ohrs
bemerkt: Geräusche im Magen „wie in einem halbvollen Schlauche",
„Kollern in den Därmen", „tönende oder knarrende Laute" bei Pleu-
ritis, „rauhes Zischen" bei Peripneumonie, Geräusche „wie von einer
eingeschlossenen Flüssigkeit" u. a. m.
Unter den speziellen Untersuchungsarten nimmt die Pulsbeob-
achtung eine hervorragende Stellung ein, welche gegenüber den
älteren Aerzten erheblich verfeinert erscheint. Unterscheidungen
nach dem Rhythmus, der Schnelligkeit, der Stärke, der Füllung
werden bis ins einzelne durchgeführt. Auch die Untersuchung des
Sputums und besonders des Urins ist weiter ausgebildet: abnorme
Beimengungen, wie Eiter, Blut, sandige Sedimente, fettartige
Substanzen werden genau geschildert und mit den Vorgängen
in den betreffenden Organen in Verbindung gebracht. Schließ-
lich erstreckt sich die Untersuchung noch auf das Nervensystem:
Lähmungen, Gefühllosigkeit werden durch besondere Einwir-
kungen (Bewegungen, Berühren mit verschiedenen Gegenständen)
geprüft.
Die Behandlung geschieht nach den durch Themison und
Thessalos angegebenen Grundsätzen der methodischen Schule.
Aber diese Grundsätze sind durch SORANOS in außerordentlich syste-
matischer Weise ausgebaut, lassen dabei dem Arzte doch für den
einzelnen Fall hinreichenden Spielraum. Die Unterlage bilden die
„allgemeinen Behandlungsnormen" (regula generalis), welche den
Hauptindikationen entnommen werden. Dabei aber läßt er einen
breiten Raum für spezielle Indikationen, welche bei ihm durchweg
eine symptomatische Behandlung begründen. Schließlich tritt in
Fällen, in denen die örtlichen Symptome einen besonderen Eingriff
verlangen — wie bei den Geschwülsten u. ä. — eine maßvolle Lokal-
therapie unterstützend hinzu.
128 ' SORANOS von Ephesos.
Mit SoRANüS ist somit wieder einmel ein Höhepunkt der Medizin
erreicht. Abgesehen von seinen zahlreichen Anhängern unter Aerzten
und Laien mußten dies sogar die schärfsten Gegner und Bekämpfer
der methodischen Schule zugeben und dieser damit den Platz und
die Bedeutung zugestehen, welche sie dank ihrer Fähigkeit, durch
geschickte Anpassung an die Forderungen der Zeit zwischen der
römischen Volksmedizin und der griechischen Heil Wissenschaft zu
vermitteln, sich zu erobern vermochte.
Die pneumatische Schule und die Chirurgie.
Daß eine ärztliche Sekte, welche sich eines derartigen Erfolges
zu erfreuen hatte, nicht unangefochten blieb, lag in der Natur der
Sache. Namentlich mußte sie den Anhängern des streng wissen-
schaftlichen Prinzips, das seit dem Einfluß Roms stark zurückgedrängt
war, ein Dorn im Auge sein. Und so fehlte es nicht an Versuchen,
dem Methodismus den Rang streitig zu machen. Die Aerzte, welche
dieses Ziel verfolgten, machten sich dabei die Erfahrungen ihrer
Gegner zunutze. So kam auch der bedeutendste dieser Leute,
Athen Aios aus Attaleia, welcher unter Claudius, also um die
Mitte des i. Jahrhunderts n. Chr., in Rom seinen Beruf ausübte,
trotz seines wissenschaftlichen Standpunktes bewußt den Forderungen
des römischen Volkes entgegen. Ausgehend von der Behauptung,
daß die Kenntnis der Heilkunde für keinen Menschen zu entbehren
sei, verfaßte er seine Schriften in einer gemeinverständlichen Weise,
welche es jedem Gebildeten möglich machte, sich die gewünschten
Kenntnisse in der Heilkunde anzueignen. Um aber auch dem theo-
retischen System der Methodiker etwas mindestens Gleichwertiges
gegenüberzustellen, versuchte er an die Stelle des auf römischem
Boden niemals eingewurzelten Dogmatismus eine neue Lehre zu
setzen : den Pneumatismus, d. h. die Anschauung, daß alle Vorgänge
im Organismus im letzten Sinne von der Beschaffenheit und Ver-
teilung der Lebensluft (Pneuma) abhängig seien. In Wirklichkeit
war dieses Theorem indessen nur das Aushängeschild für einen
wohlüberlegten Eklektizismus, welcher aus den verschiedenen Lehr-
systemen das Brauchbare heraussuchte, um damit ein neues System
zu schaffen. Und so waren die Anhänger des Athenaios, wenn
sie sich auch „Pneumatiker" nannten, tatsächlich Eklektiker im
wahren Sinne des Wortes. Sie bedienten sich des pneumatischen
Prinzips nur in der Form eines locker zusammenhaltenden Bandes.
Der Gegensatz der Pneumatiker zu den MetlÄdikern machte
sich schon in der Einteilung der Medizin geltend, wie sie sich bei
Athenaios findet: die Voranstellung der Physiologie, welcher Patho-
logie, Diätetik, Materia medica und Therapie folgen, läßt ohne weiteres
die wenigstens äußerliche Betonung der wissenschaftlichen Tendenz
erkennen. Die Physiologie trägt unverkennbar den Stempel der
dynamisch -materialistischen Philosophie der Stoiker. Die Grund-
bestandteile des Körpers sind „das Warme, das Kalte, das Trockene
Meyer-Steineg u Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. 9
i^o Die pneumatische Schule und die Chirurgie.
und das Feuchte", welche als Stoffe gedacht sind und die einzelnen
Teile des Organismus aufbauen. Das eigentlich lebengebende Prinzip
aber ist das Pneuma, das dem Körper von Geburt an innewohnt,
durch die Atmung immer von neuem ergänzt wird, auf dem Wege
der Adern überall zirkuliert und in den verschiedenen Teilen des
Körpers die verschiedenen Funktionen versieht. Also eine theore-
tisch-spekulative Lehre, mit der in der Praxis nicht viel anzufangen
war, die aber den Anhängern der stoischen Philosophie ohne weiteres
einleuchten mußte. Das geiche gilt von der Krankheitslehre, bei
der das Pneuma ebenfalls eine wichtige Rolle spielte.
In der praktischen Krankenbehandlung treten die eigentlichen
Lehren der Pneumatiker kaum in die Erscheinung, es macht sich
vielmehr deutlich das Bestreben geltend, die erfolgreichen Grund-
sätze der methodischen Schule sich zu eigen zu machen. Das ist
bereits bei Athenaios selbst ersichtlich, weit mehr aber noch bei
seinen Nachfolgern, die sich deshalb zu einem Teil gar nicht als
„Pneumatiker", sondern ganz unumwunden als Eklektiker bekannten.
Unter ihnen nahm der unmittelbare Schüler des Schulbegründers,
Agathinos aus Lakedaimon, den ersten Platz ein, welcher in
seiner Therapie ein ganz offener Anhänger der Methodiker war.
Noch weiter ging sein gegen Ende des i. Jahrhunderts n. Chr.
lebender Schüler Herodotos, der ganz im Sinne der letzterwähnten
Schule die „naturgemäßen Behandlungsmethoden", und Archigenes
(unter Trajan), der die Pulslehre weiter ausbaute.
Auffallend ist das Interesse, welches in dieser Zeit der Chirurgie
zugewandt wurde. Neben dem bereits erwähnten ARCHIGENES
haben eine ganze Reihe gerade der bedeutenderen Aerzte des i. und
beginnenden 2. Jahrhunderts sich ganz besonders auf diesem Gebiete
betätigt. Er selbst ist vielleicht der erste gewesen, der die Ampu-
tation größerer Glieder in sachgemäßer Weise ausgeführt hat und
sich dabei der Gefäßligatur und Umstechung bedient hat. Vielleicht
boten ihm den äußeren Anlaß hierzu die Erfahrungen, welche er
als Militärarzt zu machen in der Lage war. Seine Methode wurde
dann noch verbessert durch Leonides aus Alexandreia (Ende
des I.Jahrhunderts), der den Lappenschnitt einführte und auch sonst
der Chirurgie manche Bereicherung brachte. Auch Heliodoros,
einem Zeitgenossen des Archigenes, verdankt die Chirurgie, be-
sonders diejenige des Schädels und die Verbandlehre, manche Förderung.
Der hervorragendste aber unter den Chirurgen dieser Zeit,
wenn nicht des Altertums überhaupt, ist fraglos Antyli.oS, über
dessen Leben wir freilich nur wissen, daß es in die erste Hälfte
Die pneumatische Schule und die Chirurgie. 131
des 2. Jahrhunderts fällt. Abgesehen von den anderen Teilen der
Medizin — in denen er theoretisch als Anhänger der pneumatischen
Schule, praktisch aber durchaus als Eklektiker erscheint — liegen
seine Hauptleistungen auf dem Gebiete der operativen Chirurgie. Er
hat die Indikationsstellung zu den einzelnen Eingriffen verfeinert,
eine ganze Reihe bereits bekannter Methoden verbessert und neue
dazu eingeführt. Fortschritte gegen seine Vorgänger hat er nament-
lich in den sogenannten „plastischen Operationen" aufzuweisen. Seine
Schilderungen über den Ersatz verstümmelter Augenlider, Nasen,
Ohren usw. sind vortrefflich. Sein Hauptruhm beruht aber auf der
von ihm zum ersten Male angegebenen Aneur)'smen-Operation und
der Starausziehung. Bei der ersteren gibt er eine genauere Defi-
nition des Leidens, eine sorgfältige Indikation und eine bei aller
Knappheit doch außerordentlich klare Beschreibung des Eingriffes
selbst, bei dem das Wichtigste die doppelte Unterbindung des Blut-
sackes ist. Seine Neuerung bei der Staroperation bestand darin, daß
er sich nicht mit der vor ihm geübten Herabsenkung der Kristall-
linse in den Glaskörper begnügte, sondern dieselbe durch Schnitt
aus dem Auge entfernte.
Ein derartiger Aufschwung der Chirurgie ist nun kaum vor-
stellbar ohne Erfüllung zweier Erfordernisse: der Asepsis und der
Narkose. Zwar finden wir nirgends besondere Angaben über asep-
tische Maßnahmen ; aber nach dem, was uns aus der hippokratischen
Chirurgie bekannt ist, dürfen wir annehmen, daß nach wie vor die
peinlichste Sauberkeit des Operateurs, seiner Gehilfen, Reinigung
des Operationsgebiets und der Instrumente die Grundforderungen
geblieben sind, welche ein jeder Chirurg in erster Linie zu berück-
sichtigen hatte. Die erstere war notwendig, wenn nicht jeder Erfolg
auch der bestausgeführten Operation durch nachherige Wundeiterung
zunichte gemacht werden sollte. — Bis zu einem gewissen Grade
läßt dies auch das chirurgische Instrumentarium erkennen. Wenn
dasselbe auch seit der altgriechischen Zeit erheblich reichhaltiger
geworden war, und das alte Prinzip, mit möglichst wenigen Instru-
menten möglichst viele verschiedene Eingriffe auszuführen, sich fast
in sein Gegenteil gewandelt hatte, so entsprachen die einzelnen
Werkzeuge doch in ihrer meist aus einem Stück Metall gearbeiteten
schlichten Form den Erfordernissen der Reinlichkeit auf das beste.
Auch die zweite Voraussetzung war gegeben: die Chirurgen der
nachchristlichen Zeit kannten die Narkose. Und zwar bedienten sie
sich dazu meist eines eine allgemeine Anästhesie erzeugenden Trankes
aus der Alraunwurzel (Mandragoras), deren wirksame Substanz dem
heute zu dem gleichen Zwecke verwandten Scopolamin nahe ver-
wandt ist.
9*
Die Eklektiker.
War schon bei den zuletzt erwähnten Aerzten der Zusammen-
hang mit den Pneumatikern nur ein ganz lockerer, so entfernten
sich in der Folgezeit die bedeutenderen Vertreter der Heilkunde
immer mehr von dem Boden der einzelnen Schulen. Weit erhaben
über die Zänkereien der einzelnen Sekten und über die Einseitigkeit
einer jeden von ihnen, versuchten sie teils bestimmte Einzelgebiete
der Medizin durch besondere Bearbeitung über den bisherigen Stand
hinauszuheben oder unter kritischer Verwertung der gesamten Kennt-
nisse und Leistungen eine breitere und sichere Grundlage der Me-
dizin herzustellen. Unter den Aerzten, die den ersteren Weg ein-
schlugen, nimmt bei weitem den hervorragendsten Platz Pedanios
DIOSKURIDES aus Anazarbas in Kilikien ein, der ein Zeitgenosse
des SCRIBONIUS und Plinius war, unter Nero und Vespasian auf
weiten Reisen pharmakologische Studien gemacht hatte und seine
Beobachtungen und Erfahrungen in einem „irspi oXy]? laTpar/?" be-
nannten Werke niederlegte; ein Werk, das für das ganze Gebiet
der Arzneimittellehre für Jahrhunderte geradezu grundlegend ge-
blieben ist.
Unter der zweiten Aerztegruppe dagegen, die der eklektischen
Richtung huldigten, ragen drei Männer hervor: Aretaios aus
Kappadokien, Rhuphos ausEphesos und Galenos aus Per-
gamos. Die Lebenszeit des ersten von ihnen ist unbestimmt, wahr-
scheinlich aber in den Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. zu setzen.
Seine uns erhaltenen beiden Bücher: „Ueber die Ursachen und
Zeichen der akuten und chronischen Krankheiten" und „Ueber die
Behandlung der akuten und chronischen Krankheiten" bilden ein
Gegenstück zu dem denselben Gegenstand behandelnden Werke des
SORANOS (s. oben S. 121), mit dem einen Unterschiede, daß Aretaios
der Trennung der theoretischen Teile (Aetiologie, Symptomatologie)
von den praktischen (Therapie) auch äußerlich durch Verteilung auf
zwei Bücher Ausdruck gibt. Im übrigen bedeutet die ganze Auf-
fassung, wie sie sich in seinen Schriften widerspiegelt, mit ihrer Be-
tonung einer nüchternen Beobachtung am Krankenbette und einer
daraus abgeleiteten, vorzugsweise mit einfachen diätetischen und
anderen „natürlichen" Mitteln arbeitenden Therapie, einen Schritt
Die Eklektiker. 133
zurück zur hippokratischen Medizin, mit welcher sie daneben auch
gewisse theoretische Lehren verbinden. Auch Aretaios nimmt
eine dem Körper innewohnende „natürliche Kraft" (^öat?) an, verlegt
den Sitz der „eingepflanzten Wärme" in das Herz und weist dem
Pneuma wichtige Funktionen zu. Daneben kommt aber auch —
nach methodischem Vorbild — dem Spannungsstand der Gewebe
eine gewisse Bedeutung zu. In seiner Krankheitslehre berücksichtigt
er diese drei Komponenten in gleicher Weise. Seine Krankheits-
beschreibungen sind zum großen Teile meisterhaft; manche finden
sich bei ihm zum ersten Male deutlich gezeichnet, z. B. die Harn-
ruhr, die Diphtherie u. a. Auch die Diagnostik entspricht hohen
Anforderungen, sie enthält alle von früheren Aerzten angewandten
Methoden (vgl. oben S. 126 f.). Sogar eine sonst nirgends erwähnte
Auskultation der Herzgeräusche wird von ihm angedeutet. Seine
Therapie beruht, indem sie sich von allen theoretischen Vorstellungen
fernzuhalten sucht, ausschließlich auf der Erfahrung. Genaue Rege-
lung der Diät. Stoffwechselkuren, Körperbewegungen und Uebungen,
Bäder, Massagen und ähnliches nehmen den wichtigsten Platz ein.
Sein Arzneischatz ist wenig reichhaltig, aber sorgfältig ausgewählt.
Die Bedeutung des zweiten der erwähnten Eklektiker, des
Rhuphos von Ephesos, der unter Trajan lebte, liegt zu einem Teil
gleichfalls in der Art seiner Krankenbeobachtung, zum größeren
Teile aber in seinen Bestrebungen, die Anatomie enger mit der
übrigen Medizin zu verbinden. In dieser Hinsicht war er einer der
letzten Ausläufer der Schule von Alexandreia, wo er auch zu Studien-
zwecken längere Zeit geweilt hat. Unter seinen Werken nimmt das
„über die Benennung der menschlichen Körperteile" einen Haupt-
platz ein. Er wirft ein Licht auf die anatomische Forschung der
nachchristlichen Zeit und zeigt, daß die Sektion menschlicher Leichen
allmählich wieder zu einer großen Seltenheit geworden war, so daß
die Aerzte sich wieder gezwungen sahen, ihre Kenntnisse über die
Struktur des Menschenkörpers auf Analogien mit bestimmten Tieren
aufzubauen. Wenn man diese Tatsache in Rechnung zieht, so weist
das anatomische Wissen des Rhuphos eine Reihe erheblicher Fort-
schritte auf: die erste Beschreibung der Sehnervenkreuzung und der
Linsenkapsel stammt von ihm. Seine Betrachtung des Nervensystems
als gleichsam des Bindeglieds zwischen den verschiedenen Funktionen
des Organismus zeugt von einem weiten Blick. Auch in seinen
pathologischen Anschauungen findet sich mancher originelle Ge-
danke, und die Tatsache, daß er Monographien über einzelne Krank-
heiten verfaßt hat (wie über die Gicht, die Nieren- und Blasenleiden
u. a.) beweist, daß er danach trachtete, über die allgemeine Krank-
heitslehre hinaus zu gelangen. Seinem hervorragenden Wissen scheint
134 ^^^ Eklektiker.
auch ein bedeutendes Können entsprochen zu haben ; das zeigen die
außerordenthch rationellen Behandlungsarten, die er bei den ver-
schiedenen Leiden einschlägt: sein Blutstillungsverfahren durch
Fingerdruck, Druckverband, Kälte, Torsion, Unterbindung und ad-
stringierende Mittel, seine Therapie der Blasen- und Nierenleiden
u. a. m.
Ragen nun schon Aretaios und Rhuphos hoch über die anderen
zeitgenössischen Aerzte hervor, so werden sie doch an Bedeutung
weit überstrahlt von dem dritten der drei Eklektiker, Galenos.
Galenos.
Mit Galen kommt ein Kampf zum vorläufigen Abschluß, der,
zum ersten Male in dem Gegensatz der Schulen von Kos und Knidos
deutlich hervortretend, sich, bald bewußt, bald mehr unbeuaißt, durch
die ganze Entwicklung der Medizin hindurchzieht: der Kampf
zwischen den beiden grundsätzlichen Auffassungen der Heilkunde
als Wissenschaft oder als Kunst. Hatten in der hippokratischen
Epoche alle Umstände, namentlich die äußeren Verhältnisse der
Aerzte, stärker zu der letzteren Auffassung hingedrängt, so fand
Galen zum ersten Male alle Bedingungen vor, welche die Begrün-
dung einer medizinischen Wissenschaft erforderte: die alexandrinische
Medizin hatte für die naturwissenschaftlichen Grundlegungen der
Heilkunde bis dahin ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, die Anatomie
und Physiologie waren auf eine unendlich höhere Stufe gehoben
worden, die Krankheitslehre hatte durch den Wettbewerb der ver-
schiedensten Schulen außerordenthche Anregung erhalten und die
sie behindernde Einseitigkeit abgestreift, die Behandlung hatte sich
durch mannigfaltige Erfahrungen bereichert und durch Weiterbildung
der alten Grundsätze verbreitert, die einzelnen Gebiete der Medizin,
wie Pharmakologie, Chirurgie, Geburtshilfe u. a. m. waren durch das
ihnen von vielen Aerzten gewidmete besondere Interesse gewaltig
gefördert worden; kurzum es drängte alles dahin, den ganzen Er-
fahrungs- und Denkstoff zu einem einheitiichen Ganzen zusammen-
zubauen, zu einem wissenschaftlichen System der Heilkunde, in dem
die Theorie die unmittelbare Grundlage der Praxis zu bilden habe.
Nur ein Mann, der das gesamte Wissen und Können beherrschte
und die Kraft und Fähigkeit besaß, selbstschöpferisch daraus etwas
Neues zu schaffen, das alle bisherigen Schulmeinungen in sich be-
griff und damit gleichzeitig überflüssig machte — nur ein solcher
Mann vermochte die ungeheure Aufgabe zu lösen. Und diese Eigen-
schaften besaß Galenos wie keiner vor und nur wenige nach ihm.
Er wurde im Jahre 130 n. Chr. zu Pergamos geboren. Sein
Vater, der angesehene Architekt NiKON, ein in mathematisch-natur-
wissenschafüichen sowie in allgemein-philosophischen Dingen wohl-
unterrichteter Mann, ließ ihn von seinem 14. Lebensjahre ab in die
\erschiedenen philosophischen Systeme einführen, für die Galexos
1 36 ' Galenos.
schon in diesem jugendlichen Alter großes Interesse und eine aus-
gesprochene Begabung zeigte. Mit 17 Jahren wandte er sich dann
— angeblich auf Grund eines Traumes seines Vaters, den dieser als
göttliche Eingebung des auch zu Pergamos verehrten Asklepios
auslegte — der Heilkunde zu. Er wurde dann in seiner Vaterstadt,
die durch das als Kultstätte von vielen Kranken besuchte Asklepieion
vielerlei Gelegenheit zu medizinischen Studien bot, Schüler verschie-
dener Aerzte mannigfaltigster Richtung, Nach seines Vaters Tode
begab er sich auf Reisen, hörte bei dem Anatomen Pelops zu
Smyrna, bei NUMISIANOS in Korinth vor allem Anatomie. Um sich
auf diesem Gebiete weiter zu vervollkommnen, ging er dann nach
Alexandreia, wo er zugleich auch in den übrigen Fächern der Me-
dizin sich weiterbildete und seine schriftstellerische Tätigkeit, die er
bereits mit zwanzig Jahren begonnen hatte, fortsetzte. Nach neun-
jähriger Abwesenheit folgte er dann einem Rufe als Gladiatorenarzt
in seine Vaterstadt und versah dieses angesehene Amt 4 Jahre hin-
durch. Er benutzte dabei jede Gelegenheit zu anatomisch-physio-
logischen Studien und zu Beobachtungen über den Einfluß der
Lebensweise auf den Körperzustand. Dann zog es auch ihn, wie so
viele Aerzte, nach Rom. Dort gelang es ihm schon nach kurzer
Zeit, Beziehungen zu einer ganzen Reihe angesehener und bedeuten-
der Männer anzuknüpfen: wie dem Konsular Boethus, den Philo-
sophen EuDEMOS und Alexander Damascenus, dem Oheim des
Kaisers Lucius Verus, mit Civica Barbarus u. a. m., Beziehungen,
welche ihm in jeder Hinsicht förderlich waren. Denn es gelang ihm
durch sie auf der einen Seite, seinen Ideen in den einflußreichsten
Kreisen der Hauptstadt Eingang zu verschaffen, auf der anderen
Seite brachten sie ihn bereits nach kurzer Zeit in die „Praxis aurea"
hinein. Freilich trat hierbei auch eine Seite seines Charakters her-
vor, die, seiner eigenen Schilderung nach von der Mutter vererbt,
einen der weniger erfreulichen Wesenszüge bei ihm bildet: seine
Neigung zu Zank und Streit sowie eine gewisse großsprecherische
Ueberhebung. Zwar sagt er selbst einmal von sich, er habe seit
frühester Jugend auf das Fanatischste den Ruhm bei der Menge
verachtet. Nichtsdestoweniger ist sein ganzes Streben in Rom darauf
gerichtet, durch öffentliche Vorlesungen, in denen er vor einem ge-
ladenen Zuschauerkreis Tierzergliederungen und vivisektorische Ex-
perimente abhielt, seinen Namen in allei Leute Mund zu bringen.
Geschah dies wohl auch nicht nur in der Absicht, daraus materielle
Vorteile durch Gewinnung von Patienten zu ziehen, so erregte doch
die hochfahrende Art, mit der er seine Gegner abfertigte, eine tief-
gehende Mißstimmung unter den übrigen römischen Aerzten, die
sich in heftigen Angriffen gegen ihn kundgab. Namentlich zog er
Galenos. 137
sich die erbitterte Feindschaft einiger angesehener Anhänger der
methodischen Schule zu. Trotz seiner glänzenden äußeren Erfolge
sah sich daher Galenos schon nach 4 Jahren gezwungen, Rom
wieder zu verlassen. Inwieweit auf seinen Entschluß die im Jahre
166 n. Chr. dort ausbrechende sogenannte „Pest des Antonin" mit-
gewirkt hat, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Jedenfalls ist es auf-
fallend, daß er. der doch sonst keine Gelegenheit zur Erweiterung
seiner Kenntnisse ungenutzt ließ, in diesem Falle vor der Epidemie
floh. Auf der Rückreise in seine Heimat, die ihn unter anderem
über Campanien, Cypern, Palästina führte, erweiterte er seine medi-
zinischen Kenntnisse in verschiedener Hinsicht. Kaum in Pergamos
angekommen, wurde er dann durch die Kaiser Verus und ^Marc
AUREL nach Aquileia berufen, wo er im Winter 168 eintraf. Den
vor der wiederauftretenden Seuche flüchtenden Kaisern, von denen
der erstere von ihr fortgerafft wurde, folgte er nach Rom, lehnte
aber die Aufforderung, den Markomannenfeldzug mitzumachen, ab,
und ließ sich stattdessen durch den Kaiser dem jungen COMMODUS
als ärztlicher Berater zuteilen. Nach Marc Aurels Rückkehr wurde
er dessen Leibarzt. Ob er die gleiche Stellung auch bei den späteren
Kaisern bekleidet hat, steht nicht fest, doch scheint er nach seinen
eigenen Angaben dauernd in Beziehungen zum Hofe gestanden zu
haben. Seine praktische Tätigkeit ist von dieser Zeit ab gegenüber
der schriftstellerisch-wissenschaftlichen mehr in den Hintergrund ge-
treten; doch erfreute sich Gat.enos schon zu seinen Lebzeiten eines
hohen Ansehens. Im Jahre 201 n. Chr. ist er dann in Rom oder
vielleicht auch in seiner Vaterstadt gestorben.
Das ungeheuer umfangreiche Schrifttum Galexs — er hat fast
vierhundert verschiedene Schriften verfaßt — legt Zeugnis ab von
einer ungewöhnlichen Belesenheit, einem nie versagenden Gedächtnis,
einer vollkommenen Beherrschung des gesamten Stoffes, einem klaren,
kritischen Verstände und einer außerordentlichen Fähigkeit, fremdes
Gut mit eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zu verarbeiten.
Auf der anderen Seite verraten sich in seinen Schriften auf Schritt
und Tritt eine maßlose Eitelkeit, Ueberschätzung eigener und Unter-
schätzung fremder Leistungen, eine starke Neigung zu geschwätziger
Ausführlichkeit, kurz alle die Schattenseiten, die auch sonst in seinem
Wesen hervortreten. Seine Hauptwerke sind: die „anatomischen
Untersuchungen", sein Buch über den „Gebrauch der Körperteile",
die „Lehrmeinungen des Hippokrates und Piaton", die „Heilmethode",
über „die kranken Körperteile", über „die Zusammensetzung der
Arzneimittel", „Hygiene" u. a. m.
Das Streben Galexs war darauf gerichtet, eine folgerichdge
Verbindung zwischen den einzelnen Teilen der Medizin herzustellen.
138 ' Galenos.
derart, daß diejenigen Fächer, welche der praktischen Aufgabe der
Krankenbehandlung dienen, unmittelbar sich auf den Fächern auf-
bauen sollten, welche über Wesen und Ursachen des Krankseins
Aufschluß geben. Diese letzteren wiederum sollten ihre Grundlage
in der Kenntnis des gesunden Organismus finden. Den Ausgangs-
punkt des Ganzen bildet demnach die normale Anatomie und Physio-
logie, auf diesen basiert die Krankheitslehre und die Lehre von
der Wirkung der Arzneimittel, und auf diesen schließlich die
Therapie.
Der Weg, den Galen bei seinen Forschungen einschlug, war
ihm durch seine besondere Veranlagung sowie durch seinen Bil-
dungsgang vorgezeichnet: er versuchte allen Ernstes die mathe-
matische Methode mit der naturwissenschaftlich-empirischen gleich-
wertig nebeneinander auf die Medizin anzuwenden ; d. h. in gleicher
Weise aus der sinnlichen Wahrnehmung und aus der unmittelbaren
Gewißheit des Verstandes seine Schlüsse zu gewinnen. Ob er den
fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Denkmethoden
verkannte oder aber bewußt vernachlässigte, ist nicht mit Sicherheit
zu entscheiden. Jedenfalls erwuchsen daraus zwei Folgen: einmal,
daß überhaupt ein einheitliches System zustande kam, sodann aber,
daß er in zahlreiche grobe Irrtümer verfiel, die er bei seiner genialen
Veranlagung sicher vermieden haben würde, wenn er sich ausschließ-
lich auf naturwissenschaftlich-empirischem Boden bewegt hätte.
Der seinen ganzen Forschungen zugrunde liegende Gedanken-
gang ist kurz folgender: „Die Natur tut nichts ohne Zweck", dieser
Ausspruch des Aristoteles ist gleichsam der Schlüssel seines medi-
zinischen Denkens und beherrscht bei ihm die ganze Problemstellung
vollkommen, denn er fragt nicht nach dem Wie und Warum der
Lebensvorgänge, sondern lediglich nach ihrem Zweck, also nach dem
Wozu. Von diesem Gesichtspunkte aus sieht er in dem Körper im
Grunde nur eine Einrichtung, welche der Seele ihre Funktionen er-
mögliche. Der Körper bedient sich zu diesem Zwecke verschiedener
ihm innewohnender Kräfte, welche ihrerseits das Pneuma gleichsam
als Träger benutzen. Dieser mit der Atmung in den Organismus
gelangende Stoff differenziert sich in ihm in dreierlei Weise: als
„Lebenspneuma", das im Herzen seinen Sitz hat, als „psychisches
Pneuma", das im Gehirn ist und als „ph3^sisches Pneuma" in der
Leber. Dementsprechend baut sich das Leben aus drei Haupt-
funktionen zusammen.
Die erste Funktion, welche der Leber obliegt, ist die Blutbildung
und damit die Ernährung des Körpers und die Förderung seines
Wachstums. „Die Leber bringt, nachdem sie die bereits von ihren
Dienern (Magen und Darm) zubereitete Nahrung aufgenommen hat.
Galenos.
139
dieser die vollkommene Beschaffenheit des Blutes bei." Dabei wird
gleichsam als Ueberschuß die Galle erzeugt. Die eigentlichen Nähr-
stoffe werden dann von der Leber aus zum Teil unmittelbar durch
die von ihr ausgehenden Venen in dem ganzen Körper verteilt, zum
Teil zunächst in das rechte Herz geleitet und von dort aus durch
die Arterien verteilt.
Das Herz selbst ist das Zentralorgan des Lebenspneumas. Dieses
wird in ihm aus dem mit der Lungenvene ins linke Herz dringenden
Pneuma bereitet und dann von dort
aus durch die Arterien dem ganzen
Körper zugeführt. Es unterhält die
..eingepflanzte Wärme" im Organismus.
Das (lehirn ist der Sitz der Seele
und damit der Ausgangspunkt aller
von ihr abhängigen Funktionen. Träger
derselben ist das Seelenpneuma, welches
in den Gehirnventrikeln aus dem mit
den Arterien in das Gehirn gelangen-
den Pneuma durch Umbildung bereitet
wird und seinerseits durch die Nerven
seinen Weg zu den verschiedenen
Körperteilen und Organen nimmt.
Durch diese drei Hauptfunktionen
werden sämtliche Teile des Körpers
zu einem einheitlichen Ganzen ver-
bunden. Von ihnen hängen alle Vor-
gänge in den Einzelorganen und Teilen
des Organismus ab. Dieser selbst setzt
sich aus festen und flüssigen Bestand-
teilen zusammen. Zu den festen gehören
auf der einen Seite: die sogenannten „gleichartigen Teile", d. h. die
Teile, deren kleinste Unterteile alle einander gleich sind (wie der
Muskel, das Fett, der Knochen usw.), und auf der anderen Seite
die sogenannten „ungleichartigen Teile" oder „Organa", welche sich
aus verschiedenartigen Geweben zusammensetzen (wie z. B. die Niere,
die Leber usw.). Die flüssigen Bestandteile sind das Blut, der Schleim,
die gelbe und schwarze Galle.
Gesundheit besteht, wenn alle diese Bestandteile des Orga-
nismus in richtiger Quantität und Qualität vorhanden sind. Doch
sind die Grenzen dieses Zustandes keine absoluten, sondern sie
schwanken nach Alter und Geschlecht, Lebensweise wie überhaupt
individueller Anlage, und diese Momente schaffen bei jedem ein-
zelnen Menschen eine Art Zwischenzustand, der weder Gesundheit
Abb. 75.
Kreislauf nach Galens
Anschauung.
1 40 Galenos.
noch Krankheit ist, der aber die Disposition zu bestimmten
Krankheitsformen in sich schHeßt.
Die Krankheit ist nichts anderes als Veränderung der Funktion
der einzelnen Bestandteile des Körpers auf Grund ihrer veränderten
Beschaffenheit. Es gibt also Krankheiten durch Alteration der Säfte
(Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle), der gleichartigen Teile
und der Organe. Bestimmte Krankheiten, oder genauer genommen
Krankheitssymptome beruhen auf Veränderungen des Pneumas
(namentlich P'ieber und Entzündungen). Den gesamten Krank-
heitsvorgang zergliederte Galen in folgender Weise: die prä-
disponierenden Ursachen erzeugen die Neigung zu gewissen Krank-
heitsformen; die Gelegenheitsursachen schaffen sodann die eigent-
liche Krankheitsdiathese, und die unmittelbaren Ursachen bringen
das Leiden selbst zum Ausbruch. Es entsteht somit eine Störung
der Funktionen (Tta^o?); durch diese Störung wiederum wird der
wirkliche Krankheitszustand (vöa'irj[Jia) hervorgerufen, der nach außen
hin in die Erscheinung tritt durch die „Symptome", welche zum Teil
auf der unmittelbaren krankhaften Schädigung beruhen, zum Teil
der Ausdruck der dadurch hervorgerufenen Folgen sind.
Der Krankheitsverlauf gliedert sich in verschiedene Stadien :
das Stadium des Beginns (ap/Tj), der Zunahme (eTciSoai?), des Höhe-
punktes (ax[i.Yj) und der Abnahme (7rapax[JL7]). Diesen entsprechen
zum Teil die der humoralpathologischen Lehre der Hippokratiker
entnommenen Stadien der „Roheit", „Kochung" und „Ausscheidung"
(s. oben S. 63), indem diese letzteren gleichsam die körperliche Grund-
lage der ersteren bilden.
Diese — hier nur in ganz groben Umrissen zu skizzierenden —
theoretischen Anschauungen sucht Galen nun zur Unterlage seiner
Therapie zu machen. Fußend auf dem Obersatze, daß „keinerlei
Störung der Körperfunktionen ohne krankhafte Veränderung des
für sie in Betracht kommenden Teiles möglich sei", geht er vor
allem darauf aus, zunächst festzustellen, inwieweit zur Ausgleichung
dieser Veränderungen die dem Körper innewohnende „Physis" (auch
eine Entlehnung von den Hippokratikern) allein zu ihrer Beseitigung
ausreicht. Nur wenn dies nicht der Fall ist, soll der Arzt eingreifen.
Bei seinem Handeln aber haben ihm verschiedene Indikationen als
Grundlage zu dienen, wie sie sich aus den einzelnen Komponenten
des Krankheitsvorganges ergeben : also zunächst aus den Krank-
heitsursachen. Die hieraus abgeleitete Indikation ist die sogenannte
prophylaktische, d. h. sie hat nicht die Heilung, sondern die Vor-
beugung zum Ziele, indem sie vor allem die Vermeidung der
ätiologischen Momente berücksichtigt. Die einmal eingetretene
Funktionsstörung gibt eine neue Indikation, die freilich eine vor-
Galenos. 141
wiegend negative ist, weil für gewöhnlich in diesem Frühstadium
des Leidens der Arzt nach Galen überhaupt noch nicht eingreifen
soll. Der wirklich ausgebrochene Krankheitszustand ergibt dann
die erste Indikation zu aktivem Eingreifen. Hierbei sind der Cha-
rakter der Krankheit, ihre Stärke, ihr Stadium u. a. m. genau zu
beobachten. Besondere Indikationen werden durch einzelne hervor-
stechende Symptome bedingt, welche an sich auch ein besonderes
Eingreifen nötig machen.
Die nicht ausreichende „Physis" in ihrem Heilbestreben zu unter-
stützen, das ist wie bei den Hippokratikern so auch bei Galen
oberstes Gesetz des ärztlichen Handelns. Während aber die ersteren
sich mit dem vagen Begriff einer im Körper vorhandenen selbst-
tätigen Kraft begnügten, suchte Galen ihr Wesen genauer zu er-
gründen, die Art ihrer Wirksamkeit und die Grenzen ihrer Leistungen
festzustellen. Nach seiner Meinung ist die Physis nichts anderes als
die Summe derjenigen Kräfte, welche auch im gesunden Organismus
die einzelnen Funktionen im Gange halten. Im kranken Körper
treten einzelne dieser Kräfte besonders stark in den Vordergrund :
so vor allem die „ausleerende Kraft", welche normalervi'^eise die ge-
wöhnlichen Ausscheidungen regelt, bei krankhaften Veränderungen
dagegen die Ausleerung der „materia peccans" besorgt. Daneben
kommen noch die „verändernde", die „zurückhaltende" Kraft
u. a. m. in Betracht. Jeweils die richtige Kraft in der richtigen
Weise zu benutzen, darin besteht die hauptsächlichste Kunst des
Arztes.
Die Erfüllung dieser Aufgabe erforderte nun aber eine genaue
Feststellung der den einzelnen Heilmitteln innewohnenden und der
ihnen zukommenden Kräfte. Unter diesem Gesichtspunkte unter-
schied Galen drei verschiedene Stufen der arzneilichen Wirkung;
die erste ist diejenige, welche ausschließlich durch die in dem Heil-
mittel enthaltenen Grundeigenschaften hervorgerufen wird (warm,
kalt, trocken, feucht). Die zweite dieser Stufen besteht in der Kom-
bination verschiedener dieser Grundeigenschaften, und die dritte
Stufe in der Verwendung spezifischer Wirkungen des einzelnen
Mittels (brechenerregende, abführende, harntreibende). Diese Grund-
anschauungen werden gekreuzt von einem weiteren Prinzip, welches
die Heilmittel in solche, welche „actu" und solche, welche „potentia"
wirken, scheidet So haben z. B. sowohl das Feuer wie der Pfeffer
beide die Qualität „heiß", aber während das erstere „actu" wirkt,
wirkt der letztere nur „potentia". Weiterhin gibt es nach Galen
Gradunterschiede in der Arznei Wirkung: der ersten Stufe gehören
die Mittel an, welche einen kaum wahrnehmbaren Einfluß auf den
Körper haben, der zweiten die eben merkbaren, der dritten die
142
Galenos.
kräftig wirkenden und der vierten die schädlicii und zerstörend
wirkenden. Alle diese feinen Unterschiede je nach den durch die
Verschiedenartigkeit der Krankheitserscheinungen bedingten Indi-
kationen a,bzustimmen und genau in Einklang zu bringen, sieht Galex
für die wichtigste Aufgabe der arzneilichen Therapie an.
So schließt sich sein System zu einem einheitlichen Ganzen, in
dem schernbar keine Lücke sich findet, sondern das Eine sich als
logische Folge aus dem Anderen ergibt: die Physiologie aus der all-
gemeinen Biologie, aus der ersteren wieder die allgemeine Krank-
heitslehre, aus dieser die Indikationenlehre und zuletzt die Therapie.
Betrachtet man nun die einzelnen Teile dieses Systems für sich,
so treten vor allem die Galenische Anatomie und Physio-
logie in den Vordergrund. Sie bilden für sich ein untrennbares
Ganze, was bereits darin zum Ausdruck kommt, daß seine ana-
tomischen Abhandlungen innig mit physiologischen Bemerkungen
und Experimenten durchsetzt sind, und umgekehrt. Ihren Wert
mißt er mit 'einem doppelten Maßstabe : einmal nach dem praktischen
Nutzen, den sie für den Arzt dadurch haben, daß die Krankheits-
lehre und vor allem die Chirurgie sich auf ihnen aufbauen; sodann
nach dem rein wissenschaftlichen Gesichtspunkte der Bereicherung
der Naturerkenntnis. Als obersten Grundsatz für die anatomische
Forschung stellt er auf: daß der Anatom nur die Dinge in Be-
tracht ziehen solle, die er mit eigenen Augen sehen könne, da-
gegen nicht sich bei seiner Forschung von theoretischen Er-
w^ägungen leiten lassen dürfe; also ein Prinzip, das heute noch als
wichtigstes gilt.
Indessen weicht Galen selbst sehr häufig von ihm ganz erheb-
lich ab. Schon sein Glaube an die absolute Zweckmäßigkeit aller
Dinge in der Natur, sowie die damit zusammenhängende Neigung,
die Funktion eines Körperteiles zuerst begreifen, und dann erst den
anatomischen Befund damit in Einklang bringen zu wollen, ver-
führten ihn zu zahlreichen Fehlern. Doch muß andererseits hervor-
gehoben werden, daß ihm häufig dieser Mangel selbst zum Bewußt-
sein kam, und daß er in solchen Fällen seine Befunde selbst als
h)^pothetisch bezeichnet.
Seine Zergliederungstechnik ist eine vortreffliche, sie weicht von
unserer heutigen dadurch wesentlich ab, daß anatomisches Präpa-
rieren an der Leiche mit vivisektorischen Versuchen häufig innig
verbunden ist. Sein Material waren zum größten Teile Tiere, vor
allem der Affe, den er einmal als eine „lächerliche Nachbildung des
Menschen" bezeichnet; daneben Schweine, Hunde, aber auch Löwen
Galenos. 143
Elefanten usw. Menschliche Sektionen hat Galen nur ausnahms-
weise vorgenommen, im Grunde nur, um die Richtigkeit seiner Be-
funde am Tier und die Berechtigung, sie auf den Menschen zu über-
tragen, nachzuprüfen.
Bei seinen Zergliederungen beschränkt sich Galen nun keines-
wegs auf die Darstellung der äußeren Form der einzelnen Teile und
Organe, er sucht vielmehr, in der richtigen Erkenntnis, daß die
Funktion eines Körperteiles von seiner feineren Struktur abhänge,
auch in diese einzudringen. Hier waren ihm dann natürlich ziem-
lich enge Grenzen gesteckt durch das Fehlen jedes optischen Ver-
größerungsmittels. Um so anerkennenswerter sind die zahlreichen
Befunde, die er auf Grund seiner Beobachtungen mit bloßem Auge
niedergelegt hat. So sah er z. B. bereits, daß der Muskel außer der
sein eigentliches Wesen ausmachenden Grundsubstanz noch Binde-
gewebsfasern und die Endausstrahlungen der Bewegungsnerven ent-
hält, er erkannte die Zusammensetzung der Arterien, der Magen-,
Darm- und Uteruswandung aus verschiedenen Schichten, er verstand
genau, in der Niere, der Leber usw. die diesen Organen eigentüm-
liche spezifische Substanz von den Stützgeweben und den Ader-
geflechten zu unterscheiden. Kurzum, seine Anatomie ist durchaus
nicht nur grobe Anatomie, sondern bis zu einem gewissen Grade
auch bereits Histologie.
Bei dem engen Zusammenhange seiner anatomischen und physio-
logischen Forschung tritt das Konstruktive seiner Gedankengänge
ganz besonders deutlich in seinen Erwägungen über die Funktion
der einzelnen Körperteile hervor. Indem er davon ausgeht, daß
man aus Analogien der äußeren Form und des Baues auch auf
Uebereinstimmung der Funktionen schließen dürfe, setzt er die
Physiologie aller derjenigen Tiere, „welche sich vom Menschen nicht
sehr unterscheiden" — also vor allem die des Affen — , der mensch-
lichen in vielen Fällen gleich. Das schließt freilich nicht aus, daß
er für einzelne Organe, bei denen er einen derart weitgehenden
Parallelismus selbst für unangebracht hält, auf die menschliche Sektion
ausdrücklich zurückgreift. So sagt er gelegentlich der Besprechung
des Kehlkopfes: „Uebrigens ist es doch wohl notwendig, daß man
bei seinen Studien über den Kehlkopf diesen beim toten Menschen
selbst betrachte."
Die Hauptleistungen Galens in der Physiologie liegen auf dem
Gebiete des Experimentes. Hatten zwar auch schon Forscher vor
ihm, namentlich die großen Alexandriner, sich des Versuchs am
Lebenden bedient, so kann man doch erst bei Galen von einer
wirklichen Experimentalphysiologie im heutigen Sinne sprechen. Ob-
gleich seine Versuche zu einem großen Teile unter der Vorein-
144 Galenos.
genommenheit leiden, mit der er an sie herantrat, so zeugen doch
auch wieder viele von einem tiefen Wissensdrang und einer genialen
Veranlagung. Die Art, wie er beispielsweise Gehirn und Rücken-
mark bei lebenden Tieren zergliederte, wie er dabei die entstehen-
den Ausfallserscheinungen beobachtete und daraus seine Schlüsse
über die Funktionen der einzelnen Nerven und Teile des Zentral-
organs zog, ist bewunderungswert. Und es ist durchaus nicht richtig,
immer nur auf das hinzuweisen, was Galen nicht oder falsch ge-
sehen hat. Sehr anschaulich zeigt das seine Lehre über die Blut-
zirkulation, sie läßt besonders deutlich die Vorzüge und Schatten-
seiten seiner Forschung erkennen.
Galens Krankheitslehre ist, wenn er auch bewußt jede Ein-
seitigkeit zu vermeiden suchte, vorwiegend humoralpathologisch.
Sie erhebt sich über sämtliche früheren Theorien einzig durch die
Folgerichtigkeit, mit der sie in sein Gesamtsystem eingegliedert ist.
Das Gleiche gilt von seiner Diagnostik und Prognostik, welche eben-
falls in äußerst geschickter Weise das bereits Vorhandene verarbeitet
und mit seinen theoretischen Anschauungen in Einklang bringt.
Auch seine Therapie bedeutet an sich nichts Neues : sie weist weder
neue Indikationen noch bis dahin unbekannte Behandlungsarten und
Mittel auf. Auf dem Gebiete der Chirurgie, Frauenheilkunde und
Geburtshilfe bleibt er sogar hinter manchem weniger bedeutenden
Arzte zurück.
Und doch: wenn man die Leistungen Gälens als Ganzes nimmt,
so waren sie nicht nur im Rahmen seiner Zeit etwas Außergewöhn-
liches, ja Ungeheuerliches, sondern man versteht ohne weiteres, daß
der Einfluß seiner Gedanken sich über anderthalb Jahrtausende
lebendig zu erhalten vermochte. Es war eben ein Wille, der die
zahlreichen Quellen der antiken Medizin in ein Bett zusammenzwang,
es war eine einheitliche Weltanschauung, welche die heterogensten
Ideen sich dienstbar machte. So erschien Galen den späteren
Aerzten als das gewaltige Sammelbecken, in dem alle Kenntnisse
und Erfahrungen der alten Aerzte sich vereinigt fanden, in dem der
Schlamm der Jahrhunderte alten Entwicklung sich zu Boden gesetzt
hatte und ein klarer Spiegel einen kristallhellen See bedeckte, aus
dem man überall mühelos schöpfen konnte.
Nicht mit Unrecht rühmt sich daher Galen selbst, er habe —
ähnlich wie Trajan die Heerstraßen des römischen Reiches — die
Bahn, welche Hippokrates nur angelegt habe, erst eben und gang-
bar gemacht. Und wenn Galen auch teils wegen seiner im per-
sönlichen Verkehr oft geradezu abstoßenden Eigenschaften, teils, weil
Galenos. 1 45
er — wie viele bedeutenden Leute — von seinen Zeitgenossen nicht
in allem verstanden wurde, wenig unmittelbare Schüler besaß, so
haben doch seine Werke einen Einfluß auf die Entwicklung der
Medizin ausgeübt, wie ihn kein Arzt vor oder nach ihm wieder er-
reicht hat. Und dieser ungeheure, fast suggestiv wirkende Einfluß
erklärt es vor allem anderen, daß mit Galen nicht nur ein neuer
Höhepunkt der antiken Medizin erreicht ist, sondern gleichzeitig ihr
eigentliches Endglied.
Merer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizia.
Das Aerztewesen der römischen Kaiserzeit.
Während nun in der Zeit nach Galen die eigentliche medi-
zinische Entwicklung zum Stillstande kommt, geht der Ausbau des
Aerztewesens in den am Ende der Republik begonnenen Bahnen
weiter. Der nächste wichtige Schritt, der auf die Einreihung der
in Rom berufstätigen Aerzte unter die Vollbürger durch AuGUSTUS
folgte, war ein Erlaß Hadrians im Jahre 1 1 7 n. Chr., durch den
er allen „medici" sehr wichtige Vorrechte: Befreiung von allen
Kommunalabgaben, von lästigen Aemtern, von der Heerespflicht
usw. gewährte. Diese außerordentlich weitgehende Vergünstigung
wurde zwar durch Antoninus Pius auf eine für jeden Bezirk fest-
gelegte Höchstzahl von Aerzten eingeschränkt. Ausnahmen wurden
nur bei besonders hervorragenden Leistungen gemacht. Der ursprüng-
liche Sinn des von Antoninus geschaffenen „numerus" der bevor-
rechteten Aerzte wurde dann unter Septimius Severus dahin ab-
geändert, daß nur noch derjenige Arzt, der eine staatliche Appro-
bation aufweisen konnte (a republica probatus), zu den wahren „me-
dici" gerechnet wurde. Diese behördliche Genehmigung aber wurde
von dem Stadtrat und der Vertretung der eingesessenen Bürger-
schaft der betreffenden Gemeinde erteilt.
Dieses Verfahren hatte den großen Nachteil, daß die Beurtei-
lung der Leistungen des zu approbierenden Arztes ausschließlich
Laien oblag. Der Grund dafür bestand vor allem in dem Fehlen
jeder staatlichen Regelung des medizinischen Unterrichts; denn
dieser war nach wie vor eine ausschließlich private Angelegenheit
der Aerzte selbst. Dieses Charakters wurde er zum ersten Male
durch Alexander Severus entkleidet, der in der Erkenntnis der
großen Wichtigkeit dieser Frage für das gesamte Heilwesen den
Aerzten besondere öffentliche Hörsäle einräumte, ferner denen, die
als Lehrer tätig sein wollten, Gehalt, und bedürftigen Schülern der
Medizin Unterstützungen gewährte. Damit war der medizinische
Unterricht zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden.
Auch eine weitere wichtige Seite der ärztlichen Berufsübung
erfuhr ihre Regelung: das Honorarwesen.
Die Auffassung der Heilkunde als einer „ars liberalis" hatte zur
Folge, daß die Leistungen der Aerzte an sich nach römischem Recht
Das Aerztewesen der römischen Kaiserzeit. 147
keinerlei gesetzmäßigen Anspruch auf Entgelt begründeten. Zahlte
der Kranke ein solches freiwillig, so geschah dieses eben als „hono-
rarium" im wahren Sinne des Wortes, d. h. nur ehrenhalber, zur Be-
zeugung seiner Erkenntlichkeit. Diesem unhaltbaren Zustande, der
den Arzt gänzlich von dem Wohlwollen seines Patienten abhängig
sein ließ, machte dann eine kaiserliche Verordnung ein Ende, welche
dem Arzt die Einklagung seiner Forderung durch ein abgekürztes
„außerordentliches Gerichtsverfahren" ermöglichte. In Zweifelsfällen
scheint dabei bezüglich der Höhe des Honorars eine Art Mindesttaxe
zugrunde gelegt worden zu sein. Daß die Aerzte namentlich in der
späteren Kaiserzeit zum Teil selbst für unsere heutigen Verhältnisse
außerordentlich hohe Einnahmen gehabt haben, ist vielfach bezeugt. Und
der — freilich erst viel später geprägte — Satz : „dat Galenus opes, dat
Justinianus honores" hat schon damals vollkommen zu Recht bestanden.
Aber auch an äußeren Ehren fehlte es den Aerzten der römischen
Kaiserzeit keineswegs. Genossen sie schon durch ihre mannigfachen
Vorrechte eine gewisse Ausnahmestellung, so wurde ihr Ansehen
noch erhöht durch einen besonderen strafrechtlichen Schutz, der
ihnen gegen Beleidigungen und Belästigungen jeder Art gewährt
wurde. Namentlich galt dieses für die verschiedenen Kategorien
der beamteten Aerzte, welche nach und nach geschaffen wurden ; am
wenigsten merkwürdigerweise für die Militärärzte. Seitdem AuGUSTUS
bei seiner Reorganisation des Heeres zum ersten Male in dessen
Rangordnung auch Aerzte einreihte, blieben diese dauernd ein inte-
grierender Bestandteil des Heeres. Als die eigentlichen Militärärzte
erscheinen vor allem die „medici legionis". Diese waren zum größten
Teil in Reih und Glied einrangierte Soldaten, gehörten zu den
unteren Chargen und hatten die Tribunen der Legion zu Vorgesetzten.
Eine weit höhere Stellung nahmen die Aerzte derjenigen Truppen-
teile ein, welche in der Hauptstadt in Garnison lagen, vor allem die
bei den Prätorianern Diensttuenden, dann aber auch die Aerzte der
zum Schutze Roms bestimmten „cohors urbana", und der Polizei-
truppen. Doch darf man als sicher annehmen, daß neben den eigent-
lichen Truppenärzten angesehene freie Aerzte beim Heer tätig waren,
die, ohne in einem bestimmten Rangverhältnis zu stehen, diesem ihre
Dienste widmeten, vielleicht in ähnlicher Weise wie heute die so-
genannten „beratenden Aerzte".
Wenn sich auch die Notwendigkeit zur Anstellung beamteter
Aerzte vielleicht am stärksten beim Heere fühlbar gemacht haben
wird, so nahm doch auch bei anderen Organisationen die Anstellung
von Aerzten in der römischen Kaiserzeit immer mehr an Umfang
zu. Alle öffenüichen Institute, die ein größeres Personal beschäf-
tigten, scheinen ihre eigenen beamteten Aerzte gehabt zu haben,
148 Das Aerztewesen der römischen Kaiserzeit.
z. B. die öffentlichen Bibliotheken, die lukullischen Gärten, die Gla-
diatorenschulen u. a. m. Auch Theater- und Zirkusärzte gab es, denen
die ärztliche Betreuung der Schauspieler, aber auch die Behandlung
der während einer Vorstellung erkrankenden Zuschauer oblag. Ja
auch eine Art von „Kassenärzten" waren vorhanden ; so kennen wir
Aerzte der Schmiedezunft, der Webergilde usw. Auch die von den
Griechen geschaffene Einrichtung der Gemeindeärzte wurde von den
römischen Kaisern in den Gebieten, wo sie bestand, unberührt ge-
lassen; auch ihre Amtsbezeichnung, welche in hellenistischer Zeit
„ap/taxpöc" lautete, wurde beibehalten. Allmählich wurde dann die
Archiatrie eine ständige Einrichtung in allen Teilen des römischen
Reiches, und die Funktionen der einzelnen Archiater scheinen ganz
denen unserer Bezirksärzte entsprochen zu haben. Eine besondere
Bedeutung erlangte die Archiatrie für die weitere Ausbildung des
medizinischen Unterrichts. Wenn auch bereits Galenos (im 2. Jahr-
hundert n. Chr.) die „vorschriftsmäßige" von der banausen Ausbil-
dung der Jünger des Asklepios unterschied, so war dennoch der
Unterricht immer noch Privatsache. Erst als die Lehrer der Medizin
zum größten Teile zu Staatsbeamten geworden (wahrscheinlich im 3. Jahr-
hundert n. Chr.), der Studiengang geregelt und das Archiaterkollegium
mit der Prüfung der angehenden Aerzte betraut worden war, konnte man
von einer gesetzlichen Grundlage der ärztlichen Ausbildung sprechen.
Neben den Aerzten, welche die gesamte Heilkunde ausübten,
machte sich in der römischen Kaiserzeit in immer zunehmendem
Umfange ein ausgedehntes Spezialistentum breit. Teils des leichteren
Gewinnes, teils der bequemeren Berufsausübung wegen, zu einem
anderen Teile aber wohl auch einer natürlichen Entwicklung folgend,
zweigten sich alle möglichen Sondergebiete von der Medizin ab. Zu
Galens Zeit — im 2. Jahrhundert n. Chr. — gab es schon kaum
mehr eine ärztliche Verrichtung, welche nicht als Spezialfach aus-
geübt worden wäre. So waren zahlreiche Augen-, Ohren-, Zahn-
ärzte vorhanden, andere behandelten ausschließlich Fistelleiden, andere
nur Blasenkrankheiten, wieder andere führten nur bestimmte chirur-
gische Eingriffe aus, wie den Bauchstich, die Stein- oder Bruch-
operation, noch andere beschränkten sich auf eine einzige Behand-
lungsmethode, wie die Wasser-, Weinärzte u. a. m. Auch zu Vereinen
schlössen sich die Aerzte zusammen.
Während also mit dem 2. Jahrhundert n. Chr. die Entwicklung
der Medizin für lange Zeit zu einem Abschluß gekommen war, so
erlebte der Aerztestand sowohl was seine Ausbildung wie sein An-
sehen anbetraf, gerade in den folgenden Jahrhunderten noch eine
Blüte, wie er sie dann erst wieder viel später zu erreichen vermochte.
IL Teil.
Die mittlere Zeit
vom Tode des Galenos bis zu
Bacon von Verulam.
Ein geschichtlicher Ueberblick
von
Karl Sudhoff.
Neque ridere, neque flere, nee detestari, sed intelligere.
Spinoza.
Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich und
erste Wiedergeburt im Reiche des Islam.
Mit Galexos hatte der forschende und erkennende Griechen-
geist in der Heilkunde seinen letzten großen Zeugen verloren. Wie
ein flammend Abendrot leuchtete er lange nach, ein glühend Weg-
zeichen für viele Jahrhunderte. Aber kein Grieche und kein Römer
ist mehr bis zu seiner ragenden Forscherhöhe vorgedrungen. Ja
nicht einmal als Wegzeichen hat man ihn zunächst allenthalben
gelten lassen wollen —
Oo TravTÖ!; av5p6? i? raXr,vöv lad' 6 izkoÖQ —
Nicht jeder setzt die Segel auf Galenos' Ziel!
Mit dem echten Forschen eines Herophilos und Erasistratos
und all ihrer namhaften alexandrinischen Nachfahren war es mit dem
3. Jahrhundert endgültig vorbei. Alexandreia lebte wohl noch als
Lehrstätte bescheiden dahin neben Athen und Rom, aber der Trieb
des ei gen wüchsigen Ergründens auf selbst eingeschlagenen Wegen
war verdorrt. Nur Sammeln, rückschauendes Ueberblicken einer
bald tausendjährigen Entwicklung — zu vorher bei keinem Volke
auch nur erahnter Höhe einer Erfahrungs- und Beobachtungswissen-
schaft unter experimenteller Nachprüfung auf allen Erkenntnisstufen
— nur Sammeln war noch die Losung der Epigonen. Die nur noch
aufnehmende Bewunderung war mit Unfruchtbarkeit geschlagen.
Ihr wohnte nicht mehr der zeugende Trieb zu eigenem Nach- und
Weiterschaffen inne. Zusammentragen und Registrieren gab schon
Befriedigung; ordnendes Formgeben war die höchste Staffel, die
man nur selten noch erstieg. Die hippokratische Renaissance eines
Galenos, die sich nur an dem großen Koer, am Kar}stier, an
Platon, Aristoteles, Herophilos, Erasistratos maß, wurde
durch den unumschränkt herrschenden Enzyklopädismus abgelöst,
der freilich auch noch achtungsgebietende Vertreter in der Medizin
aufzuweisen wußte.
Allmählich hat sich überhaupt die Form der literarischen Pro-
duktion geändert, eine Umgestaltung, die auch das Wesen schrift-
stellerischen Schaffens beeinflußte. Die Buchrolle, die wie die klas-
1^2 -Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich
sische Hochblüte des Hellenentums auch die Weltenweitung der
hellenistischen Zeit beherrscht hatte, wurde seit dem Ende des 4. Jahr-
hunderts durch den Pergamentkodex entthront, den der Schrift-
stellernde auch in der Mehrzahl bequem beim Zusammenstellen seines
„Werkes" neben und um sich legen konnte zum wörtlichen Ab-
schreiben der gewünschten Abschnitte, während die Buchrolle ein
umständliches Diktieren unter Zuhilfenahme einer größeren Anzahl
von Gehilfen erfordert hatte, falls man sich nicht der üblichen un-
gefähren Zitierung aus dem Gedächtnis bediente, die ein tieferes
Vertrautsein mit den Quellen, eine völligere Aufnahme in sich er-
forderte und eine freiere Wiedervonsichgabe auslöste.
Ein typisches Beispiel des Aneinanderreihens gleichsam mit der
Schere zurechtgeschnittener Textstücke aus den Werken großer Vor-
gänger, wenn auch in selbstgewählter Ordnung und Gliederung gibt
schon der Pergamener OREIBA.SIOS, der in der zweiten Hälfte des
4. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung durch seinen Freund und
Gönner, den Kaiser JULIANOS — der dem neuen Wesen, das KoN-
STANTINOS begünstigt hatte, abhold war, eine Restauration alten
Griechenglaubens erstrebte und dabei die Heilandsgestalt des Heil-
gottes Asklepios in die Mitte stellte — die nachdrückliche Anregung
erhielt, in einem großen Werke das Wertvollste griechischen Aerzte-
wissens zusammenzustellen. Leider sind uns diese Sova^wY"^^ i^i
72 Büchern nur zum kleinsten Teil erhalten, die in ihren vorhandenen
Resten erkennen lassen, wie es vor allem sein Landsmann Galenos
war, den sich Oreibasios erkoren hatte und nun auf den Schild
hob, neben ihm vor allen die großen Pneumatiker Archigenes und
Athenaios, ferner Philumenos, Herodotos und Rufos, sowie
die Chirurgen Antyllos und Heliodoros, neben Dioskurides,
DiOKLES und Demosthenes. Von den meisten dieser großen Aerzte
wissen wir Authentisches fast ausschließlich durch die Auszüge, welche
Oreibasios aus ihnen in seinen „Collectiones medicae" gibt.
Dies große Sammelwerk des Oreibasios ist es aber vor allem
auch gewesen, welches 2 Jahrhunderte nach ihrer Verabfassung die
Werke des großen Pergameners Galenos für alle Zeiten als die
führende Hinterlassenschaft aus der medizinischen Antike aufstellte
und darwies. Es scheint vollendet gewesen, als Oreibasios mit
dem Tode seines Herrn {363 n. Chr.) aus Byzanz verwiesen wurde
und zu den Goten floh, die im heutigen Bulgarien fast vor den
Toren Konstantinopels saßen und den Arzt des Kaisers freundlich
aufnahmen. Begnadigt und in seine Güter wieder eingesetzt hat
Oreibasios dann für seinen ärztlichen Sohn Eustathios in einem
Auszug dcis Wesentliche seiner großen Sammelschrift zusammen-
gefaßt, welche„Synopsis" wir neben einem Buche über allenthalben
und erste Wiedergeburt im Reiche des Islam. 153
bequem zu erreichende Gebrauchsmittel in der täglichen Praxis
(„Euporista") heute noch vollständig besitzen. Ja, diesem und dem
synoptischen Auszug des umfänglichen Nachschlagewerkes wurde
frühe schon, wohl noch im 5. Jahrhundert, die Uebertragung in das
Lateinische zuteil, und der .,Urivasius" als medizinischer Quellenautor
war — wirkhch und angeblich benutzt — in Karolingerzeiten dem
Abendlande in gewissem Grade noch geläufig.
Weniger offensichtig, als Kompilationen schon äußerUch er-
kennbar, waren die Werke einiger großen medizinischen En-
zyklopädisten des Ostreiches im 6. und 7. Jahrhundert. Aus Amida
in Mesopotamien stammte Aetios, dessen 16 Bücher (.die Tetrabiblos)
auch nichts weiter sind als eine simple Aneinanderreihung von Aus-
zügen aus Oreibasios, Galenos, Philumexos und zahlreichen
anderen Autoren der späteren Griechenmedizin. Wollen wir diese
wichtige Gesamtdarstellung des griechischen Heilwissens kennen
lernen , so sind wir für ihre zweite Hälfte auf ein der beiden
Latinisierungen aus den Tagen der Renaissance und des Humanismus
oder auf die Handschriften angewiesen, da von den Büchern 9 — 16
nur einige in Sonderausgaben griechisch publiziert sind. Aetios' Zeit-
genosse Alexaxdros aus Tralleis am Pontus, Sohn eines Arztes
und Bruder des Erbauers der Sophienkirche, kam erst hochbetagt
dazu, in Rom sein medizinisches Wissen schriftstellerisch festzulegen,
wohin ihn ein Machthaber, vielleicht der sonst der antikten Wissen-
schaft recht wenig geneigte Papst Gregor der Große (590 — 604), in
der Xot von Pestjahren berufen hatte. Sein Werk in 12 Büchern
galt mit Unrecht lange für selbständigere Eigenarbeit, ist aber heute
in seiner Kompilatorenabhängigkeit erkannt, auch nicht frei vom
Aberglauben seiner Zeit. Ein frühe schon hergestellter Auszug in
lateinischer Sprache, in 3 Büchern eingeteilt, ward im ganzen Mittel-
alter gelegentlich benutzt und als „Alexander latros" früh in Druck
gelegt.
Als letzter vor der Araberherrschaft gepriesener Arzt der griechi-
schen Antike und mit Recht geschätzter Schriftsteller ist Paulos
aus Aigina zu nennen, der ein Werk in 7 Büchern verfaßt hat und
in Alexandreia wirkte, als diese berühmteste aller ärztlichen Lehr-
stellen ferner Vergangenheit nach fast tausendjähriger Blüte in die
Hände der aufstrebenden und wissenshungrigen Araber fiel, nicht
durch Eroberung, sondern durch Vereinbarung unter Abzug der
byzantinischen Behörden, Paulos ist in Alexandrien verblieben
und stand bei den Ankömmlingen bald in hohen Ehren, die auch
das mitüberkommene literarische Gut in den dortigen Bibliotheken
zu schätzen wußten, soweit es den Wechselfällen der letztvergangenen
Jahrhunderte widerstanden hatte. Daß der Islam die berühmten
154
Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich
Bibliotheken der Handels- und Wissensmetropole im Westzipfel des
Nildeltas, soweit sie noch vorhanden waren, 643 hätte in Rauch auf-
gehen lassen, ist eine böswilhge Fabel. Von den 7 Büchern des
Paulos schätzen wir heute das 6., welches die Chirurgie enthält,
besonders hoch, weil Antyllos verloren ist; und auch den Arabern
galt Paulos besonders als Chirurg und Geburtshelfer und als Lehrer
dieser Kunst, Sein Buch hat uns trotz aller Klarheit und Selbständig-
keit der Darstellung und aller überall vorleuchtender eigener Ver-
trautheit mit seinem Stoffe doch nur als prägnanter Ausdruck spät-
alexandrinischen Wissens in der Wundheilkunst zu gelten. Dem
Orient war der ganze PAULOS früh bekannt und wohlvertraut. Im
Abendlande war lange Zeit nur das 3. Buch zugänglich, das wohl
schon im 8. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt wurde. Es enthält
eine spezielle Pathologie und Therapie vom Kopfe zu den Füßen
und half, den Namen des Aigineten durch das ganze abendländische
Mittelalter in Ehren zu halten. Die anderen Bücher behandeln
Hygiene und Diätetik, allgemeine Pathologie, Fieberlehre und
Symptomatologie , Hautaffektionen , Toxikologie und Arzneimittel-
lehre, alles nach der eigenen Angabe des Paulos, soweit es theoreti-
scher Natur ist, den Vorgängern entnommen, namentlich dem Galenos
und Oreibasios ; nur in die praktischen Abschnitte sind auch eigene
Erfahrungen mitaufgenommen.
Die genannten vier Autoren, Oreibasios, Aetios, Alexandros
und Paulos stellen die Höhepunkte ärztlichen Wissens in den Spät-
zeiten der Antike dar. Nachklänge guter Tradition in byzantinischer
Zeit bis zum Aufkommen der Arabermacht. Sie hatten sich im
wesentlichen freigehalten von dem allerorten wild wuchernden Aber-
glauben, auch medizinischer Art, der, wie die astrologische Irrlehre
der sogenannten latromathematik , in Alexandrien wohl auch ein
Gelehrtengewand angezogen hatte in den Tagen des Späthellenismus.
Uebersehen darf man neben diesen Wortführern des Enzyklopädismus
nicht das bescheidenere wissenschaftliche Leben an anderen Punkten
des Ostens zurzeit der zu Ende gehenden Römerherrschaft, als nicht
nur politisch die Randregionen des alten Imperiums anfingen, ihr
eigenes Leben zu führen und die Kaiserheere nur vorübergehend
noch den Zusammenhang wieder zu knüpfen suchten. Die Lehr-
stellen des Ostens abseits Alexandreia, vom neuen Reichszentrum
Byzanz nur zeitweilig gestört und niemals in geistige Abhängigkeit
von dort gezwungen, hatten ihr eigenständiges Dasein, ihr bescheidenes
Blühen, wurzelnd im nahrhaften Humusboden angeschwemmten
Griechenwissens in Syrien, Mesopotamien und dem westlichen Iran,
im Berglande des alten Elam.
und erste Wiedergeburt im Reiche des Islam. 155
Auch sprachlich machten sich die alten Schulen in Xisibis, Edessa
und Gondeschäpür allmählich vom Griechischen unabhängig. Die
Philosophen- und Aerzteschulen, christhch, aber gegen Byzanr ge-
sehen heterodox, und mit Altjüdischem teilweise durchsetzt, ent-
falteten jahrhundertelang eifrige Uebersetzertätigkeit ins Syrische.
Syrisch war auch anfänglich die Lehrsprache im persischen Gonde-
schäpür zwischen den Bergketten des Westrandes von Iran, bis das
mittelpersische Idiom das semitische ablöste. Namentlich die Medizin
wurde neben Mathematik, Astronomie, Naturwissenschaft und Philo-
sophie an diesen Hochschulen Vorderasiens gepflegt und Gonde-
schäpür errang sich bald den Ehrennamen einer „Academia Hippo-
cratica".
Von syrischen Uebersetzungen medizinischer Schriften aus dem
klassischen Altertum sind heute noch nachweisbar unter anderen die
hippokratischen Aphorismen, von Galexos die Ars parva, Teile der
Schriften über die Eigenschaften der Nahrungsmittel, über einfache
Arzneimittel und über die kranken Körperstellen. So war auch
außerhalb Alexandreia der Kulturboden für das junge Arabertum
medizinisch-wissenschaftlich einigermaßen vorbereitet, als es unter
dem 2. Kalifen Omar von Osten her Syrien und Palästina einnahm.
Aber nicht nur die medizinische Wissenschaft aus der Antike
wartete in Vorderasien der jungen Betätigungskraft des Islam. Auch
für die praktische Pflege der heilenden Künste war der Boden dort
durch die erbarmende Karitas des jungen Christentums in ganz
besonderer Weise vorbereitet. Das Krankenpflegewesen, das in der
ausgehenden Antike auch über die Wartung in der Familie schon
etwas hinausgewachsen war in den Sklaven scharen der Latifundien-
besitzer und Großindustriellen wie in den Valetudinarien der Heere
und Standlager, hatte im Christentum ungeahnte Auftriebe erfahren,
die der Asklepiosverehrer Julianos auf dem Kaiserthrone seinen
Glaubensgenossen, ja dem ganzen Volke der Heiden als nach-
eiferungswürdiges Beispiel vorhielt. Und gerade in den zunächst
dem vorwärtsdrängenden Arabertum sich bietenden Regionen waren
seit dem 4. Jahrhundert besonders rühmliche Einrichtimgen im
Krankenhaus- und Pflegewesen geschaffen. Bei Kaisareia hatte
Basileios der Große (370 — 379) eine vöUige Krankenstadt mit Trans-
portgelegenheit und Arzt Versorgung, Isolierhäusern usw. eingerichtet,
die weltberühmte „Basilias". Einen besonders hohen Stand der
Ausbildung errang allerdings das Krankenhauswesen in Konstan-
tinopel, wo sich eine große Zahl von Pflegeanstalten aller Arten
und Zwecke durch fromme Stiftungen bildeten und in den Kranken-
häusern besondere Abteilungen für chirurgische und Fieberkranke
mit dirigierenden und Oberärzten, mit regelmäßigem Dienstwechsel
1^6 Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich
und einem Heere ausgebildeter Pfleger und Pflegerinnen allmählich
entstanden.
Zunächst war Syrien der Mittelpunkt griechisch-arabischer Me-
dizin, namentlich als Damask der Sitz des Kalifats der Umaijaden ge-
worden war. Von dort aus gingen die Ausbreitungsbestrebungen
des Islam mit Macht wieder nach Osten, aber die Unterjochung des
hochkultivierten Persertums gelang nur unvollkommen; die Abba-
siden begnügten sich schließlich mit einem Ausgleich, zu dessen
Sitz die neue Residenz Bagdad (gegr. 766) am Tigris gemacht wurde.
Das Persertum, wenn auch in arabischer Sprache, blieb immer ein
hochwichtiger kulureller Faktor, namentlich auch in der Medizin des
Islam. In Gondeschäpür wurde zwar allmählich das Arabische
Unterrichtssprache, aber gerade die größten Aerztegestalten des
Islam, die der Medizin des Islam einen Ewigkeitswert gesichert
haben: AR RÄzi, 'Ali ibn al 'AbbIs und ibn Sinä sind Perser
gewesen.
Noch halb im Dunkel stehen die ersten Zeiten islamischer Heil-
kunde, in der die nestorianische Aerztefamilie der Bachtischuah, be-
sonders in ihrem größten Mitglied DSCHIBRAL (Gabriel) blühte. Neben
den Nestorianern waren besonders die Juden Vermittler griechischen
Aerztewissens, wofür das hebräische Aerztebuch eines ASAF aus
dem 8. oder g. Jahrhundert einen Beleg bringt, das älteste Medizin-
buch eines jüdischen Verfassers. Zur Zeit des berühmten Kalifen
Harun ar-Raschid (789—809) wirkte Jühannä ibn Masawaihi,
„Johannes Mesue der Aeltere" genannt (777 — 857), im Gegensatz zu
einem Pseudonymen Mesue dem Jüngeren, unter dessen Namen im
13. Jahrhundert Schriften abendländischen Ursprungs ausgingen. Jü-
hannä IBN Masawaihi, auch „Janus Damascenus" genannt, soll vieles
griechische Aerztegut ins Arabische übersetzt haben ; als sein eigenes
Werk gelten Aphorismen. Die umfänglichste Aneignung griechischer
Heilkunde vermittelte neben anderen schließlich Hunain Ibn IshäQ,
genannt „Johannitius" (809 — 873), und seine Schule, auch er nestoria-
nischer Christ. Ihm selbst verdanken wir Aphorismen, Prognostik
und Hebdomaden des Hippokrates, Anatomisches, Fieberlehre, Krisen
und kritische Tage des Galenos. Von seinen Schülern ließ er von
hippokratischen Schriften die Epidemien, Aerztewerkstatt, Eid, Gesetz
bearbeiten, von Galenos die Reihenfolge seiner Bücher, die ana-
tomischen Encheiresen, Nerven an atomie, Schriften über den Puls
(worüber die Araber ein großes Sammelwerk zusammenstellten),
über die Unterscheidungsmerkmale der Krankheiten und ihrer Ur-
schen und Symptome und deren Veranlassung, über die kranken
Körperstellen, Gesundheitspflege, einfache Arzneimittel und deren
Zusammensetzung nach Art und Körpergegend, über Antidote und
und erste Wiedergeburt im Reiche des Islam. 157
therapeutische Methodik. Damit war grundlegend fast alles Wichtige
von Galexos in die Hände der arabischen Aerzte gelegt, und preis-
wert haben sie mit diesem Pfunde gewuchert, einen neuen Prachtbau
der Griechenmedizin errichtet und selbst das Ausgefeilteste oft noch
weiter ziseliert, wie al Kind! (813 — 880) beispielsweise die Gradus-
lehre des Galenos und die latromathematik, die astrologische Lehre
in der Heilkunde Alexandriens, der auch der große Galenos in den
„kritischen Tagen" seinen Tribut entrichtet hatte. Von den eigenen
Werken des HUXAIX hat die Einführung in die Mikrotechne des
Galexos (Isagoge in artem parvam) im Morgen- und Abendlande
viele Jahrhunderte Kurs besessen und ist dutzendmal kommentiert
worden.
Auf diesem Boden, unter voller Beherrschung der ganzen damals
noch sehr umfangreich erhaltenen griechischen medizinischen Lite-
ratur und des jungen syrischen und arabischen Schrifttums hat dann
zu Ende des 9. und zu Beginn des 10. Jahrhunderts der größte
Kliniker des Islam Razes (Abu Bekr Muha2^ied bex Zakarijä
ar-Razi, 850 — 923) aus Rai in Korasan, also ein Perser, seine be-
deutenden Werke geschaffen und sein großzügiges Wirken entfaltet
Eine Gesamtübersicht über das Griechentum und das frühere Araber-
tum in der Medizin hat er sich zum eigenen Gebrauch und späterer
literarischer Zusammenfassung geschaffen, aber zur abschließenden
Aufarbeitung ist er nicht gekommen; doch ist das gesamte Ex-
zerptenmaterial nach seinem Tode obenhin geordnet als Behältnis
(al-häwi) der Medizin verbreitet worden und im 13. Jahrhundert, als
„Continens Razis" ins Lateinische übersetzt, dem Abendlande bekannt
geworden, ein für die Medizin geschichte noch keineswegs ausgenützter
Schatz. Doch Razes Wissen und Können ist durchaus nicht ein
bloß literarisch Errungenes, sondern nicht minder der eigenen kli-
nischen Beobachtung im Krankenhause und in der Praxis zu Bagdad,
wo er unter großem Zulauf, wie es heißt, klinischen Unterricht ab-
hielt. Als Ergebnis eigener Beobachtungen ist besonders sein
Büchlein über Pocken und Masern zu nennen, das zum ersten Male
in der Geschichte der Heilkunde diese akuten Exantheme aus der
Masse der Volksseuchen herauslöste und ihr Krankheitsbild festlegte.
Diese wichtige Schrift ist dem Abendlande erst in den Tagen der
Hochrenaissance bekannt geworden, während z. B. das zusammen-
fassende Kompendium der gesamten Heilkunde an den Statthalter
in Korasan MansCr in Ost und West gleichmäßig verbreitet und
geschätzt war. Auch zahlreiche weitere Monographien, z. B. über
Kinderkrankheiten, Gelenkleiden, Stein-, Blasen- und Nierenleiden
haben AR-RÄzi zum Verfasser. Ueber Kurpfuscher und Aerzte hat
er ein wertvolles Schriftchen verfaßt; doch beträgt die Zahl der von
icg Nachleben, der Griechenmedizin im Ostreich
ihm aufgeführten medizinischen Schriften über 200, von denen über
30 noch erhalten sind. Man muß diesen großen Perser zu den be-
deutendsten Aerzten aller Zeiten rechnen. Jahjä BEN Sarabi war
ein Zeitgenosse des RÄzi, ob aber seine „medizinische Praxis" und seine
Arzneimittellehre wirklich ihm selbst oder einem späteren Namens-
genossen zugehört, ist noch ungewiß; die erstere soll ursprünglich
syrisch geschrieben sein, was dafür sprechen würde, sie dem älteren
Serapion zuzuteilen. Eine umrissene Aerztepersönlichkeit ist der
Jude ISHÄQ IBN SULAIMÄN al-Isra'ili (f 932), dessen Schriften über
Harn, Fieber und Diätetik in hoher Schätzung standen. Um 970
schrieb Abü'l Hasan Ah:med ben Muhamed al-Tabari sein „Buch
der hippokratischen Behandlungen", das die Krankheiten des Kopfes,
der Augen, der Nase und des Ohres, des Mundes, Rachens und der *
Kehle usw. in 10 Büchern bis zu den Baucheingeweiden hinunter
behandelt. Hohen Ruhm genoß der Perser 'Ali IBN al-'AbbäS (t 994)
durch sein systematisches Handbuch der gesamten Medizin, das auch
alle ihre Sonderzweige in 10 theoretischen und 10 praktischen Büchern
abhandelt und in seiner Geschlossenheit und der Einfachheit seiner theo-
retischen Grundsätze noch heute imponiert. Einem persischen Fürsten
gewidmet, führte es die Bezeichnung al-maliki, das königliche Buch,
und nicht mit Unrecht. Fast ein Jahrhundert lang hat es die ara-
bische Medizin beherrscht, bis der Canon des AviCENNA es entthronte,
und auch im Abendlande hat es durch einen glücklichen Zufall ein
Jahrhundert lang als führendes Handbuch der Heilwissenschaft zu
dienen vermocht und zur Blüte Salernos die Grundlage abgegeben,
als AR-RÄzi und IBN SiNÄ noch unbekannt waren.
In den Anfang des 11. Jahrhunderts gehört 'Ali BEN IsÄ, der
Verfasser des maßgebenden Lehrbuchs der Augenheilkunde im
Orient, überhaupt des ältesten Handbuchs dieser Disziplin, das wir
besitzen, da die Augenheilkunde des Herophileers Demosthenes
aus dem i. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, dessen lateinische
Uebersetzung (des ViNDiClAN ?) noch um 1300 in Italien benutzt
wurde, uns dauernd verloren scheint. Von den Arabern hatten sich
vor 'Ali ben IsÄ allerdings schon andere literarisch mit Augen-
krankheiten beschäftigt, Mäsawaihi, Hunain und sein Schwestersohn
(und Mitübersetzer) HuBAis, TÄBIT BEN QuRRA, Halaf at-Tülun!
und Tabari. Sie halten mit dem geordneten Lehrbuch des 'Ali
BEN 'ISÄ keinen Vergleich aus, das zwar auf dem Standpunkt der
Griechen steht, in vielem Einzelnen aber über sie hinaus geht, offenbar
nach eigener Erfahrung, und die Augenoperationen genau beschreibt.
Origineller noch ist die „Auswahl von den Augenkrankheiten" seines
ägyptischen Zeitgenossen 'Ammär BEN 'Ali al-Mausili (aus Mosul),
einer kraftvollen Persönlichkeit von ruhiger Initiative, operativem
und erste Wiedergeburt im Reiche des Islam.
159
Geschick und großer Erfahrung. An Nachfolgern hat es diesen
beiden bedeutenden Augenärzten nicht gefehlt — Hirschberg, dem
dies alles entnommen ist, zählt 18 arabische Werke über Augen-
heilkunde — erwähnt seien hier nur noch die späteren umfassenden
Lehrbücher der beiden Syrer Halifa-bex Abi'l-Mahasix aus Aleppo
aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. „Von dem genügenden in
der Augenheilkunde"
und Salah ad-Dix ibx
JüSUF aus Hamä („Das
Licht der Augen", das
um 1296 geschrieben ist).
Großartiger noch als die
Leistungen der Araber
in der praktischen
Augenheilkunde sind
ihre Leistungen in der
Lehre vom Sehen durch
den großen Physiker ibx
al-Haitam aus Basra
(965 — 1038), dessen op-
tische Lehren über die
Griechen weit hinaus
gehen, aber bei den
Augenärzten des Islam
keinerlei Berücksich-
tigung gefunden haben.
Als Zeitgenosse des IBX al-Haitam wirkten zwei der bedeu-
tendsten Aerzte des Islam : der Perser IBX SixÄ und der Andalusier
Abü'l QlSlM; auch das zu Anfang des 1 1. Jahrhunderts geschriebene,
als Reisebuch (Ephodion) eingekleidete kurze Lehrbuch der prak-
tischen Medizin des IBX AL-DsCHAZZÄR sei erwähnt, weil es im Abend-
lande früh Verbreitung gefunden hat.
Abb. 76. Augeninstmmente des Halifa (3 Scheren
und gedecktes Messerchen in Kanüle) aus einer Hand-
schrift in Konstanünopel.
Aus vornehmer persischer Familie stammte Abu *Al1 al-Hosain
iBN 'Abdallah ibn al-Hosaix ibn 'Ali aö-öaih ar-ra1s ibx
81x1(980—1037) der glänzendste Stern am Aerztehimmel des Islam,
Arzt, Philosoph und Staatsmann zugleich. Er schrieb zahlreiche philo-
sophische, naturwissenschaftliche und medizinische Schriften, die in ihrer
Bedeutung für die Heilkunde alle von einem Werke überragt werden^
dem eine gradezu einzige Stellung in dem Entwicklungsgange der Me-
dizin einnehmenden Qänün fi't tibb, dem Kanon der Heilkunde.
Dies große Handbuch des Fürsten (asch-schaich) AviCEXNA ist in
i6o Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich
5 Bücher eingeteilt, die wieder in Hauptabschnitte (Fen oder Summa)
mit Unterabschnitten (Traktate) und zahlreichen Kapiteln oder Areolae
geschieden sind. Im ersten Buche wird Einleitendes, Anatomie und
Physiologie, allgemeine Aetiologie und Symptom atogie, allgemeine
Diätetik und Prophylaktik, allgemeine Therapie abgehandelt, die
gesamte thoretische Medizin, Das zweite Buch von gleichem Um-
fange, aber einfacherer Gliederung, bespricht die einfachen Arznei-
stoffe und ihre Wirkungsweise. Das bei weitem umfangreichste
dritte Buch, bestehend aus 22 Hauptabschnitten (gegen vier Fen des
ersten und zwei Summen des zweiten), bringt die spezielle Patho-
logie und Therapie a capite ad calces mit topographisch-anatomischen
und physiologischen Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten; ein-
geschlossen sind die Krankheiten der Augen, Ohren, Nase, Mund
und Kehlkopf, also die Spezialzweige einschließlich der Geburtshilfe.
Nur die Chirurgie ist in das weit kürzere, das i. und 2. aber
an Umfang übertreffende, 4. Buch mit herübergenommen (7 Fen),
das außerdem die gesamte Fieberlehre einschließlich der meisten
akuten und chronischen Infektionskrankheiten, Toxikologie, Haut-
krankheiten und Kosmetik enthält. Das letzte Buch handelt in zwei
Summen mit zwölf und acht Traktaten über die zusammengesetzten
Arzneimittel in der Form eines Antidotarium und hat den geringsten
Umfang von allen Büchern. In dieser Weise ist also die gesamte
theoretische und praktische Medizin samt allen ihren Spezialzweigen
in strenger Systematik in ihrem ganzen Umfange von einem Stand-
punkte aus zur Darstellung gebracht, mit Zielsicherheit und Klar-
heit als völlig einheitliches Werk in einem Guße, ein großer Wurf
glänzend gelungen, in seiner Art ohne gleichen in der gesamten
Medizingeschichte! Der Eindruck auf die Aerztewelt im Morgen-
und Abendland war denn auch ein ganz enormer, alles andere nach-
haltig überragender und ist es im Abendland fast bis ins 17. Jahr-
hundert geblieben. Im Orient herrscht er noch heute. Die Grund-
lage des Gesamtwissens des IBN SiNi sind vor allem Aristoteles und
Galen. Das medizinische System des Galenismus fand hier seine
volle Geschlossenheit und Ausbildung ins Einzelne hinein, natürlich
unter voller Benutzung aller vorhergehenden arabischen Schriftsteller,
vor allen auch des Razi, als größten und des 'Ali IBN al 'AbbäS,
sowie der großen griechischen Spezialautoren, z. B. des DIOSKURIDES.
Doch mit dieser grandiosen Zusammenfassung alles von seinen Vor-
gängern Gebotenen ist es nicht getan. Freilich die Lehre von den
Kardinalsäften, Qualitäten, Komplexionen und Graden, die schon so
fein ausgesponnen war, ist noch weiter ausgefeilt und ausspintisiert,
die künstliche Puls- und Harnsemiotik noch weiter verkünstelt, aber
es sind doch auch eigene Beobachtungen und Erfahrungen mit ein-
und erste Wieders:eburt im Reiche des Islam.
i6i
gefügt und dem Ganzen trotz lastender Längen und dialektischem
Geklingel eine Form gegeben, die ihre Wirkung nicht verfehlte.
■^^ä^\ih4^^\^if4'^-^j^/^^
Abb. 77. Instramentenbilder aus der Chirui^ie des Abu'l Qasim, aus arabischer Handschrift
in Gotha (oben) und aus verschiedenen lateinischen Handschi iften. (Zangen, Spritzen, Messer,
Haken, Brenneisen, Sägen, Scheren, Spekula und geburtshilflich-gynäkologische Instrumente.)
Meycr-Steincg u. Sudhoff, lUustr. Geschichte der Medizin. II
102 Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich
Ohne eigene Verdienste hat der „Fürst der Aerzte" seine jahrhundert-
lange Herrschaft nicht angetreten.
Keineswegs auf der Höhe seines Geistgenossen Avicenna steht
der in Zahrä, der Kalifengründung bei Cordova, in Spanien (Andalus)
geborene Abu'l Qäsim Halaf ibn 'Abbas al-Zaharawi, immer-
hin bedeutende Arzt im arabischen Westreiche, angeblich 1013 ge-
storben. Sein umfangreiches Werk über Gesamtmedizin genannt
„die Gewährung" (at tasrif) ist besonders wegen seines ausführlichen
chirurgischen Abschnittes von Wert, der zwar im ganzen nach
Paulos, dem Aigineten, gearbeitet ist, aber doch auch Eignes bringt.
Namentlich als einzige bekannte Darstellung der Chirurgie bei den
Arabern ist sie von Bedeutung. Ihr Einfluß auch auf das Abend-
land war groß, wie wir noch sehen werden, wo der chirurgische
PAULOStext verschollen war, größer als bei den Arabern selbst. Frei-
lich spielt das Glüheisen, dem das ganze erste von drei Büchern ge-
widmet ist, eine große Rolle, wie auch schon im späteren Griechen-
tum. Die Beschreibung der Operationen ist klar und durch reiche
Instrumentenabbildungen erläutert, die uns aus dem Altertum völlig
abgehen und durch Funde der Originalinstrumente wettgemacht
werden, während wir aus Araberzeiten die Instrumente selbst nur
in kleiner Zahl bis heute besitzen.
Gleichfalls aus Spanien stammt Abu Marwan ibn Zuhr, aus der
Nähe Sevillas gebürtig (11 13 — 11 62), der in knapper Form einen
Abriß der Heilung und Diätetik schrieb, „Erleichterung" (at-taisir)
genannt, voll unbefangenen Urteils und guter Beobachtung. Neben
diesem „Avenzoar" des Abendlandes ragt als einer der freiesten
Denker des Islam hervor, der 1126 zu Gordova geborene und als
königlicher Leibarzt in Marokko 11 98 verstorbene Ibn Rusd, be-
kannt unter dem Namen des Averroes, der als Arzt durch sein
prägnant geschriebenes therapeutisches „Buch der Allgemeinheiten"
(kitab al-kullijät; „Colliget") literarischen Einfluß gewann, weit
größeren als Philosoph, als ARISTOTELES-Kommentator, als welcher er
unter höchster Wertschätzung des Stagiriten einen monistischen
Naturalismus entwickelte, der in Zustimmung und Bekämpfung einen
geradezu welterschütternden Einfluß gewann. Indessen war die
Araberherrschaft auch in Spanien äußerlich zu Ende gegangen, wie
schon ein Jahrhundert vorher auf Sizilien, ohne ihren kulturellen
Einfluß beiderorts zu verlieren, der von Süditalien und Spanien aus
das Abendland geistig für Jahrhunderte noch beherrschte, nament-
lich auch in der Medizin. Ja man kann sagen, daß in dem großen
Strom zweifelhafter und schlechter lateinischer Bearbeitungen der
Medizin des Islam, in zwei Quellflüssen in Süditalien und in Spanien
entspringend, diese erst ihre weltgeschichtliche Bedeutung in vollem
und erste Wiederg^eburt im Reiche des Islam.
163
Maße erlangte. Griechenmedizin in arabisches S3'stem gebracht,
weitergedacht und weiter vermehrt durch Forscher und denkende
Beobachter des Islam wurde zur Lehrmeisterin des Abendlandes seit
dem Ende des 11. Jahrhunderts in solchem Umfang, daß das, was
die Renaissance und der Humanismus direkt aus griechischen
Quellen Xeues hinzubringen konnte, sachlich nicht all zu schwer ins
Gewicht fällt.
Ein Handbuch der Heilkunde, wie es mit dem „königlichen
Buche" des „Hali Abbas" um 1070 im „Pantegni" des COXSTAXTIX
nach Italien kam, hat die Antike nie besessen ; mit Selbstgefühl be-
tont al-'Abbäs selbst im Vorwort, daß weder Galexos, noch Orei-
BASios, noch Paulos Aehnliches geboten hätten. Was bei den
Aerzten des Islam aus indischer Medizin und wohl auch aus per-
sischer z. B. im Arzneimittelschatz hinzugekommen ist, kommt gegen-
über der Griechenmedizin kaum ernsthaft in Betracht. Für die Ana-
tomie ist die Griechenlehre ausschließlich Quelle und Richtschnur
der Araber. Sie haben aus eigener Untersuchung nichts hinzu-
getan, und Hali Abbas und Avicenna sind für das Abendland neben
Galexos und jahrhundertelang an seiner Stelle Lehrmeister ge-
blieben; es war ja auch das Nämliche. Neue Krankheiten haben
die Araber erkannt, erfaßt und geschildert, die den Griechen ent-
Abb. 78. Ajxjtheke aus einer hebräischen Avicenna- Handschrift.
164 Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich
gangen waren, und das ist zweifellos ein Großes, das sich an ihren
bedeutendsten Arzt ar-Räzi vor allem knüpft. Zahlreiche neue Arznei-
mittel haben die Araber der Griechenmedizin hinzugefügt, und
hier ist neben AviCENNAs 2. und 5. Buche noch ein Arzt des
13. Jahrhunderts zu nennen, IBN al-Baitär (f 1248), der allerdings auf
das Abendland kaum eine Wirkung geübt hat. Von neuen Mitteln
seien beispielsweise der Kampfer und der Moschus genannt, und
die milden Abführmittel Senna und Tamarinden. Die ganze Phar-
mazeutik verdankt ihre Entwicklung der Medizin des Islam, die
Apotheken gründete, Pharmakopoen schuf und mit Hilfe der aus
dem Hellenismus entnommenen und weitergepflegten Chemie, die
allerdings dann erst im Abendlande im Mittelalter, in den Schriften
des Pseudo-GEBER eine entscheidende Wandelung erlebte, neue
Arzneibereitungen anbahnte. Destillierte Wässer kannten die Araber
und stellten sie dar, die Alkoholdestillation als Schlußstein blieb dem
Abendlande vorbehalten.
In der Diätetik haben die Aerzte des Islam die griechische
Tradition trefflich weitergepflegt, wie auch aus den Schriften eines
jüdischen Arztes aus Spanien (geb. 1135 in Cordova, f 1204), der
wie ISHÄQ IBN SULAIMÄN AL-ISRÄ'iLi ein Glied der Medizin des
Islam ist, Abu Tmrän Müsä ben Maimün, genannt Maimonides
oder Rabbi Moyses im Abendlande, der zuletzt in Kairo gewirkt und
namentlich auch als peripathetischer Philosoph Einfluß gewonnen hat,
besonders auf die jüdischen Denker, indem er den Aristoteles neben
die Propheten stellte.
Büchersammlungen wurden von den Arabern in großem Um-
fange angelegt und in liebevollster Weise verwaltet. An Bücher-
zahl erreichten sie, namentlich in Bagdad und Kairo, aber später
auch im Andalus die Rollenmassen der großen Bibliotheken Alexan-
driens, deren medizinisch wertvollste im Sarapieion schon lange in
Flammen aufgegangen war, ehe die Araber Alexandrien besetzten.
An literarischem Gut hat das Arabertum in der Aerztegeschichte
des IBN Abu Usaibi'a (1203 — 1273 aus Damaskus etwas Neues ge-
schaffen, ein Werk wie es das Griechentum nicht besaß. Er hat in
biographischer Form Leben und Leistungen der griechischen, syrischen,
arabischen, indischen Aerzte in musterhafter Weise gezeichnet. Was
wir über die Aerzte des Islam bio- und bibliographisch wissen, geht
fast alles auf ihn zurück; für die Griechen ist überhaupt noch nicht
ausgenutzt, was sein Buch beibringt.
Auch in der Weiterentwicklung der christHchen Krankenpflege-
Anstalt zur Klinik, ja zur Spezialklinik hat die Medizin des Islams
wirkliche Fortschritte gezeitigt, die auch der Wissenschaft und ärzt-
lichen Kunst zugute kamen, wie die weitere Ausbildung der Augen-
und erste Wiedergeburt im Reiche des Islam.
165
heilkunde über die griechische hinaus dartut. Bei der Chirurgie
sind die Zeichen des Fortschrittes weit geringer, ebenso beispielsweise
in der Zahlheilkunde. Völlig fehlen sie, wie im Volkstum begründet,
in der Geburtshilfe und Gynäkologie.
Die Fesseln, welche
dem arabischen Arzte seine k^
Religion auferlegte, sind
besonders bedauernswert
auf dem Gebiete der Fach-
illustration aus der Antike,
namentlich in der Ana-
tomie; das Verbot der
Zeichnung menschlicher
Körper, welches die „Ara-
beske" schuf, hat hier die
Ueberlieferung gehindert,
ebenso in der Chirurgie
(Darstellung von Opera-
tionen) und Geburtshilfe.
Wie zum kleinen Teü die
freiere Richtung der per-
sischen Schiiten darin Er-
satz geboten hat, werden
wir im 7. Abschnitte sehen.
Das Pflanzenbild war frei
gegeben und wir haben
daher heute noch Pflanzen-
bilder in arabischen Dio-
skurides - Uebersetzungen,
die allerdings neben den
Handschriftenbildern früher griechischer Texte des 5. und 6. Jahr-
hunderts nicht aufkommen können.
Fig. 79. Geburt des Rustem aus Firdusis Schah-
name. Vier Hebammen wie zu altgriechischer Zeit.
Die arabischen Aerzte^) nahmen im Leben ihres Volkes eine
hochgeachtete wirtschaftliche Stellung ein; sie werden in der Ent-
wicklung des Aerztestandes immer eine ehrenvolle Stelle direkt
neben den griechischen Aerzten behaupten. Als die treuen Ver-
walter und Förderer des aus dem Altertum übernommenen Wissens-
schatzes haben sie sich bewährt. Ihr Eigenstes in der Pflege an-
tiken Wissensgutes, dessen Mehrung neben der Erhaltung sie sich
i) Von Aerzteprüfungen, die in Bagdad 931 eingeführt sein sollen,
berichtet eine gute Quelle.
i66
Nachleben der Griechenmedizin im Ostreich usw.
angelegen sein ließen, ist und wird für immer ihren besonderen
Ehrentitel bilden, die ordnende und sichtende Zusammenfassung, die
systematische Umgestaltung der Wissensmasse in klare, übersicht-
liche, wohldurchdachte Lehr- und Handbücher, in denen sich alles
folgerichtig zum Ganzen fügt und jeder Einzelabschnitt durch seine
logische Eingliederung Bedeutung und sichere Verständlichkeit
gewinnt.
I t'j i
Abb. 80. Aus 'arabischer DioSKURiDES-Handschrift. (Migon afrodi, Diosk. IV, 67.
Silene inflata Sm.)
Nur drei bis vier Jahrhunderte hat die Medizin des Islam ge-
blüht. In einem mächtigen Aufstieg von MÄSAWAIHI bis ibn Sinä
hat sie als erste Wiedergeburt der Griechenmedizin Unvergäng-
liches geschaffen, das ins Abendland übergepflanzt, dort eine neue
Blüte der Heilkunst und Heil Wissenschaft befruchtend anbahnen
half, die heute noch weitergedeiht und Griechenmedizin und Araber-
medizin in ihrem Ausbau zwar weit hinter sich gelassen hat, aber
dennoch in beiden wurzelt und moderne griechische Hochschulen
und zum Teil auch schon die Aerztewelt des heutigen Islam an
ihren Fortschritten und Erfolgen teilnehmen läßt in ihrem erd-
umspannenden Wirkungsstrome.
Nachklang und Ausklang der klassischen Medizin
im römischen Westreich.
Die wissenschaftliche Höhe der acht Bücher Medizin in der
Enzyklopädie des Celsus hat spätklassische lateinische Literatur in
Rom nicht wieder erreicht. Aber das war ja auch nur lateinisch
gewandete Medizin Alexandriens in übersichtlichem Querschnitte ge-
wesen, wenn nicht einfache Uebersetzung eines verlorenen griechischen
Werkes. Jedenfalls war die Nachwirkung des Celsus zunächst gering
und bald völlig erloschen. Dagegen machte die Rezeptensammlung
des SCRIBONIUS Schule als Arzneibuch bis weit ins Mittelalter hinein
und wurde fleißig selbst literarisch verwertet. Daneben her zog man
vor allem von den me-
dizinischen Abschnitten
im großen Sammelwerk
der Naturgeschichte des
Plinius Vorteil, die
sich geradezu als un-
erschöpflich erwiesen
und in immer neuen
geordneten Sammel-
werkchen literarische
Auferstehung fanden
bis ins 6., ja bis in das
7. Jahrhundert hinein
(„Plinius Valeria-
NUS"). Die beste Lese
aus den letzten Büchern
des Plinius bildet ein
wohl dem 4. Jahrhun-
dert angehöriges „Bre-
viarum", auch kurz „Me-
dicina Plinii" genannt
oder „Plini secundi iuni-
oris de Medicina libri
tres". Von einem Nicht- ^bb. 81. Tierhilder aus der Hertener PLACiTUS-Hand-
arzte geschickt zu- schrift (9. JahrhunderO.
fnatTuL majic apM:?cS( mtff^duems ä^Mj
1 68 Nachklang und Ausklang der klassischen Medizin im röm. Westreich.
sammengestellt und mit einer ärztefeindlichen Vorrede versehen, fand
das Büchlein weite Verbreitung und auch literarisch ergiebige Weiter-
\ln ««jTOincTKA
1 AdoCfilofj? iiriiri
f j
QO
Abb. 82. Pflanzeabilder aus dem Leidener (7. Jahrhundert a), Halberstädter (8. Jahr-
hundert b) und Hertener (9. Jahrhundert c) Pseudo-Apuleius-Kodex : Nymphaea, Peri-
sterion, Agrimonia.
Nachklang und Ausklang der klassischen Medizin im röm. Westreich. 169
ausbeutung, den Plixius selbst für Aerztekreise größtenteils ersetzend.
Selbst für den früher als weit älter geschätzten QurxTUS Serenus
scheint dies zuzutreffen, der ungefähr in gleicher Anordnung wie
das Brevier aus dem Plixius die praktische Gesamtmedizin, außer
Chirurgie und Geburtshilfe, in 1 100 Hexametern vorführt und noch
im 9. Jahrhundert, zu den Zeiten der „karolingischen Renaissance",
weite Verbreitung genoß.
Aus dem Plinius stammen auch die rein populär gehaltenen
Gemüse- und Fruchtarzneien (Medicinae ex oleribus et pomis) in der
landwirtschaftlichen Schrift des Gargilius Martialis, der im 3. Jahr-
hundert lebte, uns aber nur in einem Auszuge des 6. Jahrhunderts
erhalten ist. Im 4. oder 5. Jahrhundert stellte Sextus Placitus
seine Arzneiverordnungen aus dem Tierreich zusammen, während
des Pseudo-APULEIUS' Kräuterarznei Verordnungen, größtenteils dem
DiOSKURiDES entnommen, zu Ende des 4. oder zu Anfang des 5. Jahr-
hunderts ausgearbeitet zu sein scheinen.
f mmcnCnKtmmpf-nafcefCia mfruiaa
f
.f- utxlif?i(ibr»ientf'par'«*Mrcrt-rr 'mtmuem fr-ir utAnrr-rrp: turtü Ttf u*nT (iKtsSlinxt Iwmto'r«
Abb. 83. Kopflage und Fußlage, Bild und Text aus der Brüsseler Mustio- Handschrift
(um 900 n. Chr.).
Sicher in den hochkultivierten nordafrikanischen Küstenstrichen
des westlichen Mittelmeeres schrieben die hervorragenderen Aerzte
ViNDiciANUS, in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, ein Freund
des Augustinus, und sein Schüler Theodorus Priscianus, sowie
ijo Nachklang und Ausklang der klassischen Medizin im röm. Westreich.
der karthaginiensische Christ Cassius Felix, der seine dogmatische
Medizinschrift in 82 Kapiteln im Jahre 447 abschloß. Der bedeutende
ViNDiCiAN knüpfte besonders an SORANUS an, im Embryologischen
an den alexandrinischen Herophileer Alexandros Philalethes.
Theodorus Priscianus benutzte neben dem Soranos vor allem
den Galenos. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts bearbeitete der
Numidier Caelius Aurelianus die wichtige, in der Ursprache
völlig verlorene Schrift des SORAN über Pathologie und Therapie
der akuten und chronischen Krankheiten, dieselbe dadurch zunächst
seinen Zeitgenossen und, da die Uebersetzung sich erhielt, der weiteren
Nachwelt vermittelnd. Den Hebammenkatechismus des SoRANOS
hat einige Jahrzehnte später ein Süditaliener oder gleichfalls Klein-
afrikaner namens MuSTiO lateinisch übersetzt, und dem Büchlein
(mit Kindslagenbildern ausgestattet) dadurch weite Verbreitung durch
das ganze Mittelalter verschafft.
Ist schon dies Schriftwerk aus drei bis vier Jahrhunderten des
untergehenden Spätrom, das wir kurz überschaut haben, gewiß an
Umfang nicht so ganz gering, so geht noch gar mancherlei, z. B.
Pseudodemokritisches, Pseudotheodorisches und völlig Namenloses,
sowie gelegentlich Genanntes, aber Verlorenes nebenher, dessen Um-
fang man nicht erheblich kleiner veranschlagen darf. Mit Ausnahme
einisfer Schriften des Vindician, die man als wissenschaftlich noch
bezeichnen kann, ist alles rein praktischer Art mit ausgesprochen
volksmedizinischer Richtung, wie das bei Schriften, die größtenteils
auf Plinius sich aufbauen, kaum anders erwartet werden kann.
Manches grenzt schon an das, was man früher latinobarbarisch
zu nennen liebte. Auch die romanische Volkssprache fordert schon
ihr Recht. Die selbständiger werdenden Provinzen gewinnen an
Bedeutung, zumal wenn sie von Erobererstämmen germanischer Her-
kunft beherrscht werden und die jungen Fürstenhöfe nach dem
Schmucke der Wissenschaften, Künste und Literatur verlangen, wie
in den nordafrikanischen Randgebieten, in Spanien, Südfrankreich
und ItaHen selbst, das vom Ende des 6. Jahrhunderts (493 — 555) unter
Ostgotenherrschaft stand und demnach zwei Jahrhunderte (568—774)
und länger von den Longobarden im Besitz gehalten war. In Süd-
frankreich geboten im 5. Jahrhundert (415 — 507) die Westgoten, die
fast zwei Jahrhunderte in Spanien herrschten (507 — 711), während
das Vandalenreich in Kleinafrika ein Jahrhundert (42g — 534) nur
wenig überdauert hatte. Selbst die vielgeschmähten Vandalen haben
literarische Bestrebungen gefördert, mehr noch die hochbegabten
Goten im Ost- und Weststamme. Ihre hervorragendste Fürsten-
erscheinung, Theodorich der Große (493 — 526), ist vor dem großen
Nachklang und Ausklang der klassischen Medizin im röm. Westreich. 1 7 1
Franken Karl der edelste Fortführer antiker Kulturbestrebungen auf
allen Gebieten.
Wenige Jahre vor der Aufrichtung des südgallischen Westgoten-
reiches in Toulouse verfaßte z. B. unter Benutzung der gleichen
Quellen, wie Theodorus Prisciaxus, ein hoher Staatsbeamter in
römischen Diensten, der Südgallier Marcellus von Bordeaux (410)
— gewöhnlich „Marcellus empiricus" genannt — sein Buch „De
Aledicamentis". In 36 Kapiteln wird im bräuchlichen Schema vom
Kopf zu den Füßen, das auch alle seine Vorgänger und Nachfolger
anwenden, die Heilweise der verschiedenen Organleiden abgehandelt.
Quelle sind vor allen der größtenteils wörtlich ausgeschriebene SCRI-
BONIUS, das vollständig aufgearbeitete Breviarium aus Plixius, ferner
der Serexus und allem Anschein nach auch der Pseudo-APULEIUS
oder dessen direkte Vorlagen. IMarcellus selbst ist dann wieder von
dem schon genannten Sextus Placitus und „Plixius Valerianus"
ausgeschlachtet, die auch den Pseudo-APULEIUS benutzt haben. Im
Buche „De Medicamentis" ist aber auch nicht nur die gallische Färbung
des Lateinischen in die Augen stechend, Marcellus gewährte auch
der heimischen altkeltischen Volksmedizin Aufnahme in den Schatz
seines Heilmittelbuches, verfaßt von dem volksfreundlich gesinnten
Laien für die eigene Familie und den stammverwandten Volkskörper.
So bildet Marcellus von Bordeaux den Uebergang zum
kommenden Zeitabschnitt, den man als den der Einarbeitung der
keltisch-germanischen Völker in die Medizin der ausgehenden Antike
als die arbeitsame Aneignung der medizinischen Hinterlassenschaft des
Altertums durch keltische und germanische Stammesgenossen in
Italien, in Frankreich, in Spanien, in Irland, Schottland und Eng-
land und im westlichen und südlichen Germanien bezeichnen kann.
Erste Aneignung antiker medizinischer Hinter-
lassenschaft in Westeuropa.
Ganz vereinzelt steht an der Schwelle dieser Epoche der Grieche
Anthimus, der den Gotenkönig Theoderich aus Byzanz, wo der
junge Fürstensohn seine antike Bildung und Sinn und Liebe für alt-
klassische Kultur gewonnen hatte, und aus den Balkanländern nach
Italien begleitet hatte. Theoderich verwendet den ärztlich Gebildeten
als Gesandten zum Frankenkönig Theuderich (511 — 533), dem Sohne
des Clodowech. Theuderich hatte seine Residenz in Metz; ihm
widmete Anthimus ein kleines Büchlein über Speisendiätetik, das
über Brot, Fleisch, Geflügel, Fische, Gemüse und Früchte nach
griechischer Lehre kurz handelt, aber nebenher zeigt, wie landes-
kundig der Grieche schon bei den Franken geworden war; denn er
singt dem innerlichen und äußerlichen Allheilmittel der Franken,
dem rohen Speck, ein hellklingendes Loblied,
Man hat die vorsalernitanische Periode, also etwa das 5. — 9. Jahr-
hundert, bald die latino-barbarische, wie schon gesagt, bald die der
Mönchsmedizin genannt. Das letztere stimmt aber nur teilweise,
wenigstens für das zunächst für die Gewinnung von griechischem
medizinischen Literaturgut durch Uebersetzung in das Lateinische
fast völlig ausschließlich in Frage kommende Süditalien. Das erstere
ist einseitig durch die italienische Rinascimento-Brille gesehen.
Wohl hat der große Kanzler Theoderichs, M. AuRELius Cassid-
DORUS, ein Römer, der aus Syrien gebürtig war und die dortigen
gelehrten Schulen kannte, während seiner Amtszeit in Rom eine
Universität zu gründen versucht und nach seinem Rücktritt aus
der Politik (540) am Golf von Squillace, im südlichen Westzipfel des
italienischen Festlandes, in seinem „Vivarium" eine Art klassischer
Akademie ins Leben gerufen, in der auch die Medizin ihre Pflege
fand. Dort, wo man des Griechischen fast mehr kundig war als des
Lateinischen, hat man auch die Uebersetzertätigkeit eifrig gepflegt,
jedenfalls auch die schon in lateinischer Uebersetzung zugänglichen
medizinischen Texte vervielfältigt. Aber der Benediktinerorden, dem
Cassiodorus innerlich nahestand, hat gerade in der für uns ent-
scheidenden Zeit Italiens von gelehrten Studien sich völlig ferngehalten.
Das Grundbuch mittelalterlicher Wissenschaft, die Institutionen des
r
Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in Westeuropa. 173
Cassiodor (551), ist wohl in den Klöstern nördlich der Alpen früh
schon Regel für die Pflege der Wissenschaften geworden und da-
mit vor allem für deren textliche Fortpflanzung; in der Apenninen-
halbinsel hatte es noch keine Geltung.
Für Italien im 6. — 9. Jahrhundert kamen zunächst die Laien-
schulen, namentlich der Langobarden in Frage, die aus den antiken
Rhetorenschulen hervorgegangen waren, deren höchststehende schließ-
lich Benevent geworden zu sein scheint, wenn auch die U eher lieferung
vielleicht nicht vollen Glauben verdient, daß dort um 850 gar 32 Lehrer
der Profan Wissenschaften wirkten.
Der in Süditalien von alters her durch griechische Kolonisten
herrschenden Zweisprachigkeit, die noch im 13. Jahrhundert Friedrich IL
durch Erlaß seiner berühmten Gesetze in Griechisch und Lateinisch
berücksichtigen mußte, kam von der Mitte des 7. bis in das 9. Jahr-
hundert ein starkes neues Einströmen griechischer Elemente zu Hilfe.
Zur Zeit des Cassiodor besaß man, nach dessen eigenem Zeugnis,
eine ganze Reihe von Schriften des Hippokrates und Galenos
in lateinischen Uebersetzungen, wie wir heute noch an Handschriften
der Karolingerzeit und einigen älteren nachkontrollieren können. So
besitzen wir heute noch solche alten lateinischen Uebersetzungen der
Aphorismen, der Prognostika, der Lebensregel in akuten Krankheiten,
der Schrift von Wasser, Luft und Oertlichkeit, der späten Hippo-
kratesbriefe und der gleichfalls Pseudonymen Dynamidia, einiger
Schriften des Galexos. Sie sind größtenteils wohl in Süditalien ent-
standen, wie auch die des Oreibasios- Auszugs mit gotischen Spuren,
einiger Bücher des Paulos und Dioskurides- Uebersetzungen,
deren eine geradezu den Namen des „Dioscorides langobardus" führt.
Von den kurz vor 600 zu Rom entstandenen 1 2 Büchern der Medizin
des Alexandros aus Tralleis wurde schon im 7. Jahrhundert eine
auszügliche lateinische Uebersetzung hergestellt (s. oben), von deren
Benutzung neben anderen ALEXANDER-Schriften durch das ganze
Mittelalter gelegentliche Spuren zu finden sind, wie man sich auch immer
wieder einmal auf einen Paulus beruft, der nur der Aiginete sein kann.
Ist also auch das in lateinischen Uebersetzungen überlieferte
griechische Literargut auf medizinischem Gebiete nicht entfernt mit
dem Reichtum in Vergleich zu setzen, der dem jungaufstrebenden
Islam aus Alexandrien, Antiochien, Edessa, Nisibis und Gondeschäpür
in voller Unmittelbarkeit zuströmte, so ist es doch keineswegs ganz
unerheblich.
Aber auch schon eine gewisse Eigenarbeit an dem überkommenen
Literargute scheint im Süden im frühen Mittelalter eingesetzt zu
174 Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in Westeuropa.
haben. So sind ins 7. Jahrhundert zu setzen oder ganz in das Ende
des 6. die offenbar zusammengehörigen „Oxea" eines AuRELius und
„Chronia" eines ESCOLAPIUS, eine Zusammenlese aus dogmatischen
und methodischen Quellen, die weniger auf Caelius Aurelianus
selbst zurückgeht, als es zunächst scheint, wenn auch Stücke aus
dessen „Responsiones" direkt entlehnt sind. Diese AuRELius-
ESCOLAPIUS- Kompilation ist dann im 8. oder 9. Jahrhundert, mit
Auszügen aus dem Theodorus Priscianus, weitläufigen Aus-
schlachtungen aus dem „Alexander latros", aus Fieberschriften des
Galenos und einer noch nicht nachweisbaren methodischen Schrift
zusammengeschweißt und in leidliche Ordnung gebracht worden in
einem weitverbreiteten „Passionarius", der meist, was nicht wunder-
nimmt, als „Passionarius Galeni" bezeichnet wird. Er geht aber auch
unter dem Namen eines Langobarden Warbod, Garipotus oder
GariopONTUS, dessen wirkHche Arbeit an dem Buche offenbar
gering ist. Vielleicht ist der angeblich der Mitte des 1 1. Jahrhunderts
angehörende und nach Frühsalerno miteingerechnete Arzt nur durch
einen Zufall mit diesem Sammelwerk in Verbindung geraten (s. unten).
Aus Italien ist in dieser Uebergangszeit noch zu berichten von
einer kurzen Therapeutik in 241 Hexametern, die einen Mailänder
Diakon, späteren Erzbischof daselbst, namens Benedictus Crispus,
vielleicht langobardischer Abkunft, zum Verfasser haben soll. Das
Heilgedicht wäre danach kurz vor 681 entstanden und benutzt die
Medicina Phnii, den Serenus und den lateinischen DioskurideS;
ob auch Volksmedizinisches, wäre noch zu untersuchen.
Aus Kleinafrika, das seit 685 die Araber besetzt hatten, wüßte
ich nach dem Numidier CaeliüS keinen medizinischen Autor mehr
zu nennen. In Spanien ragt gleich Cassiodor in Italien der En-
zyklopädist IsiDOR, Bischof von Sevilla (570 — 636) hervor, der auch
die Medizin in seinen Gesichtskreis zog, vor allem den Caelius ge-
plündert hat. Durch die Aufnahme der Medizin als gleichberechtigt
mit den anderen Wissenschaften in die Enzyklopädie des spanischen
Bischofs war ihr für das christliche Mittelalter der Platz angewiesen,
wie das klarer noch in dem medizinischen Schrankvers der Sevillaner
bischöflichen Palastbibliothek zum Ausdruck kommt, der die Aerzte-
heiligen Kosmas und Damian neben Hippokrates und Galenos
stellt. Die Medizin war durch Cassiodor und IsiDOR wie zur Zeit
des antiken Rom auf der Höhe der Republik und des Kaiserreiches
zu einem Teil der Allgemeinbildung (der Kleriker) geworden. Das
gliederte sich trefflich ein in die Missionsbestrebungen der Kirche
und in die Pflege der Karitas, die in den Infirmarien der Klöster
Krankenpflegeräume schuf, zunächst für die Ordensbrüder und
Novizen. Der heilkundige Ordensbruder mit seinem Kräutergarten
Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in Westeuropa. 175
und den Laden und Fächern seiner Kräuterkammer, die stets vvohl-
gefüllt waren, wie auch im Palaste des Bischofs von Sevilla, wovon
noch Kräuterverse Kunde zu geben scheinen — dieser Bruder und
seine Hausapotheke wurden
n
aber auch weithin für die
ländliche Umgebung der
Klöster eine Stelle der Rats-
erholung und der Arznei-
belehrung, wie der Planent-
wurf eines Klosterneubaues
in St. Gallen und die Brief-
formularien von der Reiche-
nau eindringlich lehren. Sol-
chermaßen, wie in der ab-
schriftlichen Ueberlieferung
spätantiken Wissensgutes, ist
die „Mönchsmedizin" in die
Erscheinung getreten in der
Nachfolge vorderasiatischer
Vorbilder aus den Tagen der
Kirchenväter.
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Abb. 84. Stück aus dem Klosterbauplan von
St. Gallen (Schwerkrankenzimmer, Arztwohnung,
Kräuterkammer, Kräutergarten) aus dem Jahre 820.
Hier ist auf einen beach-
tenswerten Umweg hinzu-
weisen, den die antike Kultur
über die unruhigen Jahrzehnte
der Völkerwanderung, schein-
bar aber doch nur scheinbar
ausschließlich, genommen hat
in die Tage der karolingischen
Renaissance. Denn wie vorher
schon zu den Zeiten der Marcellus, so hat auch in den Merowingerzeiten
direkt ein bescheidenes Hinüberströmen altklassischer Medizinreste
nach Gallien und das westliche Germanien noch stattgefunden. Den
Beweis dafür bringt der schon genannte diätetische Brief des
Anthimus an Theuderich, der in Metz seine Residenz hatte, wenn
er auch südliches Gallien mitbeherrschte.
Irland aber hat recht früh unter direktem griechischem und
auch morgenländischem Einfluß gestanden; man verstand dort zu
Beginn des Mittelalters noch Griechisch. Ob Medizinisches mit die-
sem gelehrten Import auf die grüne Insel kam, davon wissen wir
nichts. Rom hat dort nie geherrscht, wohl aber im südlichen Eng-
1 7 6 Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in Westeuropa.
land, wo auch Laienschultraditionen in bescheidenem Maße lebendig
blieben, bis Gregor der Große seine Missionäre zu Ende des 6. Jahr-
hunderts nach England schickte, die dort Klosterschulen ins Leben
riefen. Aus diesen nahm dann auch das lerneifrige Irland vieles
herüber. In England herrschten damals schon die Angelsachsen,
und bei ihrem größten Gelehrten des Mittelalters, bei Beda dem
Ehrwürdigen (68o — 735), sehen wir auch das medizinische Einzel-
wissen jener vorkarolingischen Uebergangszeit lebendig, das von
nun ab Iren und Angelsachsen samt anderem klassischem Wissens-
gut eifrig, durch Frankreich, das westliche Deutschland und die
Schweiz bis nach Oberitalien wandernd, verbreiteten. Luxeuil, Fulda,
Reichenau, St. Gallen, Bobbio waren so einige ihrer Etappen. Beda
verdankte IsiDOR manches, auch Medizinisch-Naturwissenschaftliches
(meist apogryphes), wie besonders eine, auch im Namen, an IsiDORS
Buch „De natura rerum" anknüpfende Schrift dartut.
Von der damaligen medizinischen Gebrauchsliteratur haben wir
heute nur kleine Einzelstücke und Fragmente über Aderlaß und
Säftelehre, kritische und ägyptische Tage, Rezeptarienfragmente und
ähnliches, zum Teil mit berühmten antiken Aerztenamen gestempelt,
namentlich auch Stücke aus der ärztlichen Briefliteratur des Spät-
hellenismus, bald als galenisch, bald als hippokratisch ausgegeben.
Auch Jahreszeiten- und Monatsdiätetik ist nicht selten darunter.
Die latinisierten echten Schriften der Heroen antiker Heilkunde
wurden daneben beim Abschreiben nicht vergessen, wenn auch der
Widerspruch gegen die pflegsame Weitergabe dieses antiken heid-
nischen Wissensgutes noch nicht verstummt war. Das tut eine Bam-
berger Selbstverteidigung eines von der großen Wichtigkeit gerade
dieses Schrifttums aus der Heidenzeit überzeugten Klerikers dar, die
anscheinend ein deutscher Mönch der zweiten Hälfte des 8. Jahr-
hunderts verfaßt hat. Sie lehnt sich mit Wärme an IsiDOR und
Cassiodor an, an ersteren auch Hraban, der Schüler des wissen-
schaftlichen Beraters Karls des Großen, Alchvine des Angelsachsen.
Kurz nach dem Tode des Kaisers, der wie alle Wissenschaften so
auch die Medizin zu pflegen suchte, schrieb Hrabans begabter
Schüler auf der Bodenseeinsel Reichenau, Walahfrid (Strabo), noch
in jungen Jahren (828 n. Chr.) 444 Hexameter über die Heilwir-
kungen der Kräuter seines Klostergartens, seinen „Hortulus", der
schon den feinen Geist des späteren Abtes erkennen läßt. Walah-
frid kennt noch den Serenus; sein Klostergenosse Jacobus hatte
ihn, wie seine 20 Heilkräuterverse besagen, im Auftrage Kaiser
Karls handschriftlich überliefert.
Eine wohl noch in der vorkarolingischen Uebergangsepoche
entstandene, spätestens in den Anfang des S.Jahrhunderts zu setzende
Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in Westeuropa. 1 7 7
kompilatorische Arbeit des Mittelalters ist die vor allem auf der
CAELIUS-Literatur sich aufbauende „Concordantia Ippocratis, Galieni
et Suriani", eine Art Leitfaden der medizinischen Praxis, der eben
herausgegeben wird. Er hat sich in zwei Handschriften in Deutsch-
land erhalten und fand bis ins 10. Jahrhundert Verwendung im
Unterricht der französischen klerikalen Medizinschulen, besonders in
Chartres, wo der Franke Heribrand als Lehrer der Heilkunst da-
mals einen besonderen Ruf hatte, der neben diagnostischen und
prognostischen Schriften aus der Antike auch pharmakologische
(dinamidia. farmaceutica, butanica) und selbst chirurgische Schriften
vorlas und kommentierte, schließlich auch die genannte concordantia
„methodischer" Schulrichtung. Aber auch an anderen Schulen fran-
zösischer Klöster, besonders an der Loire in Marmoutier und Tours,
blühte der medizinische Unterricht im 11. und 1 2. Jahrhundert, wofür
besonders die Xamen Raoul-Leclerc und Guillaume Firmat ge-
nannt seien. Hier an der Loire wirkte auch der Kleriker Odo von
Meung (18 Kilometer unterhalb Orleans an der Loire gelegen), viel-
leicht an der Schule von Tours gebildet, jedenfalls mit der medizi-
nischen Literatur der Uebergangszeit vom Altertum zum Mittelalter
ziemlich vertraut. Von ihm stammt mit großer Wahrscheinlichkeit
— nur ein HuGO von Tours, gleichfalls aus dem 11. Jahrhundert,
kommt als Verfasser neben ihm vielleicht noch in Frage — ein la-
teinisches Kräuterarzneigedicht „De herbarum virtutibus", in 77 Ka-
piteln aus 2269 Hexametern bestehend, das als „Macer floridus"
durch das ganze Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert hinein in hoher
Schätzung stand. Der Pseudonyme Verfassemame geht auf die Er-
wähnung eines solchen Kräutergedichts in den Tristien des Ovid
zurück, verfaßt von Aemilius Macer aus Verona, der als Dichter
einen guten Namen hatte^ von dem uns aber nichts erhalten ist.
Das im letzten Viertel des 1 1 . Jahrhunderts entstandene Gedicht, für
das man (später) den Namen des Macer entlehnte, entnimmt sein
Wissen hauptsächlich der Medicina Pseudo-PHnii und den „Olera" des
Gargilius Martialis, ferner der alphabetisch umgearbeiteten und
bereichterten lateinischen DiOSKURlDES-Uebersetzung aus der Goten-
oder Langobardenzeit; auch die Gradusschrift des Konstantin von
Afrika, der 1087 gestorben ist, soll als Quelle herangezogen sein.
Darin wäre also schon eine literarische Einwirkung Süditaliens bezw.
Salernos auf die französischen Medizinschulen zu erkennen, die für
das letzte Viertel des 1 1 . Jahrhunderts wenig Walirscheinlichkeit hat.
Für die deutsche Seherin und Krankenheilerin HILDEGARD
von Bingen (1098 — 1179) kommt in ihren beiden medizinischen Ar-
beiten, der „Physica" und der , Causae et Curae", beide durch reich-
liche Einsprengungen deutscher Bezeichnungen ausgezeichnet, so-
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Mediitn. 12
178 Erste Aneignung antiker medizinischer Hinterlassenschaft in Westeuropa.
wohl Konstantin von Afrika als auch französiches Denken und
Lehren aus Tours und Paris bestimmt in Betracht, darunter aller-
dings der große deutsche Victoriner Hugo. Odo und Hilde-
gard kennte man wohl als die literarischen Höhenpunkte der mittel-
alterlichen Klerikermedizin, der „Mönchsmedizin" bezeichnen, wenn
man diesen Terminus überhaupt beibehalten will. Literarisch herrschte
in Frankreich und wohl auch in Deutschland das gelehrte Kleriker-
tum bis zum Ende des 12. Jahrhunderts völlig zweifellos in der Me-
dizin, wenn auch Salernitaner Aerzte schon da und dort sich be-
tätigten, unter denen ja stets auch Kleriker gewesen sind. Kon-
stantin von Afrika, der als Benediktiner von Monte Cassino sein
Leben beschloß, war in seinen Schriften im 12. Jahrhundert in ganz
Westeuropa weithin bekannt, auch in Deutschland. In ISIieder-
deutschland ist zu Ende des 1 1. Jahrhunderts schon ein Salernitaner
Arzt Adamatus an Bischofshöfen nachweisbar. Weit eindringlicher
wirkt aber die Schilderung RiCHERS von Rheims vom Auf ein ander-
platzen eines ungenannten Salernitaner Praktikers mit dem Vertreter
der französischen gelehrten Klerikermedizin Derold, später Bischof
von Amiens, am Königshofe Karls HL, des Einfältigen (8g8 — 929).
Leibarzt des Königs war der genannte Derold; die Königin hatte
aber einem Salernitaner Laienarzte ihr ganzes Vertrauen geschenkt,
von dem der Kleriker RiCHER behauptet, zweifellos gestützt auf fran-
zösische klerikale Ueberlieferung, daß er keinerlei gelehrtes Wissen
besessen habe, wie sich bei den Wortkämpfen der beiden Aerzte
beim Nachtisch der königlichen Tafel zur allgemeinen Belustigung
herausstellte. Daß der Klerikerarzt französischer Prägung dem Laien -
arzte aus Salerno auch in der ärztlichen Praxis überlegen war, sucht
RiCHER durch die größere Beherrschung der Gifte und Gegen-
gifte bei Derold zu erweisen, der seinen Nebenbuhler fast ums
Leben gebracht hätte, während dieser ihm nicht viel anzuhaben ver-
mochte, was man aber ebensogut als ein Zeugnis für schlichtere Bie-
derkeit der Schule zu Salerno verwerten könnte. Jedenfalls spiegelt
sich in der ganzen, anekdotenhaft zugespitzten Erzählung der scharfe
Gegensatz wieder, der schon zu Anfang des 10. Jahrhunderts zwi-
schen der Gelehrsamkeit der Klosterschulen und dem traditionellen
ärztlichen Können Salernos und wohl Süditaliens überhaupt bestand.
Abb. 85. Meerbusen von Pesto mit Salemo, von Norden gesehen.
Salerno. .
Laudibus etemum nullus negat esse Salemum.
Illuc pro morbis totus circumdatur orbis,
Nee debet spemi, fateor, doctrina Salemi.
Der deutsche „Archipoeta" (1165).
Daß Salernum am Golfe von Paestum, geschützt durch hohe
Bergzüge im Norden und Osten, ein guter Aufenthalt, vielleicht
sogar eine Art Luftkurort schon zur frühen Kaiserzeit Roms ge-
wesen ist, kann man zur Not aus der 15. Epistel des Horaz an Vala
herauslesen. Daß dort schon in den Tagen der Antike eine höhere
Schule oder sogar eine Aerzteschule gewesen sei, dafür fehlt jeder
ernsthafte historische Beleg.
Wie die Erzählung RiCHERS von Rheims dartut, die im letzten
Jahrfünft des 10. Jahrhunderts aufgezeichnet ist, hat eine Aerzte-
korporation, der man .schon eine gewisse Autorität zuerkannte und
die auf die Ausbildung von Schülern in der Heilkunde bedacht war,
bereits im 9. Jahrhundert zu Salerno bestanden, vielleicht schon
während dessen ganzer Dauer.
Die Grundbedingungen für eine Pflegestelle ärztlicher Kunst
und Lehre waren in Salerno zweifellos vorhanden. Herrliche Lage
an einer weiten Meeresbucht. Gegen Nord- und Ostwinde boten
hohe Bergmassen Schutz, in die sich grüne Waldtäler, durchströmt
von frischen Quellbächen, hineinzogen, darüber ein südlicher Himmel,
im Hafen reger Verkehr, der auch uraltem Wallfahrtsbrauche förder-
lich war (Abb. 86). Zahlreiche Kranke kamen zu Schiff oder wurden
von den Bergen nieder zu den Gnadenstätten geleitet. Ein gutes
Verhältnis zwischen Priesterschaft und Aerztegilde gedieh beiden zum
Vorteil. Man hatte die Bereiche klug gegeneinander abgegrenzt.
Die sich entwickelnde Schule ward als Laienschule durchgeführt, ohne
i8o
Salerno.
antiklerikal zu werden. Laien ärzte und Klerikerärzte wirkten in Kunst
und Lehre friedlich nebeneinander; doch scheint die Mehrzahl der
Aerzte verheiratet gewesen zu sein, was für die Frauen- und Kinder-
praxis seine in die Augen fallenden Vorteile hatte. Manches Aeußer-
liche erinnert in der „Civitäs Hippocratica", wie Salerno bald sich
nannte, an Kos; die Bedingungen des Gedeihens waren in mehrfacher
Hinsicht verwandte.
Abb. 86. Lage der Stadt Salerno im Schutze der Berge, von Süden gesehen.
Vom frühen Lehrgang der Salernitaner Aerzteschule wissen
wir nichts Greifbares. Daß sie sich zunächst mit dem allgemeinen
in Süditalien und im weiteren Westeuropa vorhandenen latinisierten
antiken Lehrgut der Medizin behalf, ist anzunehmen. Man war aber
in Salerno den Aneignungsbestrebungen weiteren griechischen medi-
zinischen Wissensgutes nahe, räumlich und zeitlich, die im 6. — S.Jahr-
hundert sich in den zweisprachigen Gebieten des Südens der
Apenninenhalbinsel ausgewirkt haben, ohne daß war dafür bis heute
bestimmte Zentren genauer anzugeben wüßten. Man kann so gut
von Sizilien als von Benevent oder auch von Salerno, oder besonders
von südlicher gelegenen Gegenden des Festlandes reden. Auch die
Gegend von Otranto kommt ernstlich in Frage neben Tarent. In
Otranto lebte und wirkte ja Sabbatai bp:n Abraham, den man
Donnolo, „das Herrchen", nannte, und der dort im g. oder lo. Jahr-
hundert ein hebräisches Antidotarium zusammenschrieb.
Wir wissen nicht, ob sich gerade Salerno an der Uebersetzer-
arbeit beteiligte, wo man ja auch noch ein wenig Griechisch ver-
stand, wie das schon der Handel nach der Levante mit sich brachte,
der in Salerno niemals ganz gering war und mit dem Ende des
I I.Jahrhunderts durch das Einsetzen der Kreuzzüge (seit logö) einen
starken Aufschwung nahm. Mit dem gleichen Zeitpunkte setzt auch
der literarische Aufschwung Salernos ein, den ich als „Hochsalerno"
Salerno. 18 1
bezeichne, der mit dem Bekanntwerden der Schriften Konstantins
von Afrika anhebt. Völlig zufällig wird die Koinzidenz des starken
Aufschwungs der Medizinschule von Salerno mit der Zeitperiode der
Kreuzzüge nicht sein, aber die Wurzeln ihrer literarischen Blüte
treiben doch aus anderen Befruchtungsmomenten. Wenn man in
den Zeiten Frühsalernos im 9., 10. und 11. Jahrhundert nicht direkt
an der iVneignungsarbeit aus dem Griechischen beteiligt war, so
hatte man doch an ihrem Gewinne völligen Anteil. Man scheint
aber in jenen frühen Jahren sein Hauptbestreben darauf verlegt zu
haben, das, was in praktischer Uebung der Heikunde, an ärztlicher
Kunst in familiärer und körperschaftlicher Ueberlieferung aus den
Tagen Altroms und der Magna Graecia noch irgend lebendig war,
zu hegen und zu pflegen und weiterzuvermitteln an Schüler und
Gildengenossen in patriarchalischer Form. Man fühlt sich als Erbe
dieser antiken Kunstübung, antiken Könnens und freut sich frühe
des Ehrennamens einer „Civitas Hippocratica", der für uns ja einen
Gleichklang an die Academia Hippocratica von Gondeschäpür weckt,
aber gewiß nicht in Gedanken daran sich anschloß, wenn auch
Cassiodor seine Universitätsideen aus Syrien geholt haben mag,
mit denen er frühe in seinem „Vivarium" Abendländisches an Morgen-
ländisches erneut knüpfte.
Daß man im Unterricht der fachlichen Lehrfibeln in Diagnostik,
Prognostik, Grundanschauungen der Physiologie und Pathologie nicht
entbehren konnte, ebenso wenig wie für die Praxis der pharmako-
logischen und therapeutischen Leitfäden, ist klar. Dafür mußte
die literarische Tradition herhalten, die die Uebersetzungsliteratur
spendete. Von der Entstehung eines unentbehrlichen aufgezeich-
neten Behelfes des täglichen Bedarfs der Praxis im Lehrkörper von
Salerno scheint uns noch eine dunkle Kunde aus der Jugendzeit
der Schule übermittelt zu sein in den Worten einer Legende von
7 Meistern: „tunc temporis fecerunt et composuerunt librum, qui
vocatur Antrorarium"; ein Antidotarium, eine Sammlung von Ge-
brauchsformeln gangbarer Heilmittel, ein Büchlein, in w-elchem die
überkommenen und erprobten Magistralformeln der Schule, der
Arzneischatz von Salerno aufgezeichnet war. Daß darunter viel
Eigenes gewesen wäre, braucht gar nicht angenommen zu werden;
das liegt dem Mittelalter noch auf Jahrhunderte fern. Das U eber-
komme ne hat Wert; man muß es sich nur aneignen. Und gerade
der Aneignungsvorgang ist das Wichtige, darin kommt der Schul-
wille zum Ausdruck. Man sichtet und schweißt kleine Sammlungen
von Rezepten und einzelne Anweisungen zusammen und freut sich
gleichzeitig der mit Einzelrezepten errungenen Erfolge in der Sprech-
stunde und am Krankenbett, die die tägliche Erfahrung köstlich
i82 Salerno.
mehrt. Gemeinsame Schätzung festigt das Vertrauen, den Glauben
und die Sicherheit der Schule in der Uebung ihrer Kunst.
Im „Antidotarium Nicolai" haben wir wohl die spätere Redaktion
dieses altüberkommenen, als Ganzes oder stückweise aus der Antike
übernommenen „Antrorarium" heute noch erhalten, das in der hand-
schriftlichen Ueberlieferung der Zeit um iioo nicht viel mehr als
50 — 60, später 140 — 150 Arzneiformeln mit Angabe ihrer Wirkung
und Anwendungsweise enthält, bald kommentiert, ständig erweitert
und mit Darstellungsvorschriften in besonderer Ausarbeitung und
Zusammenstellung ergänzt wurde. Vermutlich wird sich das Proto-
typ der ersten Sammlung aus der Antike in der Literatur des
5. — 8. Jahrhunderts noch wieder auffinden lassen. Wohl möglich,
daß der im 12. Jahrhundert als Verfasser angeblich genannte Nico-
laus, der sich echt hochmittelalterlich als „rogatus a quibusdam"
einführt, dennoch ein Pseudonymus ist, der durch den NiCOLAOS
Alexandrinos sich erklären würde, von dem Aetios als Verfasser
eines Aovafispöv spricht, von dem im 11. oder 12. Jahrhundert eine
flüchtige Kunde nach Salerno verweht sein könnte, eindringlich
genug, um darin den wahren Verfasser des altbewährten, noch täg-
lich benutzten Antidotars zu vermuten.
Ueber den Gariopontus oder Warimpotus, den man zu dem
festen Bestand von Frühsalerno zu rechnen mehr als billig sich
gewöhnt hat, habe ich mich schon oben ausgesprochen. Form und
Inhalt gehören ins 8. Jahrhundert, während allerdings nach dem
Bericht des Petrus Damiani in seinen Briefen um 1050, also gegen
Ende von Frühsalerno, als Zeitgenosse des CONSTANTINUS ein
„Guarimpotus senex" als Gelehrter und [!] Arzt lebte (apprime literis
eruditus ac medicus), offenbar ein Kleriker. Daß er sich mit dem
pseudogalenischen „Passionarius" literarisch befaßt hat, ist immerhin
möglich, da mehrere Handschriftensubskriptionen dies berichten,
z. B. eine in Peterhouse-College zu Cambridge: „Iste liber ex di-
versis auctoribus seil. Paulo et Alexandro ceterisque a domno Warim-
poto compositus", wenn auch die Quellenautoren dieser und anderer
Nachschriften nicht recht stimmen. Wie wenig Wert das nächste
Jahrhundert, das eigentliche Hochsalerno, auf die Arbeit des ge-
lehrten Langobarden an dem ehrwürdigen Handbuch medizinischer
Praxis legte, dürfte die Tatsache einwandfrei festlegen, daß der Arzt
Archimatthaeus, der den Copho und Johannes Ppatearius
in seinem „Modus medendi" bearbeitet hat, nicht von Guarimpotus
spricht, sondern den „Galienus in passionario" zitiert, ebenso andere
Autoren Hochsalernos ; so spricht auch der unbekannte Verfasser
der Fieberlehre, welche die große Salernitaner Autorenkonkordanz
Salemo.
183
des Breslauer Kodex über Krankheitsheilung eröffnet und um 1150
zusammengestellt ist, einfach vom „Passionarius", wie das Buch da-
mals schon seit etwa 4 Jahrhunderten hieß.
Neben Warimpot werden unter den Frühsalernitanern noch
andere Männer offenbar langobardischer Herkunft genannt, wie
Ragenifrid, Grimoald u. a. ; als Schriftsteller haben sie aber
keinen Xamen bekommen und mit Recht.
Auf älteres Literaturgut der früheren Uebergangszeit vom Alter-
tum zum Mittelalter geht auch das als „Practica Petrocelli, Petron-
celli, Petricelli oder Petronii" etwas verschwommen ü eberlieferte
zurück ; schon die vielen Narnensformen mahnen zur Vorsicht, doch
wird das vorkonstantinische Alter dieses Schriftwerks schon dadurch
gewährleistet, daß es recht früh ins Früh-Mittelenglische übersetzt
wurde. Vermutlich besteht hier das gleiche Verhältnis, daß ein
altes Werk, dessen Redaktion in die Uebergangszeit zurückgeht, mit
einem wirklichen Salernitaner des mittleren oder zu Ende gehenden
II. Jahrhunderts in Verbindung gebracht ist, wie bei dem Warim-
POTUS. Die Sache wird aber in diesem Falle noch dadurch kom-
pliziert, daß der angebliche Verfasser der „Practica Petrocelli" in der
zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts vermutlich nachkonstantinisch
oder zu dessen Lebzeiten wirklich selbst als Salernitaner Autor auf-
getreten ist und in der Weise der früheren Autoren von Hoch-
salerno „Curae" verfaßt hat, die zerstreut neben Ferrarius, Bar-
THOLOMAEUS und Platearius im Breslauer Codex Salernitanus aus
der Mitte des 1 2. Jahrhunderts
sich erhalten haben unter dem
Namen des Petronius. voll-
ständig, wie es scheint, als
„Curae Petroncelli" in einer
Handschrift der Ambrosiana zu
Mailand, die noch gründlicher
untersucht und veröffentlicht
werden sollte. Vermutlich ist
die „Practica Petrocelli" auf der
Pariser Nationalbibliothek Pseu-
donym, aber an sich ein überaus
wertvolles Stück frühmittelalter-
licher medizinischer Literatur,
das mit Salerno und seiner
Schule in gar keiner Beziehung
? , , r. , Abb. 87. Galenos als InitiaUnld eines in
weiter steht, als daß es dort p^ihsalemo noch in Gebrauch stehenden
in den Tagen von Frühsalerno Pseudonymen „De pulsibus el urinis" im
wie anderwärts benutzt wurde. Breslauer Kodex (ca. ii6o)-
P5k
i84
Salerno.
Und solcher literarischer Frühprodukte aus der Antike oder der
Ueberg-ang-szeit g-ab es noch manches neben „Warimpotus'' und
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Abb. 88. Die Anfangsseite (Bl. ii3r) des Breslauer Codex Salerintanus (Stadtbibliothek
Ms. 1302), Liber de Febribus magistris Ferrarii).
„Petroncellus", meist kleine Stücke, z, B. über die Viersäftelehre, über
die Komplexionen und Aehnliches, Auch über die Krankheiten der
Salerno. 1 85
vier Körperregionen en (anklingend an pseudohippokratische Episteln)
und über die Aderlaßlehre waren Schriften kleineren Umfangs in
Salerno im Gebrauch, daneben ein Fiebertext, der offensichtig aus
der pneumatischen Schule stammt und sich einmal auf Magnos,
einen Schüler des Athexaios von Attaleia, beruft. Ein „Liber de
agnoscendis febribus ex urinis" unter dem Namen eines Alexander,
vielleicht des Trallianers, findet sich lateinisch im berühmtesten Sammel-
kodex der Salernitaner Literatur, einer schon mehrfach genannten
Handschrift des Breslauer Magdalenen-Gymnasiums, auf welcher ihr
Entdecker Henschel und seine Nachfolger die gesamte Literatur
von Früh- und Hochsalerno, die wir noch kennen lernen werden,
völlig neu aufzubauen vermochten. Dieser Kodex ist um 11 60 — 1170
in Salerno selbst geschrieben; aus ihm kennen wir auch fast alle
eben angeführten kleineren Texte und sind über ihre Benutzung in
Salerno durch ihn unterrichtet. Warimpot, Petroncellus und
das sogenannte „Antidotarium Nicolai" haben darin allerdings keine
Aufnahme gefunden, obgleich sie dem Sammler und seinen Autoren
wohl bekannt waren.
Ein Zeitgenosse des gleich zu besprechenden KONSTANTIN war
schließlich Alfanus, der zuerst Arzt in Salerno gewesen, dann
mit Desiderius nach Monte Cassino als Mönch übergesiedelt sein
soll und schließlich als Alfanus I. (1058— 1085) Erzbischof von
Salerno wurde. Jedenfalls war er ein gelehrter, mehrerer Sprachen
kundiger Mann ; er hat unter dem Titel „Premnon physicon V des
Bischoffs Nemesios bekannte Schrift „Ueber die Natur des Menschen"
(ca. 380 n. Chr.) aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt, ist
also eigentlich im Bereiche seines kirchlichen Amtes geblieben und
bildet eine späte Bewahrheitung der völlig unbestimmten Vermutung,
daß auch das frühe Salerno sich an der Ueberleitung griechischen
medizinischen Literaturgutes in das abendländische Latein beteiligt
habe, wenn Alfanus in Salerno weilte, als er den Nemesios über-
setzte. Die Tatsache tritt aber darum völlig zurück, weil sie sich
erst in der zweiten Hälfte des 1 1. Jahrhunderts ereignete, als ein
anderer nach Italien gekommen war, der in großzügigster Weise
griechisches und arabisches Aerztewissen in breitem Strome in das
schmale Literaturbett von Salerno einmünden und damit eine völlig
neue Epoche für das Lehrstädtchen am Golfe von Pesto und zugleich
für das ganze Abendland anheben ließ —
Konstantin von Afrika.
i) Von Alfanus selbst „Stipes naturalium" übersetzt, also etwa ..Stamm,
d. i. Grundlage der Natur- und Heilkunde".
1 86 Salerno.
Ums Jahr 1020 in Karthago geboren, hat Konstantin Aegypten
und Syrien aus Wissensdrang besucht. Daß er allzuweit in das
Herz der islamischen Kulturländer eingedrungen sei, ist kaum an-
zunehmen, denn von AviCENNA (f 1037) hatte er offenbar keine
Kenntnis erlangt. Die Berichte über seine Orientreisen sind zweifel-
los stark übertrieben. Sein Besuch Konstantinopels ist ungewiß.
Jedenfalls hat er sich eine genügende Kenntnis des Arabischen,
Lateinischen und auch Griechischen angeeignet, wie sie ja dem
Geschäftsverkehr Karthagos, Siziliens und Süditaliens nach der Le-
vante hin in mäßigem Grade eignete. Mit arabischen medizinischen
Werken, namentlich des i o. Jahrhunderts, ausgestattet, kehrte er nach
Karthago in den 50er Jahren des 11. Jahrhunderts zurück, wo er
den Boden für seine Bestrebungen nicht geeignet fand. Daß er
wegen der unheimlichen Tiefe seines Wissens dort Verfolgungen
habe erdulden müssen, ist abermals Ausschmückung. Etwa ums Jahr
1065 oder kurz nachher setzte KONSTANTIN nach Italien über, wo
eben das Sarazenentum seine letzten Herrschaftskämpfe um Sizilien
bestand und verlor. Arabische Kultur blieb aber in Sizilien und dem
benachbarten Süditalien noch für zwei Jahrhunderte ein wichtiger Faktor
unter der Einwirkung ihr wohlgeneigter mächtiger Herrscherpersön-
lichkeiten unter Normannen und Staufern. Konstantin wurde zum
ersten großen Interpreten der älteren Medizin des Islam für das
Abendland; er ist der erste, dem Namen nach bekannte Uebersetzer
aus dem Arabischen in das Lateinische überhaupt, und was er über-
setzte, war ausschließlich Medizin. Zwar war die frühe Medizin
des Islams zweifellos schon vor ihm während der Sarazenenherrschaft,
die rund 200 Jahre gedauert hatte, in Sizilien und darüber hinaus
gewiß nicht völlig unbekannt geblieben. Und doch wirkte sie in
der lateinischen Bearbeitung des Konstantin wie eine Offenbarung.
Konstantin soll in die Dienste des Normannenherzogs Robert
Guiscard getreten sein, der (seit I075) in Salerno residierte ; auch mit
der Medizinschule von Salerno werden sich einige Beziehungen ge-
knüpft haben, wenn auch eine eigene Lehrtätigkeit Konstantins
dortselbst unbewiesen und nicht gerade wahrscheinlich ist. Um 1076
zog er sich nach Monte Cassino zurück, wo damals eine gewisse
Blüte wissenschaftlichen Lebens dank dem bedeutenden Abte Desi-
derius herrschte. Hier vor allem hat Konstantin bis zu seinem
Tode (1087) die literarische Aufgabe seines Lebens erfüllt und die
Schriften lateinisch bearbeitet, deren Herausgabe den „Monachus Ca-
sinensis" zum „Orientis et occidentis magister novusque effulgens
Hippocrates" gemacht haben soll, wie Kassineser Chroniken über-
treibend sagen, ihn aber tatsächlich zum Lehrmeister des medizinischen
Abendlandes werden ließ. Sein wichtigstes Werk ist die freie lateinische
Salerno. 187
Bearbeitung des „Liber regalis" des 'Ali ibn al-'Abbäs in seinen
10 theoretischen und 10 praktischen Büchern, das er recht glücklich
als „die ganze Kunst", Pantegni (HavTs/VY]) in Theorica und Practica
bezeichnete. Den Namen des Verfassers hat er allerdings ver-
schwiegen, was ihm schon 40 Jahre nach seinem Tode Stephanus
von Antiochia in seiner wortgetreueren, aber weniger gut lesbaren
Uebersetzung des gleichen Buches mit Recht zum Vorwurf ge-
macht hat, von seinem Verdienst aber, eines der besten arabischen
Handbücher der Gesamtmedizin dem Abendland bekannt gemacht
zu haben, nichts wegnimmt. Dies „Pantegni" hat denn auch einen
gewaltigen Eindruck gemacht und ist weithin benutzt worden, neben
ihm hauptsächlich das kurze Lehrbuch der Heilkunde zum Reise-
gebrauche des Ihn al Dschazzär, der „Viaticus", bei dem er sich
gleichfalls als Verfasser ausgibt. Weitere Uebersetzungen aus dem
Arabischen betrafen hauptsächlich die diätetischen, Harn- und Fieber-
schriften des Isaak Judaeus. Was er aus arabischen Bearbeitungen,
zum Teil wohl auch direkt aus dem Griechischen (?) an Schriften des
HiPPOKRATES und Galenos dem Abendlande neu geschenkt hat:
die Aphorismen mit ihrem Galenkommentar, die Prognostica, die
Lebensregel bei akuten Krankheiten von HiPPOKRATES, die kleine
Kunst und die therapeutische Methode des Galenos („Tegni" und
„Megategni") hat mit Ausnahme der letzteren, umfänglicheren Schrift,
aber vermehrt durch die Harn- und die Pulsschrift des Theophilos-
Philaretos in lateinischer Bearbeitung (gleichfalls des Konstantin)
jahrhundertelang ein Handbüchlein antiker medizinischer Weisheit
im Mittelalter gebildet und noch viele Jahrzehnte in der gedruckten
Literatur der Renaissance als „Articella" das Bedürfnis der Aerzte
nach einem klassischen Aerzte-Brevier bestritten. Allmählich sind
ihm in den Drucken immer zahlreichere gangbare Schriften zuge-
wachsen; die „Isagogae Johannitii in artem parvam Galieni" hatte
Konstantin noch selbst hinzugetan.
Man kann sich den Einfluß der Konstantinischen Bearbeitungen
arabischer, altklassischer und einiger byzantischer Schriften zur Heil-
kunde kaum groß genug vorstellen, den der große französische
Medizinhistoriker Charles Daremberg durch ein Denkmal zu Sa-
lerno oder auf dem Gipfel des Monte Cassino durch einen Gelehrten-
kongreß aus allen Ecken Europas zum Ausdruck gebracht wissen
wollte. Am gewaltigsten war der sofortige Eindruck auf die Schule
von Salerno. Was in den 70er und 8oer Jahren des 1 1 . Jahrhunderts
von dem Kloster auf dem Gipfel des Kassineser Berges an Schriften
des Konstantin nach Salerno hinunterströmte, ist auch der Anlaß
zu der völlig unbegründeten Sage geworden, die Medizinschule von
Salerno sei von dem Benediktinerkloster von Cassino aus gegründet
i88 Salerno.
worden. Zu Salerno bestand schon eine bescheiden blühende ärzt-
liche Gildenschule, die in der Welt als solche bereits einigen Namen
genoß, als in dem Gründungskloster des heiligen Benedikt auf dem
Kassineser Berge, mehr als 150 km nördlich Salerno, Medizin oder
andere Klosterwissenschaft überhaupt noch keine Pflegestätte hatte.
Die Sage von der Gründung der Salernitaner Schule aus Monte Cassino
her ist wohl überhaupt nichts weiter als eine ausschmückende Ein-
kleidung der Erinnerung an die gewaltige Bedeutung, welche dem
Bekanntwerden Konstantinischen Schriftwerks von Monte Cassino
her innewohnte.
Abb. 89. Blick auf die Benediktinerabtei zu Montecassino.
Hatte man bisher am Golfe von Pesto die Heilkunde des Hippo-
KRATES, wie man glaubte, als Kunst redlich gepflegt und die in
der Kunstübung überkommene Heilweise unter Benutzung der spär-
lich überlieferten lateinischen Literaturreste, die zum Teil erst in der
Goten- und Langobardenzeit in Süditalien ihre Gestalt erhalten
hatten, an eifrige Schüler ständig weitergegeben, so lernte man nun
plötzlich etwas anderes kennen, das an Vollständigkeit der Lehre
und klarer, methodischer Formgebung die bisherigen Lehrbehelfe
himmelweit überragte — von hervorragenden Meistern des Islams ge-
ordnete und gepflegte Griechenweisheit in wohlverständlicher Sprache.
Eifrig trank man an den neu erschlossenen Quellen, und das flüssige
Latein des Konstantin löste auch den lehrerfahrenen Salernitaner
Salemo. 189
Kleistern die Zunge. Aus der täglichen Uebermittlung des Kon-
stant] nischen Schriftinhaltes an die begierigen Schüler bildete sich
der junge Salernitaner Schulstil. In wenigen Jahrzehnten erwuchs in
Salerno, anfangs in naher Anlehnung an Konstantin selbst und
fachlich überhaupt nur wenig über ihn hinausgreifend, aber das Xeue
mit dem trautüberkommenen Alten innig vermählend, eine beträcht-
liche eigene salernitanische Literatur, vorwiegend praktischer Art,
die in ihrer Ueberlieferungsform und ihren vielfach weit voneinander
abweichenden Varianten des Textes immer wieder ihre Entstehung
aus Lehrvorträgen und ihre Aufbehaltung in Vorlesungsnachschriften
(Kollegienheften) erkennen läßt.
Unter den Schülern des Konstantin, die uns auch als Autoren
von Hochsalerno begegnen, ist als erster und vielleicht einziger
direkter ein „Johannes Medicus" zu nennen, der als Johannes
AFFLACrrs bei einer Harnschrift und bei einer Practica und Fieber-
schrift als Autor im Breslauer Codex Salernitanus auftritt, einer schon
genannten Handschrift, die sonst mit Autorennennungen überaus
spärlich ist. Johannes war nach dem Tode Konstantins der Ver-
walter seines literarischen Nachlasses; es kann daher nicht wninder-
nehmen, daß sowohl seine Harnschrift als auch seine „Curae"' und
der ganze Inhalt dessen, das unter seinem Namen geht, in dem bald
zu besprechenden Sammelwerke salernitanischer Therapeutik, mit
einem Werke aufs engste übereinstimmen, das als „Liber aureus" in
der Baseler Ausgabe der Werke des Konstantins steht. Auf jeden
Fall wäre gegen Ende des 1 1 . Jahrhunderts die Lehrausarbeitung
des Afflacius von der Lehre seines Meisters durchaus nicht ver-
schieden gewesen.
Besonderen Ruhm erlangten in der aufblühenden Schule in den
Zeiten von Hochsalerno Magister Johannes Platearius (a Platea).
Magister Bartholomaeus, Magister Copho und Magister Fer-
RARIUS als hervorragende Praktiker. Die Practica „Brevis" des
Johannes a Platea war am längsten beliebt und wurde noch im
16. Jahrhundert mehrfach gedruckt. Die volle Vermählung alter
Salernitaner Lieber lieferung aus der Antike mit Konstantinischem
Import betont schon äußerlich Magister BARTHOLOMAEUS, indem er
sein praktisches Buch als „Introductiones et experimenta in practicam
Hippocratis, Galieni, Constantini" bezeichnete. Das Buch hatte frühe
weithin großen Ruf. wenn auch das, was unter deutschen Arznei-
büchern seit dem 12. und 13. Jahrhundert seinen Namen führt, nur
in bescheidenem Maße sich an ihn wirklich anlehnt, im übrigen den
igo
Salerno.
Rezeptarien entlehnt ist, die bis in die Karolingerzeit und weiter
zurück gehen.
Ein bedeutender Arzt war ohne Zweifel auch COPHO, von dem
wir noch eine Practica besitzen, welche naeh einer ausführlichen
Pathologie und Therapie der Fieberarten eine Lokalpathologie vom
Kopf bis zu dem unteren Rumpfende gibt und manches Eigene hat.
Auch mit der Pharmazeutik scheint COPHO sich besonders beschäftigt
zu haben; zahlreiche Arzneivorschriften sind mit seinem Namen ge-
ziert, auch berufen sich spätere Autoren gern auf ihn als ihren
Lehrer und Gewährsmann. Weniger tritt Ferrarius hervor, von
dem wir eine Fieberschrift noch besitzen.
Aus allen Genannten hat man schon um die Mitte des 12. Jahr-
hunderts einen umfänglichen Traktat „De aegritudinum curatione" vom
Kopf bis zu den P^üßen zusammengestellt, in welchem auch die
Fieberlehre Aufnahme fand und die genannten Autoren meist sorg-
fältig bei den ihren Schriften entnommenen Abschnitten genannt
sind, gleichsam als Handkonkordanz des therapeutischen Wissens
von Hochsalerno. Freilich hat diese Sammelschrift bisher nur der
berühmte Breslauer Codex Salernitanus uns überliefert, der mit einem
Schlage unsere literarische Kenntnis von Salerno so gewaltig erweitert
hat, daß der Neapolitaner Arzt DE Renzi daraufhin mit Henschels
und Darembergs Unterstützung die Herausgabe seiner 5-bändigen
„Collectio Salernitana" wagen konnte. Solange aber die Sammlung
„De aegritudinum curatione" tatsächlich nur im Salernitaner Codex
zu Breslau gefunden wird, kann die Annahme nicht abgewiesen
werden, daß wir es bei ihr nur mit der Sammelarbeit eines Einzelnen
für eigenen Gebrauch und nicht mit der Handkonkordanz einer
Schule zu tun haben.
Gleichzeitig mit Copho schrieb ein „Archimatthaeus" gleichfalls
eine Practica, die insofern einen gewissen Fortschritt bedeutet, als
sie selbstbeobachtete Kuren zusammenstellt und die Kasuistik ein-
flicht, also die in späteren Jahrhunderten in Schwang kommende
Literaturgattung der „Consilia medica" andeutend vorwegnimmt und
stellenweise in der Art klinischer Vorträge abgefaßt ist. In einer
originellen allgemeinen Therapeutik, betitelt „De modo medendi",
stützt sich Archimatthaeus, wie er im Anfang seiner Arbeit be-
merkt, auf Johannes a Platea und auf Copho. Solche Darstel-
lungen der allgemeinen Heilungsprinzipien waren in Salerno an-
scheinend ein beliebter Vorwurf; denn wir besitzen noch eine andere,
offenbar frühere Ausarbeitung unter dem nämlichen Titel und gleich-
falls Salernitaner Literaturgut. Von ARCHIMATTHAEUS stammt ferner
die älteste mittelalterliche Einleitung in die Praxis, die zuerst als
„De adventu medici ad aegrotum", in gekürzter Form bekannt ge-
Salerno. 191
worden ist und allgemeines Aufsehen erregt hat ob der darin so
frühe schon gelehrten Grundlinien einer gesunden ärztlichen Politik,
samt Anweisungen zur Krankenuntersuchung, zur Prognosenstellung
und zum Entwurf eines diätetischen und arzneilichen Heilplanes.
Später fand man in Paris eine Handschrift der ausführlichen Ori-
ginalfassung als „Liber de instructione medici secundum Archimat-
thaeum". Die Urinschrift eines Matthaeus de Archiepiscopo schreibt
man wohl mit Recht dem gleichen Autor zu. Solcher Schriften
über die Harnschau besitzt die Salernitaner Schule unter der Ein-
wirkung der byzantinischen Harnschrift des Theophilos und der
früharabischen des ISHÄQ BEN Suleimax al-israili eine größere
Zahl, Ein Romualdus und andere schreiben über die Pulslehre.
Das altüberkommene „Antidotarium" wurde zur Zeit von Hoch-
salerno kommentiert und erweitert. Als Erweiterer scheint ein Niko-
laus aufgetreten zu sein (siehe jedoch S. 182); als Kommentator
tat sich Matthaeus Platearius hervor mit beachtenswerten
Glossen. Der gleiche Platearius gilt auch als Verfasser einer
überaus wichtigen Ergänzung zu dem pharmazeutischen Schulschatze
des Antidotariums, einer ausführlichen alphabetisch geordneten Arznei-
mittellehre, die als das „Circa ipstans" durch das ganze Mittelalter
unter Benutzung ihrer beiden Anfangsworte (wie bei den päpst-
lichen Bullen) bekannt war und weiteste Verbreitung genoß, ja in
alle Hauptsprachen Europas, beispielsweise in das Deutsche und
Französische übersetzt wurde.
In der ältesten auf uns gekommenen Gestalt besteht sie im Bres-
lauer Kodex ohne Nennung eines Autornamens aus 423 Abschnitten.
Gleich den pseudogalenischen Dynamidia in der vollständigen Ueber-
lieferungsform enthält der Breslauer vollständige „Liber simplicium
medicinarum" außer den eigentlichen Arzneimitteln auch die sämt-
lichen Nahrungsmittel als die Simplicia der diätetischen Therapie.
Und überdies sind diese Nahrungsmittel ganz besonders ausführlich
abgehandelt. Man hätte also dies erste ausführliche Handbuch der
Simplicien-Kunde, später, unter Ueberschätzung seines Bestandes an
eigentlichen Arzneistoffen, gekürzt und auf diese und obendrein noch
in einer Auswahl beschränkt. Ob Platearius, wenn wirklich der
Bestand des Breslauer Kodex den ursprünglichen Zustand überliefert
hat und nicht vielmehr eine Erweiterung desselben darstellt, diese
Auswahl getroffen hat, was mich einstweilen gar nicht wahrschein-
lich dünkt, oder ob man seine große Sammlung gekürzt hat und
diese gekürzte Form dann allgemeine Aufnahme gefunden hätte, ist
heute noch nicht mit voller Gewißheit zu entscheiden. Das Wahr-
scheinlichste ist die Erweiterung des „Circa instans" Platearii durch
einen Bearbeiter, die im Breslauer Sammelkodex überliefert ist
192
Salerno.
Als weitere Ergänzungen zum „Antidotarium Salernitanum"
waren in der Mitte des 12. Jahrhunderts schon im Gebrauch be-
sondere Ausarbeitungen über die Herstellung (Confectio) der Re-
zepte desselben, über Arzneiwässer, Oele, Sirupe, äußerliche Anwen-
dungsformen, Klystiere und Stuhlzäpfchen usw. Für das große „Circa
instans" gab es auch kürzere Parallelschriften, deren eine dem Kon-
stantin zugeschrieben wurde, aber wahrscheinlich erst nach Pla-
TEARius entstand und dem Johannes de Sancto Paulo zuzu-
schreiben ist, der auch ein Diätflorilegium hergestellt hat, das in
aller Kürze die Nahrungsmitteldiätetik Hochsalernos wiedergibt,
während zu gleicher Zeit, kurz nach der Mitte des 12. Jahrhun-
derts, MusANDiNUS über Bereitung von Speise und Trank für die
Kranken schrieb.
So überreich hat sich in kaum viel mehr als einem halben Jahr-
hundert in einem begeisterten Anlauf nach dem Tode Konstan-
tins die Literatur Salernos gestaltet, das damit seine literarische
Höhe erstieg, auf der als
besonders eindrucksvolle
ärztliche Denker- und wohl
auch Beobachtergestalten
Maurus und Urso zu
nennen sind. Die „Re-
gulae urinarum" des erste-
ren stellen zweifellos die
beste und ausführlichste
Darstellung der Harnlehre
der Salernitaner dar, wei-
sen aber schon schola-
stische Züge in ihrer Dar-
stellungsweise auf; seine
kleine Aderlaßschrift geht
zum erstenmal über die
in Salerno immer noch
in Gebrauch stehende, aus
der Antike überlieferte
kleine Aderlaßanleitung
hinaus, die als pseudo-hippokratische „Epistola de flebotomia" seit
Jahrhunderten in Wertschätzung stand. Maurus' Aphorismen-
kommentar ist nicht nur ein Zeichen, wie hoch immer noch der
große Koer in der „Civitas Hippocratica" geschätzt wurde, sondern
wie ernstes medizinisches Denken den alten Ehrenschatz zu meistern
und zu nützen bestrebt war. Noch höheren philosophischen Flug
Abb. 90. Harnschaubild (bisher ältestes bekanntes);
Initial zum Urintraktat des Maurus im Breslauer
Kodex (Bl. 1561-).
Salemo. 1 93
nimmt Urso, von dem sich im Breslauer Kodex aus der Zeit von
dessen Niederschrift schon kleine Stücke finden, welche die Schärfe
seiner logischen Erfassung allgemein naturwissenschaftlicher Fragen
erkennen lassen, von der sein Schüler Gilles de Corbeil be-
wundernd spricht, der 11 80 spätestens Salerno verließ:
„Strenuus ambiguos causarum solvere nodos."
Aber auch Ursos gute Beobachtungsgabe tritt klar hervor. Ursos
Harnschrift zeigt in ihrer Semiotik ein scharfes Unterscheidungs-
vermögen, das aber noch in weit größerer Schärfe und Klarheit in
den beiden Schriften über die Einwirkung der Qualitäten im all-
gemeinen auf das Naturgeschehene und auf den menschlichen Orga-
nismus insbesondere (De effectibus qualitatum) und die ^Yirkungen
der Arzneistoffe, angeschaut von der Qualitätenlehre aus (De effec-
tibus medicinarum), sowie über die allgemeinen Heilprinzipien her-
vortritt. Noch einleuchtender wird dies klar werden, wenn Ursos
„Aphorismen", eine Sammlung eigener Leitgedanken über Heilkunde,
und sein doppelter ausführlicher Kommentar dazu im Drucke er-
schienen sein werden.
Damit ist die literarische Höhe von Salerno erreicht, das sich
in raschem Anstieg aus jahrhundertelanger Pflege ärztlicher Kunst-
übung in eigenem, umfassendem Schrifttum seit dem letzten Jahr-
zehnt des II. bis zu Ende des 12. Jahrhunderts über die Grundsätze
seines Handelns klar zu werden gesucht hatte und sich für Lehre
und Uebung ärztlicher Kunst am Vorbilde des von KONSTANTIN
dargebotenen Araberwissens (gewonnen an griechischer Ueberliefe-
rung) nun sein eigenes Rüstzeug literarischer Art geschaffen hatte,
Früharabisches mit direkt aus der Antike Ueberkommenem verbin-
dend, und nun seit der Mitte des 12. Jahrhunderts daran gegangen
war, dies Emmgene und Angeeignete wissenschaftlich zu vertiefen.
Doch erlahmte seine Kraft an dieser Aufgabe, der auch die größten
seiner Vertreter noch nicht gewachsen waren, weil die empirischen
Prämissen und Hilfsmittel noch völlig fehlten. Was ferner noch
geschaffen wurde, soweit wir es übersehen können, sind Lexika
und Tabellenwerke eines Salernus, die ein Südfranzose Bernhard
aus der Provence des Kommentierens wert fand. Schließlich hat
ein Caesar Coppula, dessen Lebenszeit nicht sicher feststeht,
einige medizinische Konsilien geschrieben, die auf uns gekom-
men sind.
Doch mit dem gegebenen Gesamtüberblick über die literarischen
Leistungen von Hochsalerno mit einem unbestimmten Ausblick auf
Spätsalerno haben wir die Pflicht gegen die älteste, vornehmlich
medizinische Hochschule des Abendlandes nicht erfüllt, wir müssen
M eyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. I3
194
Salerno.
uns mit seiner Anatomie, seiner Chirurgie und seiner G3'näkologie
noch befassen und uns Rechenschaft geben über seine Wirkung
als Lehrstelle der Aerzteschaft Süditaliens und Europas, und für
den gesamten Aerztestand überhaupt.
Indem Salern seine Schüler in der Medizinschule zum „doctus
istius professionis artifex" heranzubilden beflissen war, hat es das
Kunstgemäße des heilenden Tuns unterstrichen, aber auch die Ge-
lehrsamkeit, die angestrebt wurde. In den Tagen von Frühsalerno
vorkonstantinischer Zeit war Gelehrsamkeit noch nicht das Zeichen
des dortigen Arztes, sondern Beherrschung der ärztlichen Kunst
oder wenigstens dessen, was man damals darunter verstand. Der
vielberufene Warbod-Gariopontus erhielt, wie wir gesehen haben,
in der ersten Hälfte des ii. Jahrhunderts noch die Zensur: „literis
eruditus a c medicus". Das war nach Konstantin anders geworden ;
man strebte allmählich nach Gelehrsamkeit, nach Wissenschaftlich-
keit, und in Urso war man tatsächlich nahe an die experimentelle
Begründung, an die Nachprüfung durch das Experiment herange-
rückt. Imponiert hat allerdings wohl mehr Ursos scharfe logische
Durchdringung der von ihm behandelten Fragen, was sich noch
in der häufigen Erwähnung dieses Salernitaners, gelegentlich selbst
des Maurus, in der Enzyklopädie des Franzosen Radulf von
Longchamps (um 1216), Schülers und Erklärers des Alanus von
]Jlle ausspricht, zugleich ein Beweis des schließlichen Ueberganges
von Hochsalerno in die Scholastik.
Ein Beleg, wie ernsthaft man in Salerno die wissenschaftliche
Vertiefung des in der Uebung überkommenen Schulwissens und
Schulkönnens in die Hand nahm, ist der, wenn auch bescheidene.
Versuch einer Pflege der Anatomie in der „Civitas Hippocratica",
zunächst nur als praktischer Nebenbehelf der Heilkunst in sachlicher
Anlehnung an die neue Lehre des Pantegni Konstantins. Es
ist Tieranatomie, die in ihrer ältesten Form eine recht naive Auf-
zählung und Beschreibung der Eingeweide gibt, mit ständigem Ein-
gehen auf Physiologie, Pathologie, Semiotik. Man hat dies älteste
anatomische Schriftstück als Schweineanatomie des CoPHO lange
Zeit geführt; doch ist der Name dieses beachtlichen Klinikers
der kleinen Ausarbeitung grundlos aufgestempelt worden ^). Einen
praktischen Lehrtext, am Tierkadaver vorgetragen, hat der Bres-
lauer Codex Salernitanus kennen gelehrt, der gleichfalls auf KON-
i) Sie steht als „Anatomia parva [Pseudo-JGaleni" unter den „Spuria"
der lateinischen Galen-Juntinen.
Salerno. 1 95
STAXTix beruht, sich aber einer lebhaft hinweisenden Darstellung
befleißigt, die gelegentlich zu kleinen lehrhaften Abschweifungen
verleiten läßt, vielfach wörtlich, wie die Einleitung, mit Koxstantin
übereinstimmend. Hexschel hat der namenlosen Abhandlung den
Titel „Demonstratio anatomica" mit Recht verliehen. Diese beiden
Darstellungen, deren zweite schon auf Systematik Wert legte, dürften
aus dem Ende des it. und dem Anfang des 12. Jahrhunderts stam-
men; die erste ist vielleicht noch älter. Zeitlich und inhaltlich, ja
auch in der Form steht ihnen eine bisher nur in München gesondert
erhaltene, abermals völlig selbständig aus Koxstaxtix (bzw. Halt
Abbas) entnommene, kurze anatomische Schrift nahe, die in einem
Würzburger Kodex mit der ältesten, der sogenannten „anatomia
Cophonis" verflochten ist. Sie hält noch m.ehr auf systematische
Aneinanderreihung als ihre beiden Fachgenossen. In allen dreien
sprudelt das lebhafteste Interesse für dies wertvolle Gut anatomisch-
physiologischer Belehrung für den ärztlichen Praktiker und der Trieb,
alles der nützlichen Verwertung zuzuführen.
Als Lehrgebiet für sich von selbständiger Bedeutung tritt die
Anatomie in einer Gruppe von Darstellungen uns entgegen, die
sich an die Namen Nikolaus und Richardus knüpfen. Beide
haben von Koxstaxtix nicht mehr nur den anatomischen Stoff,
sondern auch die Form übernommen. Man schreibt gelehrte Ab-
handlungen, man hält gelehrte Vorträge über diese selbständige
medizinische Disziplin, und Niederschriften dieser Lehrvorträge in
vielfach wechselnder Form sind uns aus der zweiten Hälfte des
12. und dem Anfang des 13. Jahrhunderts erhalten. Unter dem
Namen eines „Magistri Nicolai phisici" hat sich eine besondere
gut redigierte und streng systematisch geordnete Form dieser Spät-
anatomie von Hochsalerno erhalten. Eine Möglichkeit, sie etwa dem
gleichen Nikolaus zuzuschreiben, dem die hochsalernische Form
des Antidotarium verdankt werden soll, besteht kaum; denn dieser
müßte in den Anfang des 12. Jahrhunderts gesetzt werden; der
Verfasser der „Anatomia Nicolai", Zeitgenosse des Urso, gehört in
die letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts. Richardus, unter dessen
Namen eine diagnostische Schrift erhalten ist, könnte gar schon in
den Anfang des 13. Jahrhunderts gerechnet werden, gehört aber
doch vielleicht noch in das letzte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts,
jedenfalls vor die Zeit des Bekanntwerdens des Kanons von Avi-
CEXNA. Dagegen entstand die pseudogalenische „Anatomia vivorum",
welche man dem Richardus Anglicus eine Zeitlang zuschreiben
wollte, erst in der Zeit des 13. Jahrhunderts, als man bei ibn Sinä
sich anatomische Weisheit zu holen begann. Ob aber dann nicht
Frankreich oder wenigstens andere Gegenden Italiens als Ursprungs-
13*
196
Salerno.
gegend ins Auge zu fassen sind, und nicht Salerno, muß sehr ernst-
haft geprüft und erwogen werden. Die „Anatomia Nicolai" und die
,.Anatomia Richardi" samt ihren Derivaten und Variationen in Ab-
schrift und Lehrvortrag gehören aber bestimmt noch nach Salerno
und stellen dessen literarische Höchstleistung auf dem anatomischen
Gebiete dar,
Ist es denn aber in Salerno immer bei bloßer Tierzergliederung
geblieben? Eine sichere Antwort auf diese Frage vermag die Li-
teratur von Hochsalerno nicht zu geben, leider auch die aktenmäßige
Geschichte nicht, wenngleich die Wahrscheinlichkeit dafür spricht,
daß um die Mitte des 13. Jahrhunderts ab und zu eine Vcrbrccher-
leiche an der Schule zu Salerno feierlich demonstrando zergliedert
wurde. Die Wahrscheinlichkeit, wenn auch keineswegs die Gewiß-
heit. Denn die Ueberlieferung, daß Martianus, Protomedicus von
Sizilien, den großen Staufen Friedrich IL 1238 dazu bestimmt
habe, zu befehlen, daß in Salerno alle fünf Jahre eine Menschen-
leiche vor den Aerzten und Wundärzten seziert werden müsse, hat
sich bis heute nicht mit aller Evidenz bewahrheiten lassen.
An anatomischer Demonstration fehlte es in Salerno auf alle
Fälle nicht vollständig, und auch noch 400 Jahre später selbst in
Italien verschmähte man es nicht, die Lage der Eingeweide am
Schweinesitus im Unterricht zu demonstrieren.
Daß die offenbar fleißige Beschäftigung mit der Anatomie in
Salerno der klinischen Medizin wie der Hebung des wissenschaft-
lichen Geistes im allgemeinen zugute kam, dürfte keinem Zweifel
unterliegen. Am fördersamsten erwies sie sich gewiß für die aus-
übende Chirurgie.
Literarisch lehnt sich die Chirurgie von Hochsalerno an das
9. Buch der pars practica des Pantegni, also an den Hali
Abbas in der Bearbeitung Konstantins an. Aber gerade die
operative Chirurgie dürfte in ganz besonderem Maße auf Uebung
seit der Antike her in Familientradition in Italien sich sttüzen. In
Kalabrien und dem gegenüberliegenden Sizilien feierten später Pla-
stik und Steinschnitt Erfolge; auch in den Bergen Umbriens war
Hernienoperation und Starstich bei zahlreichen Familien in Uebung
(Norciner, Precianer), und auf dem Kamm der Apenninen südlich
Bologna sind alte Wundarztfamilien nachgewiesen, die schulmäßig
Chirurgie übten. Bis in die Antike leiten freilich nur ganz ver-
wischte Spuren aus dem Ausgange des Mittelalters zurück. Ueber-
sehen sollten sie aber nicht werden. Zeitlich einstweilen und in der
Tradition schwer greifbar, hat sich in Handschriften des früheren
Salemo.
197
^Mittelalters mehrfach eine Gruppe von 2—3 Operationsbildern er-
halten, mit kurzen Beischriften ausgestattet, die erkennen lassen, um
Abb. 91. Hämorrhoiden-, Star- und Nasenpolypen-Operation aus einer Handschrift
II. Jahrhunderts (Brit. ^luseum).
Abb. 92. Sechs Brennstellenbilder aus einer Handschrift des 11 . Jahrhunderts (Brit. Museum).
iqS
Salerno.
was es sich handeln soll, stets aber ohne eigentlich begleitenden
Text. Es handelt sich um Starstich (albulae oculorum sie excutiun-
Abb. 93. Operationsbilder aus einer französischen Rogerübersetzung, gemalt im 13. Jahr-
hundert (Brit. Museum).
tur), Nasenpolypenoperation (fungus de nare sie inciditur) und
Hämorrhoiden entfernung (emoroida inciditur sie), womit diese drei
Salemo.
199
Operationen doch wohl als besonders geläufige hervorgehoben wer-
den. Manchmal findet sich diese Operationsbildgruppe direkt ver-
bunden mit einer sonst weit verbreiteten Lehrbilderserie, welche
Abb. 94. OperatioDsbilder aus französischer Rogerübersetzung, gemalt im 13. Jahr-
hundert (Brit. Museum).
26 — 40 Körperstellen hervorhebt, an welchen das Glüheisen gegen
innere Krankheiten angewendet werden soll. Beide Bildgruppen
stammen bestimmt aus der Spätantike. Mit der eigentlichen Chirurgie
200 ' Salerho,
hat nur die erstere etwas zu tun, während die zweite nur einen
chirurgischen Behelf der inneren Medizin darstellt, der in der Spät-
antike und bei den Arabern gleich beliebt war und hier aus der
Antike selbst ins Mittelalter lehrbildmäßig heruntergeführt wurde.
Für Salerno selbst fehlt es an chirurgischen Nachrichten aus
der Frühzeit. Erst für die späte Nachbehandlung von Kriegerver-
letzungen gab sich an den Heimkehrern aus den Kreuzzügen dort
Gelegenheit, ohne daß wir von Zunft- und Gildengeheimnissen hierin
etwas hören.
Die erste schriftstellerische Beschäftigung Salernos mit der Chir-
urgie ist uns in der „Bamberger Chirurgie" erhalten, welche in meh-
reren Handschriften (zwei in Bamberg, eine in Cambridge) auf uns
gekommen ist und großenteils auf dem Pantegni beruht, aber
auch manche Abschnitte direkt aus der frühsalernitanischen Literatur
entlehnt hat, die aus der Antike stammen, z. B. die pseudo-hippo-
kratische „Epistula de flebotomia" (s. o.). Spuren eigner chirurgischer
Betätigung, wie sie in der „Civitas Hippocratica" vorausgesetzt werden
darf, treten darin nicht zutage.
Einen echten Chirurgen durfte aber Hochsalerno wirklich sein
eigen nennen in der Person des aus langobardischem Adelsblute
entstammenden Roger Frugardi, der offenbar an der Schule Chir-
urgie lehrte und um 1170, anscheinend aus Schüleraufzeichnungen,
durch den Literaten Guido von Arezzo einen Leitfaden seiner chir-
urgischen Lehren in vier Abschnitten von je 20 — 50 Kapiteln zu-
sammenstellen ließ, der das Gebiet in knappster Form vom Kopf
bis zu den Füßen umreißt und offenbar am Verbands- und Operations-
tisch entstanden ist, voll reicher Erfahrung, auch operativer Art.
Eine Reihe von Tafeln aus italienischen und französischen Hand-
schriften des 13. und 14. Jahrhunderts läßt die Fülle auch des ope-
rativen Materials in fachgemäßen Operationen überschauen, die dieser
rogerische Leitfaden enthält (vgl, Abb. 93 u. 94).
Die Rogerglosse.
Schon im Lehrvortrag ROGERS selbst wurde dieser chirurgische
Leitfaden Hochsalernos durch Einfügung von Kasustik, lehrreichen
Bemerkungen und neuen Rezepten glossiert. Erweiternde Margina-
lien hatten erhaltene und verlorene Roger manuskripte. In Uebung
und Lektüre wuchs diese erste Rogerglosse; sie war mit jeder neuen
Abschrift umfangreicher. Aber auch bewußter Um- und Weiter-
arbeit ward sie unterzogen, und durchaus nicht nur in Salerno selbst.
Für den Bedarf der Praxis und des Unterrichtes hat der Bologneser
Chirurge Rolando aus Parma das gangbare Lehrbuch in leichter
Umarbeitung und Glossierung zum Bologneser Schulbuch umge-
Salerno. 201
staltet, der sogenannten „Rolandina", deren Redaktion zwischen 1230
und 1240 vor sich ging. Zu gleicher Zeit hat ein Chirurg von
Gottes Gnaden in Montpellier, der in den Albigenserkriegen bei
Simon von Montfort sich große Erfahrung erworben hatte, WiLLE-
HELMUS VON CoNGENis aus Bourg, den Leitfaden Rogers seinen
späteren Vorträgen in Montpellier zugrunde gelegt. Von zweien
seiner Schüler sind Aufzeichnungen erhalten, deren eine uns beson-
ders wichtige Einzelheiten aus dem Operationszimmer des Wille-
HELMUS im Heilig-Geist-Spital zu Montpelier berichtet, die durch-
blicken lassen, wie ernst es Willehalm sich angelegen sein ließ,
auch schon auf die Ausbildung künftiger Operateure sein volles
Augenmerk zu richten.
Eine Florentiner Rogerglosse läßt erkennen, wie das literarische
Material durch das wenigstens bruchstückweise Bekanntwerden der
Chirurgie des x\buloäsim und IBN SixÄ sich erweiterte. Die be-
scheidene Weiterbildung in Salerno selbst läßt die Chirurgia Johannis
Jamati (Jamerii) erkennen, die um 1250 am Golfe von Pesto fertig-
gestellt sein mag und von Guy dem Auvergnaten eine so schlechte
Zensur als „Chirurgia brutalis" hundert Jahre später erhielt. Den
Gipfel literarischer Umarbeitung erstieg die Rogerglosse gleichfalls
um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Frankreich in der sogenannten
Viermeisterglosse zur Chirurgie des Roger und Rolando, die be-
sonders durch den Zusatz des Rolando von Parma ihren späten
Ursprung verrät. Schon in der Florentiner Rogerglosse des Pucci-
NOTTI findet sich die Notiz, daß an ROGERS Chirurgie noch drei an-
dere Salernitaner Magistri mitgearbeitet hätten, also wohl außer
Guido von Arezzo noch zwei andere Literaten. In den „Glossulae
quatuor magistrorum super Cirurgiam Rogeri et Rolandi" sind es
dann genau genommen sechs geworden, die beiden bekannten Chir-
urgen und vier Internisten Archimatthaeus , Petroncellus,
Platearius, Ferrarius, die wir schon kennen, deren Lebenszeit
sich aber über ein volles Jahrhundert, wenn nicht weiter verbreitet,
und wienn man die beiden Chirurgen mit einbezieht, gar über 200
Jahre. Wie schon gesagt, ist dieser immerhin wichtige Abschluß
der gesamten Rogerglosse höchst wahrscheinlich nach der Mitte des
13. Jahrhunderts in Frankreich erfolgt. Roger, Rolando und
Willehalm von Bourg hat etwa zu gleicher Zeit ein französischer
Verseschmied mit der „Trotula" und anderem zu einem umfänglichen
„Poema medicum" verschmolzen.
Ein volles Jahrhundert eifriger praktischer und literarischer Arbeit
spricht sich in dieser umfänglichen Rogerglosse aus, die noch Interesse
erweckte in Italien und besonders in Frankreich, als die oberitalienische
Chirurgie schon einen weit höheren Flug zu nehmen begonnen hatte I
202 Salerno.
Doch wir haben mit Nennung der „Trotula" schon ein letztes
Gebiet Hterarischer Betätigung berührt, das sich in Früh- und Hoch-
salerno auszuwirken begonnen hatte, das der Frauenheilkvmde.
Daß man eine „Laienschule" war und keine Klerikerschule, wenn man
auch geisthche Lehrer und Schüler keineswegs ausschloß, gab von
Anfang an die Möglichkeit, Geburtshilfe zu treiben und mehr noch
Frauenheilkunde. Zu ersterem waren die Hebammen damals noch
allein berufen mit Ausnahme äußerster Notfälle, die in die Hand
der Chirurgen gelegt waren. Die Nächstberufenen, sich mit dem
allem über die niederste Hebammenhilfe hinaus zu befassen, waren,
so möchte man meinen, Gattinnen und Töchter der ärztlichen Lehrer
in Salern. Wenn man aber das nachprüft, was z. B. COPHO als Be-
handlungsweise der „Mulieres Salernitanae" anführt, so schmeckt das
stark nach Volksmitteln der Kinderstube und Hebammenwissen, dem
der gelehrte Arzt meist sein besseres Wissen mit „Ego autem" ent-
gegenhält. Und was Bernhard aus der Provence im 13. Jahr-
hundert von „Salernitaner Weibern" überliefert, ist teilweise ebenso
glatte Volksmedizin oder stammt aus dem „Nähkörbchen", dient
erotischen und kosmetischen Bedürfnissen, ist sogar zum Teil nicht
ganz ungefährlicher Art. Man muß sich also dadurch den Blick
nicht trüben lassen, daß schon im 11. Jahrhundert eine Salernitaner
Matrone einen französischen Kleriker mit ihrem Wissen in Erstaunen
setzte; das zeigt doch nur, daß in der ärztlichen Luft am Golf von
Pesto eine begabte Frau tüchtige Kenntnisse im Zeitstil zu erwerben
vermochte. Daß sie etwa die „Trotula" oder gar die „Trotula di
Rugiero", die Gattin des ältesten Giovanni Plateario gewesen sein
müsse, ist historisch unbewiesen. Ueberhaupt muß man das rühmende
Gerede von den „Mulieres Salernitanae", als eines beachtlichen Bestand-
teiles des gelehrten Salerno im 11. oder 12. Jahrhundert, wesentlich
zurückstecken und den überlieferten Namen von Salernitaner Aerztinnen
ein gesundes historisches Mißtrauen entgegenbringen. Die „Trotula
Mulierum", wie es handschriftlich wohl heißt, ist keineswegs der
Name einer Aerztin, sondern ein gynäkologisches Werk, das den
Titel „Trotula" führt und, auf antiker Ueberlieferung textlich größten-
teils aufgebaut, in nachkonstantinischer Zeit seine heutige Gestalt
erhalten hat. Wie viel aus dem Hebammenkatechismus des SORANOS,
durch dessen Bearbeitung eines MUSTIO in die Mönchsmedizin und
Frühsalerno aus bester antiker gynäkologischer Quelle geraten war,
haben wir ja andeutungsweise schon kennen gelernt; im Buche „Tro-
tula" finden wir es wieder, auch Dammschutz und Naht von Damm-
rissen.
Besondere Schriften über Kinderkrankheiten aus Hochsalerno
besitzen wir nicht; doch dürften die beiden kleinen im ,Janus' 1909
Salemo.
203
und igi6 veröffentlichten pädiatrischen Texte, die aus der Antike
stammen, in Frühsalerno schon zur Hand gewesen sein : die „Practica
puerorum adhuc in cunabuHs jacentium" und der „Liber de passionibus
puerorum [Pseudo-]Galieni".
Aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts oder dem Ausgang des 12.
ist uns schHeßlich auch in vielen Vortragsnachschriften erhalten eine
stark persönlich gefaßte „Practica oculorum" eines Benvenuto
J ^.^__ '^V'
^^f^/"^-"^!^^-
Abb. 95. An einem Krankenbette in Süditalien (Palermo). Arabischer Hamschauer
(Arzt) und Astrologe am Krankenlager des letzten Noimannenkönigs, Wilhelm II. (f 1189).
Süditalisches Handschriftbild aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts.
Graffeo, Abkömmlings einer Sizilianer Handelsfamilie, die von Bau
und Erkrankungen des Auges und ihrer medikamenteilen und ope-
rativen Kur in wechselnder Ausführlichkeit handelt. Er nennt sich
selbst nach Salern, was man später, als die kleine Medizinschule
vergessen war (paläographisch sofort verständlich) als „Salem" las
und in das geläufige Jerusalem umdeutete. Die erstaunlich an Um-
204 Salerho.
fang und selbst Wortlaut wechselnde handschriftliche Darbietungs-
form hat sich bei weiterer Handschriftenkenntnis des früheren Mittel-
alters als besonders charakteristisch gerade für Hoch- und Spätsalerno
herausgestellt, wo die Vorlesung, der Lehrvortrag und die Schüler-
nachschrift die Literatur beherrscht. Die leicht reklamenhaft ge-
haltene praktische Anweisung fand weite Verbreitung, auch in den
Landessprachen. Wie Roger ist Benvenutus namentlich auch in
der Provence als „Benvengut de Salern" bekannt geblieben, bis ihn
weit Besseres aus dem Orient, das wir früher kennen gelernt haben,
verdrängte. Ganz zu verachten ist aber auch der sich selbst an-
preisende (Auftakt des späteren Starstechermetiers!) Eigenwuchs von
Salerno, der an der Antike genährt und mit Anleihen aus dem
frühen Islam und aus Byzanz aufgeputzt war, auf diesem Gebiete
so wenig als auf anderen.
Noch im Niedergange hat Salerno, das fast nur noch an seinem
Glänze im 12. Jahrhundert zehrte, ja als die Civitas Hippocratica fast
schon hippokratische Züge aufzuweisen begann, der ganzen Aerzte-
schaft des Abendlandes einen ganz besonderen Dienst erwiesen da-
durch, daß es, in Fortführung kluger Maßnahmen seiner normannischen
Vorfahren, der große Staufenkaiser Friedrich IL als älteste medi-
zinische Lehrstelle Italiens mit dem Rechte ausstattete, nach voll-
endetem Studium Aerzte für den Bezirk seines Reiches zu appro-
bieren. Salerno allein erhielt dieses Recht mit Uebergehung der eben
erst von Friedrich gegründeten Hochschule zu Neapel, immerhin ein
Zeichen dafür, daß es vor den scharfen Augen des Kaisers und seines
Kanzlers in seinen Leistungen noch zu bestehen vermochte. Das
dortige Studium war auf fünf Jahre festgesetzt, an die sich ein prak-
tisches Jahr anschließen mußte, ehe die Approbation verliehen werden
konnte, ein Jahr praktischer Uebung unter der Beratung eines er-
fahrenen Praktikers. Für Chirurgie war ein besonderer einjähriger
Lehrgang vorgeschrieben. Auch die weitere Ausübung der Praxis
wurde behördlichen Einflüssen unterworfen. Neben der Verpflichtung
zur unentgeltlichen Ratserteilung an Arme wurde eine reichliche Taxe
für die Entlohnung festgesetzt, die Arzneibereitung in den, eben
unter örtlichen Einflüssen in Aufnahme gekommenen Apotheken der
Beaufsichtigung unterworfen und Machenschaften zwischen Aerzten
und Apothekern verboten. Ja für das süditalienische Staufenreich
erhielt Salerno eine Art Lehrmonopol für Medizin, freilich nur für
kurze Zeit. Im Jahre 1240 war die Ordnung des Medizinalwesens
vollendet, und 1268 war es mit der Staufenherrschaft in Italien am
Ende; Neapel trat an die Stelle von Salerno, dessen Ruhm im
14. Jahrhundert im Munde des Petrarca nur noch wie eine Sage khngt.
Salemo.
205
Nicht viel mehr als einen Auf frischungs versuch des alten Glanzes
von Salerno bedeutet auch das viel beredete „R egimen Sanitatis
Salernitatum", das namentlich im 15. und 16. Jahrhundert sich
eines großen Namens und weiter Verbreitung erfreute, aber in den
Handschriften selbst des 14. und 15. Jahrhunderts nur eine bescheidene
Rolle spielt, vorher überhaupt nicht nachzuweisen ist. Arnald
von Villanova hat zu Anfang des 14. Jahrhunderts aus altem medi-
zinischen Versgut Salernos, des weiteren Italiens und Frankreichs
eine kleine Lese von einigen 360 Merkversen zusammengestellt, teils
diätetischer, teils pharmazeutischer und prognostischer Natur, und
mit einem Prosakommentar versehen, mit dem sie zuerst auch immer
gedruckt wurden. Das
„Anglorura Regi scripsit tota schola Salerni",
das so viele verführt hat, scheint freie Erfindung des dem süd-
italienischen Arragon damals wohlgeneigten ^Mystifikators. Medi-
zinische und diätetische Merkverse hatte man nebenher im versefrohen
14. und 15. Jahrhundert allenthalben in den Handschriften in kleinen
Gruppen niedergelegt, das ist dann zum Teil im 15. und besonders
im 16. Jahrhundert als „salernitanisch" der Sammlung des Arnald,
nachdem sie den Kommentar abgestreift hatte, angegliedert worden.
Namentlich im 19. Jahrhundert ist dann dieses Florilegium medi-
zinischer Merkverse (als „Flos medicinae" schon in Handschriften
gelegentlich bezeichnet) zu einem starken Umfange angeschwollen, zu
einem wohlgegliederten Kompendium der Gesamtmedizin. Wie sich
aber allmählich seine Merkverse von der alten „leoninischen" Versform
immer mehr entfernten, so wich auch die Prunkgestalt der 3520 Verse
in zehn Abschnitten mit je vielen Kapiteln bei DE Renzi von
salernitanischem Schulwissen des 11. und 12. Jahrhunderts schließlich
ebensosehr ab wie die Treibhauskultur eines großen botanischen
Gartens von einem blühenden Wiesenstück im Firnlicht der Alpen
oder in dem Hochtal der Apenninen von Vallombrosa.
Arnald der Katalane, den wir noch kennen lernen werden,
hatte ein feineres Gefühl für die Schlichtheit von Altsalerno als die
Sammelfreudigen der „Collectio Salernitana"' aus der Mitte des 19. Jahr-
hunderts, die mit solchem Ballast von Versen den unvergänglichen
Ruhm der Civitas Hippocratica als erster medizinischer I-ehr- und
Literaturstelle des Abendlandes im Mittelalter neu glaubten auf-
zimmern zu müssen! —
Der Aufstieg mittelalterlicher Chirurgie in Nord-
italien während des dreizehnten JahrhundertsJ
Die Befruchtung des bescheidenen abendländischen Eigenbaues
in Ausübung und Lehre zu Salerno im lo. und 1 1. Jahrhundert durch
die Einfuhr früharabischen Wissensgutes in den letzten Jahrzehnten
des II. Jahrhunderts durch Konstantin hatte die erste Blüte abend-
ländischer Heilwissenschaft herangerufen, die ein volles Jahrhundert
gedauert hat und schließlich in die Salernitaner Frühscholastik eines
Maurus und Urso ausklang, die auch auf die naturphilosophische
Scholastik Frankreichs im 13. Jahrhundert nicht ganz ohne Einfluß
blieb.
Unterdessen hatte sich in Sizilien am Normannenhofe eine fleißige
Uebersetzerschule aus dem Griechischen durch Vermittelung aus Byzanz
entwickelt, welche die Naturwissenschaft fast ausschließlich befruchtete,
aber schon seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Leben gewonnen
hatte und auch nach dem Festlande hinüber Einfluß erlangte, der
im 13. und 14. Jahrhundert stärker sich aussprach und auswirkte.
Wichtiger bei weitem für die Medizin , wie für die gesamte
weitere Geistesentwicklung des Mittelalters wird die Uebersetzer-
tätigkeit aus dem Arabischen, die sich in Spanien im 12. und auch
im 13. Jahrhundert betätigte, namentlich in Toledo. Was außerhalb
Toledos in Spanien seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts übersetzt
wurde, betraf meist die Mathematik, aber nicht die Medizin. In Toledo
jedoch wurde schon zu Beginn des zweiten Viertels des 12. Jahr-
hunderts von dem getauften Juden Avendeliut (ibn Dawud), Johannes
VON Toledo oder Johannes Hispanus genannt, das diätetische
Mittelstück eines Fürstenspiegels, betitelt „Epistola Aristotelis ad
Alexandrum de observatione diaetae", aus dem Arabischen übersetzt
und einer spanischen Fürstin gewidmet. Dieser Pseudo- Aristoteles-
brief machte gewaltigen Eindruck, fand weiteste Verbreitung, wurde
früh versifiziert und in die Landessprachen übersetzt, fand auch
früh in Salerno Eingang und ist die Grundlage für die umfängliche
abendländische Literatur der Gesundheitsregimina aller Art geworden.
Noch 100 Jahre nach seinem Bekanntwerden verwies darauf den
Staufenkaiser Friedrich IL in einem diätetischen Briefe sein Leibarzt
und Hofphilosoph Magister Theodorus.
Aufstieg mittelalterl. Chirurgie in Norditalien während des 13. Jahrh. 207
Zu Ende des dritten und zu Beginn des letzten Viertels im
12. Jahrhundert ward aber die große Ueberschüttung des medi-
zinischen Abendlandes mit dem höchsten Aerztegut des Islam zur
Wirklichkeit durch den Lombarden Gherardo aus Cremona, den
sein Wissensdrang vor 1170 nach Spanien getrieben hatte, und um
den sich nun in Toledo eine lernbegierige Uebersetzerschule bildete,
die vor allem auf Astrologie und anderes geheime Wissen, aber
auch auf Medizin ihr Augenmerk richtete. Gerhard starb 1187,
ein Jahrhundert nach KONSTANTIN. Aber noch vor Ende des Jahr-
hunderts schrieb einer seiner Schüler, der Engländer Daniel von
Morley, sein astrologisches Kompendium, den „Liber de naturis in-
feriorum et superiorum", der auch für die latromathematik, d. h. die
astrologische Medizin, die Grundlage allei neuen Entwicklung nach
den Tagen des Späthellenismus in sich barg.
Unter dem medizinischen Literaturgut, das Gerhard und seine
Schüler aus dem Arabischen genommen, befindet sich zunächst eine
ganze Reihe von Schriften unter dem Namen des Galenos, darunter
auch die stark astrologisch orientierten Schriften über die Krisen und
kritischen Tage. Von dem großen Perser ar-Räzi kommen nun
einige seiner Schriften ins Abendland, namentlich das Gesamt-
kompendium an Mansur und die Divisionen , das Medikamenten-
büchlein des IBN WÄFID, das Breviarum des Jachia ibn Serafiün
(Serapion), der Kommentar des 'Ali ibn Ridhwän zur kleinen
Kunst des Galenos und vor allem der Qanün des IBN SiNÄ sowie
die Chirurgie des Abu'l Qäsim.
Den Einfluß dieses Platzregens von neuem Wissensstoff kann
man sich gar nicht stark genug vorstellen, er war auf dem Gebiete
der Medizin mindestens so groß wie der des Bekanntwerdens der
naturwissenschaftlichen Schriften des ARISTOTELES im 13. Jahr-
hundert auf die Entwicklung der Philosophie, des ganzen abend-
ländischen Denkens. Im 13. Jahrhundert kam neben anderem, minder
wichtigem iVrabischen vor allem hinzu die Bekanntgabe des ge-
waltigen griechisch-arabischen Sammelwerks des „Conti nens Rasis"
durch den Juden aus Girgenti auf Sizilien, Faradsch BEN SÄLIM
(1279), der in Salerno seine Ausbildung gefunden hatte.
Ihn Sinä, Abu'l Qäsim und nebenher auch AR-RÄzi blieben
auch auf den Zweig der italienischen Medizin des Mittelalters nicht
ohne Einfluß, der sich mit Roger von Salern zu einer gewissen Selb-
ständigkeit durchgerungen hatte, auf die Chirurgie, die im 13. Jahr-
hundert in eigener genialer Uebung in Oberitalicn einen so hohen
Stand der Ausbildung erreichte wie kein anderer Zweig der Heilkunde.
2o8 Aufstieg mittelalterl. Chirurgie in Norditalien während des 13. Jahrh.
Aus einer Adelsfamilie von Lucca, der der BORGOGNONI, gingen
zwei bedeutende Chirurgen hervor, die zum Aufstieg die Grundlage
schufen, HuGO von Lucca und sein Sohn Theoderich. Hugo, ein
geborener Wundarzt, führte, wie ROGER der Langobarde, nicht
selbst die Feder; sein gelehrter Sohn geistlichen Standes hat das
Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen aufs Pergament gebracht. Um
so größer war die praktische Leistung des Vaters, der mit genialem
Blick erkannte, daß die Wundbehandlung seit mehr als einem Jahr-
tausend in die Irre gegangen war, daß nicht die Erregung von „pus
bonum et laudabile" in der Wunde zu deren Heilung der Weisheit
letzter Schluß sei, sondern die Erstrebung eines eiterlosen Wund-
schlusses, einer naturgemäßen prima intentio, unter einem einfachen
Alkoholverband (cum solo vino et stupa [Werg] et ligatura decenti).
Und noch ein weiterer großer Fortschritt ist dem geschickten Ope-
rateur zu verdanken, die Anwendung von Schlafschwämmen zur
allgemeinen Narkose bei chirurgischen Eingriffen. An seinen äußeren
Lebensgang knüpft sich auch die erste völlig sichere Konstatierung
einer wichtigen Erneuerung antiker Einrichtungen auf italienischem
Boden in der dauernden Wiederbegründung des Stadtarztwesens im
Mittelalter. Im Jahre 1 2 1 1 wurde HuGO von Lucca als städtischer
Wundarzt nach Bologna berufen und gleichzeitig verpflichtet, auch als
geriehtärztlicher Sachverständiger zu dienen; er begleitete als Feld-
scher das Bologneser Kontingent ins heilige Land und nahm an der
Belagerung von Damiette teil. 1221 aus der Levante heimgekehrt,
hat er noch mehr als 3 Jahrzehnte in Bologna gewirkt, auch in che-
mischer Arzneibereitung, wie mancher fortschrittliche Chirurg des
Mittelalters, bis zu gewissem Grade erfahren.
Ehe der mit hoher kirchlicher Würde bekleidete und doch der
ausübenden Chirurgie sein Leben lang zugetane Sohn (Teodorico
DEI BoRGOGNONi, 1206 — 1298) sein Lehrbuch der Chirurgie in
vier Büchern, das sich neben der Anlehnung an die Vorgänger in
der hterarischen Form auf der väterlichen und eigenen Erfahrung
aufbaut, vollendet hatte, wobei der Sohn den Vater allenthalben in
würdiger Weise zur Geltung kommen läßt, ehe also dieses Buch in
der heute noch erhaltenen Form zum Abschluß gekommen war, hatte
der Kalabrese Bruno (aus Longoburgo oder Longobucco) zu Pavia
oder zu Padua 1252 (die handschriftUche Ueberlieferung lautet nicht
ganz einheitlich) seine wenig geordnete „Cyrurgia magna" fertigge-
stellt, „omnia vestigia veterum sapientum perscrutans", wie er selbst
betont. Mag sein, daß er in seiner Heimat Kalabrien einen gewissen
Anschluß an dortige alte chirurgische Gildenübung gefunden hatte,
Tatsache ist es, daß sein Buch, und erst recht nicht sein kleiner
Leitfaden einer „Chirurgia minor", davon keine Spur erkennen läßt.
Aufstieg mittelalterl. Chirurgie in Norditalien während des 13. Jahrli. 209
Im Gegenteil, sein Buch läßt als Erstes in völlig scholastischer Weise
den Einfluß der Chirurgie des Ayicenxa und Abuloasim hervor-
treten, der hier im vollen Maße zum Durchbruch gekommen ist.
Bruno ist es Bedürfnis, nicht nur die Tatsachen reden zu lassen,
sondern in Exkursen ein wenig zu disputieren (oportet aliquantulum
disputare).
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Abb. 96. Operationsbilder aus einer Leidener THEODERICH-Handschrift (ums Jahr 1400).
In Bologna aber, wo RoLANDO und Ugo nebeneinander ge-
wirkt und in der Praxis gelegentlich aneinander geraten waren, wo
Theoderich, mochte er auch anderswo als Kirchenfürst ernannt
werden, sein Leben lang chirurgische Praxis getrieben und schließlich
ein großes in der Wundarzneikunst erworbenes Vermögen hinter-
lassen konnte, hat neben ihm an der Hochschule und in der Praxis
mit großem Erfolge gewirkt in den 60er und 70er Jahren des 13. Jahr-
Mey er-Steineg u. Sudhoff, Illustr. G«chichte der Medizin.
14
2IO Aufstieg mittelalterl. Chirurgie in Norditalien während des 13. Jahrh.
hunderts Wilhelm der Piacentiner, nach einem dieser Stadt der
Lombardei nahe gelegenen Orte, als seinem Geburtsorte, auch Gu-
LIELMO da Saliceto genannt. Wilhelm hat ein großes, für seine
Zeit als stark selbständig zu bezeichnendes Werk über die Gesamt-
medizin geschrieben, dessen chirurgischen Teil er noch in Bologna
im wesentlichen fertiggestellt hatte. Der „specialis amor" zur opera-
tiven Chirurgie hatte ihm den Anlaß gegeben, gerade diesen Ab-
schnitt in den letzten vier Jahren seiner Bologneser Tätigkeit vorweg
in Angriff zu nehmen und in den ersten Monaten nach seiner Be-
rufung an das Veroneser Stadtarztamt (1275) die letzten Kapitel
daran noch zu schreiben, so daß er am S.Juni 1275 das Schlußwort
unter das Werk setzen konnte. Gewidmet hat er seine Chirurgie
dem BuONO Di Garbo, namhaftem Wundarzt in Bologna, wo
Wilhelm schon 126g aktenmäßig nachweisbar ist. Das ganze übrige
medizinische Gesamtwerk, das er „Summa conservationis et curationis"
betitelte, hat Wilhelm erst nach 1275 zu Verona vollendet, wo wir
ihn noch im März 127g nachzuweisen vermögen an der Hand einer
kasuistischen Eintragung in seine Chirurgie, der er während der
Ausarbeitung der diätetischen und internmedizinischen Abschnitte
seines Handbuches der gesamten Medizin eine pflegsame Weiter-
bearbeitung zuteil werden ließ. Auch dies ist für seine klinische
Eigenarbeit an der Medizin seiner Tage ein charakteristischer Zug,
Seine Chirurgie aber bildet den wichtigsten Abschnitt in dem
wertvollen Gesamtwerke. Sie behandelt knapp und doch erschöpfend
das ganze Gebiet in selbständiger Weise. Ueberall zeigt sich der
erfahrene Wundarzt, der auch im Verlauf einer Operation noch selber
den Weg zu finden weiß, der zum Ziele führt, wenn die über-
kommene Erfahrung und Lehre anderer im Stiche läßt.
Noch mehr kommt die in Wilhelms Erfahrung wurzelnde
Selbständigkeit, die sich auch in der bei ihm eingestreuten Kasuistik
bewahrheitet, zum Ausdruck in der Arbeit seines Schülers Lan-
FRANCO, in der wir wohl die Höhe mittelalterlicher Chirurgie über-
haupt erblicken können. Chirurgische Anatomie hat Lanfranc nicht
wieder zur Darstellung gebracht, nur einen kurzen Abschnitt über
die allgemeine Anatomie der membra consimilia, der einfachen Ge-
webe. Den vortrefflichen Abriß einer topographischen, chirurgischen
Anatomie seines Lehrmeisters Wilhelm, der dessen Chirurgie ziert,
hatte Lanfranc nicht zu übertreffen hoffen können.
Aus der edlen Familie der Laneranchi in Mailand entsprossen,
hatte der größte Chirurg des Mittelalters bei Wilhelm von Sali-
ceto eine treffliche Schule durchgemacht und in seiner Vaterstadt
eine große eigene Praxis entfaltet, bis ihn der unseHge Parteihader
in seiner Heimat, bei dem sich seine Familie zu den Gegnern der
Aufstieg mittelalterl. Chirurgie in Norditalien während des 13, Jahrh. 211
Visconti geschlagen hatte, in die Verbannung trieb, aus der ihm die
Heimkehr versagt geblieben ist.
Er wandte sich nach Frankreich mit seiner ganzen Familie,
zuerst nach L3'on, wo er sich praktisch und literarisch ganz der
Chirurgie widmete, seinen kurzen chirurgischen Leitfaden fertigstellte
und sein großes, schon in Mailand begonnenes, chirurgisches Haupt-
werk weiter förderte. Im Jahre 1295 siedelte er nach Paris über,
wo er 1296 dies große Werk, die „Ars completa totius cirurgiae"
zimi Abschluß brachte. Auch nach Montpellier, wo sein Sohn Bo-
XETUS als Chirurg sich niedergelassen hatte, gewann Lanfranc
Beziehungen, und es ist recht wohl möglich, daß der Berxhardus,
dem er mit besonderer Freundschaft und Verehrung seine beiden
chirurgischen Werke gewidmet hat, die damalige Zierde von Mont-
pellier. Bernhard Gordox gewesen ist. In Paris nahm man ihn
mit offenen Armen auf; besondere Verdienste um ihn haben dort
Jeax de Passavant und Jeax Pitard. Die Pariser Aerzte und
das junge College de St Come scheinen ihm gleich wohlgesinnt ge-
wesen zu sein, dem König Philipp IV, der Schöne (1285 — 1314), seine
Gunst geschenkt hatte. Lehrend und operative Praxis übend, hat er
in Paris noch mehr als ein Jahrzehnt Glück und Ehre genossen.
Der Heimatlose war dem Adoptiv vaterlande, besonders dessen Haupt-
stadt, der „terra pacis et studii" in warmer Dankbarkeit ergeben;
schier unerschöpflich ist er im Lobe dieses irdischen Paradieses und
der Klugheit seiner Aerzte.
In seiner großen Chirurgie ist noch eine ziemliche Anzahl der
praktischen Belegfälle der Mailänder Praxis des Laxfraxco ent-
nommen. Sie machen einen Hauptwert des Werkes aus, mit dem
er die von seinem Lehrmeister Wilhelm schon so weit geförderte
Wundheilkunde zur Höhe einer Wissenschaft zu erheben beflissen
war. Klinische Chirurgie ist die SigTiatur trotz aller Knappheit der
Darstellung; eigenes Urteil wahrt er auch dem verehrten Meister
gegenüber. Freilich die große Erkenntnis der eiterlo.sen Wimd-
behandlung der HuGO und Theoderich unter Anwendung von
Wein als Wundmittel scheint wieder verloren; dagegen tritt die
Gefäßligatur und auch die Blutstillung durch Torsion in ihr Recht.
L. übt die direkte Naht der Nerven, hat in der Behandlung kom-
plizierter Frakturen selbständige Erfahrung und zeigt bei der Ope-
ration der Mastdarmfistel, daß er die Hohlsonde schon kennt, bei
der Naht der Bauchwunde, daß er die Gefahr der Entstehung einer
Bauchhernie in der Narbe schon in Betracht zieht. Durch diesen
großen Italiener, dem es eine neue Heimat bot, ist Frankreich auch
die Heimstätte der fortschrittlichen Chirurgie für Jahrhunderte ge-
worden.
14*
Montpellier.
Wie in Salerno sind auch in Montpellier die Anfänge der Me-
dizinschule dunkel. Offenbar haben sie mit der Pflege medizinischen
Buchwissens an den Kathedral- und Klosterschulen in Chartres,
Tours, Marmoutier usw. nichts gemein. Unwillkürlich drängt sich
einem der Gedanke auf, daß schwache Einflüsse aus Römertagen
in der Narbonensis noch am Werke gewesen sein möchten, die sich
mit islamisch-jüdischen, die über die Pyrenäen kamen, verflochten.
Erstere sind aber noch weniger zu greifen als die unbestimmten,
wenn auch wohl zweifellosen, letzteren.
Greifbar wird eine Lehrkörperschaft in Montpellier im 12. Jahr-
hundert. Besuche gelehrter Kleriker aus Deutschland berichten von
dortigem gelehrtem Leben, schon aus der ersten Hälfte dieses Zeit-
raumes. Vom Januar 1 1 80 datiert eine Art akademischen Toleranz-
ediktes, das der Graf Wilhelm VIII. von Montpellier erlassen hatte,
während doch die Sage geht, daß die Medizinschule in Montpellier
vorher schon den Juden und Sarazenen offen gestanden habe. Gegen
den im 12. Jahrhundert zweifellos überlegenen Rivalen Salerno
hegte man offenbar eine gewisse Abneigung, die der begeisterte
Schüler der süd italienischen Hochschule Gilles aus Corbeil (nahe
bei Paris) bitter büßen mußte, als er, um 1180 von Salerno heim-
gekehrt, Salernitaner Lehrweisheit in Montpellier vorzutragen wagte;
er wurde regelrecht verprügelt. Mag sein, daß gerade diese hand-
greiflichen Widerlegungsversuche der Koryphäen von Montpellier,
die einem Urso und Maurus aus ihren Reihen keinen Ebenbür-
tigen gegenüberzustellen vermochten, nicht nach dem Herzen der
Aufsichtsbehörde waren und den Erlaß erklären würden ; damit wäre
die Heimkehr des Aegidius Corboliensis von Salerno auf eine
immer schon vermutete Zeit genauestens festgelegt (1179). Ver-
gegenwärtigt man sich, wie aus Hartmanns von Aue „Armem
Heinrich" hervorvorgeht, daß zu Ende des 12. Jahrhunderts die
Schale der allgemeinen Wertschätzung der beiden Medizinschulen
entschieden zum Vorteil Salernos sich neigte, so kann man die Frei-
heit der Diskussion und Lehre für Montpellier nur nützlich halten.
In Salerno hatte sicher auch der Proven9ale Bernhard stu-
diert, der aus Arles stammte und, wie wir schon gehört haben, die
Montpellier.
213
„Tafeln" des ^Magister Salerxus mit Erläuterungen versah; er
scheint dann später in ^Montpellier gelehrt zu haben, doch ist dies
nicht bewiesen. Gilles nannte als dortige Lehrer einen Rexau-
DUS, einen Matheus Salomox, einen RiGORDUS, einen Richardus
senior, die alle literarisch unfaßbar sind wie Frühnamen von Sa-
lern. Frühen literarischen Ruhm, fast ohne eigenes Zutun, hatte
sich in Salerno Johannes de Sancto Paulo erworben, den wir
schon kennen und für einen Südfranzosen halten, der kurz nach
AeCtIDIUS in die Heimat zu-
rückgekehrt sein mag, wie
auch Walther Agilox, der
Verfasser eines Harntraktates,
eines Büchleins über Arznei-
dosen, einer allgemeinen me-
dizinischen Praktik, die auf
den Faden der Harndiagnostik
gefädelt ist, dessen Lehrzeit in
Salerno einige Wahrschein-
lichkeit hat, der aber schon
weiter ins 13. Jahrhundert
hineingehört. Enger noch
scheint Johann von Aquila,
der Verfasser eines in Disti-
chen geschriebenen Aderlaß-
traktates, an Salerno gebun-
den, wenn er auch gleichfalls
mit Wahrscheinlichkeit ein
Südfranzose aus dem Anfang
des 13. Jahrhunderts ist.
In Montpellier selbst hatte
man unterdes (1220) sich Sta- Abb. 97. Front der „Facult6 de Medccine"
tuten geschaffen, die 1240 ^ Montpellier mit der Kathedrale daneben,
weiter ausgeführt wurden. Die
Regenz ist rein hierarchisch; neben dem Bischof steht ein Kanzler.
Die gelehrten Grade: Baccalaurius, Lizentiat, Magister oder Doktor
wurden streng geregelt. Seit 1230 war die Praxis in Montpellier an
die Bedingung der Prüfung durch zwei Magister der Fakultät ge-
bunden. Chirurgen sollten in Montpellier nicht geprüft werden.
Die zweite Hälfte des 13. und der Anfang des 14. Jahrhunderts
waren eine Zeit besonderer, auch literarischer Blüte von Montpellier.
Hatte man gegen Koxstantix und seine Schule, die Frühara-
bistik von Salerno, allmählich eine gewisse Abwehrstellung ein-
2 1 4 Montpellier,
genommen, ohne ihr nennenswertes Eigenes entgegenstellen zu kön-
nen, so studierte man nun um so eifriger die reifere Weisheit des
Islam, die über die Pyrenäen aus Toledo und dem weiteren Spa-
nien herüberströmte. An der neuen Aneignung durch Uebersetzungen
aus dem Arabischen, wozu man durch eigene Judenschaft als
Dolmetscher wohl in der Lage gewesen wäre, beteiligte man sich
selbst nur in geringem Maße. Der einzige, der außer dem Spanier
Arnald einen ernsteren Versuch machte, war Armengaud, Sohn des
Blaise (Armengaldus Blasii), der neben einigen Pseudo-Galenicis
eine kleine Schrift des Ibn Sinä und eine des Maimonides nach
dem Arabischen oder dem Hebräischen mit Hilfe des Juden Pro-
FATIUS (Profa(;ag aus Marseille) übersetzte (1280— 1303), von der
Fakultät aber aus unbekannten Gründen ausgestoßen wurde.
Der erste nennenswerte Autor von den Professoren zu Mont-
pellier ist der Magister Cardinalis, der um 1240 Glossen zu den
Aphorismen des Hippokrates schrieb; auch ein Gillibertus, um
1250 Kanzler der Fakultät, hat sich literarisch einen Namen gemacht
durch Kommentare zum Aegidius und zum Viaticus. Etwas unbe-
stimmt sind die Nachrichten über einen Roger de Barone, der
in Montpellier wirkte, um 1280 oder später, und als Verfasser der
„Rogerina" vielleicht zu gelten hat, die als „Practica Rogerii" in die
„CoUectiones Chirurgicae" der Renaissancezeit versehentlich ge-
raten ist: ein intermedizinisches Werk, zweifellos nicht ohne Wert,
das dem Salernitaner Chirurgen Roger sicher nicht zugerechnet
werden kann. Die größten Namen, die das medizinische Katheder
in Montpellier im zu Ende gehenden 13. und beginnenden 14. Jahr-
hundert geziert haben, sind Arnald der Katalane und Bern-
hard (von) Gordon.
Arnald von Villanova, geboren ca. 1235 in der Nähe von
Valencia in Spanien, und sein Leben lang mit dem Hofe von Ara-
gon in nahen Beziehungen, hat mehr als ein Jahrzehnt, etwa 1289
bis 1299, in Montpellier gelehrt und gewirkt, sprengt aber die Mons-
pessulanischen Schulschranken. Er ist zweifellos die fortschrittlichste
Aerztepersönlichkeit des hohen Mittelalters, wenn ihm auch die Aus-
geghchenheit fehlte, um völlig führend zu wirken. In Montpellier
sind die „Parabolae medicationis secundum instinctum veritatis
aeternae" entstanden, sein tiefstes Werk, ein Lehrkanon heilender
Betätigung des Arztes aus den Instinkten ewig gültiger Wahrheit
entnommen, großzügig und doch wirklichkeitsecht. Größere Wir-
kung war noch seinem „Breviarium" beschieden, einem weitge-
spannten Abriß der internmedizinischen Praxis, ebenso bedeutend
in der Erfassung und Herausarbeitung der Krankheitserscheinungen,
Montpellier. 2 1 5
wie der Benutzung aller erreichbaren Heilfaktoren. Arnald hatte
auch schon die große Bedeutung der Alchemie, die eben im Abend-
lande ihre großen Fortschritte bahnbrechend auswirkte, für die Arznei-
bereitung erkannt, wenn auch noch nicht voll auszubilden vermocht;
doch knüpfen sich bei ihm die ersten Verbindungen zwischen Me-
dizin und Scheidekunst, wie er denn allem Geheimwissen zugetan
war und seinen Geist auf allen Gebieten einen hohen Flug wagen
ließ, dei freilich mehrfach in Ueberspanntheiten ausartete. In der
Medizin hat er den festen Boden nirgends verloren und in der Fülle
seiner Werke namentlich auch die Diätetik nie aus den Augen ge-
lassen, ja in seinen Schriften über die Bewahrung der Gesundheit
und die Verhütung des Alterns manches Goldkorn niedergelegt.
Er hat es nicht verschmäht, wie wir oben gesehen haben, aus An-
regungen, die ihm wohl in Neapel und an dem Hofe der Arago-
nesen in Sizilien geworden waren, an das bescheidene Blühen von
Salerno anzuknüpfen, medizinische Merkverse aus Salerno und dem
weiteren Abendlande zu sammeln und zu einem bequemen Kom-
pendium ärztlich gesehener Lebensweisheit in Versen zusammen-
zustellen, die, unabhängig geworden von einem Prosakommentar, mit
dem er sie ausführlich ausgestattet hatte, ein langes Nachleben hatten
und sich zu einem Leitfaden gesunder Lebensführung für Laien und
Aerzte für viele Jahrhunderte auswuchsen, ohne daß man seines
Namens dabei gedacht hätte.
Sicher war der Einfluß Arnalds (f 131 1) als gefeierter Lehrer
und Gelehrter und Weltverbesserer in Montpellier nicht gering.
Nachhaltiger vielleicht und eindrucksvoller, weil stetiger und weni-
ger unruhig und sprunghaft, war wohl noch das Wirken eines
anderen bedeutenden Arztes, Bernhard Gordon (Bernardus de
GORDONIO), über dessen Herkunft wir nicht genau unterrichtet sind.
Ob man ihn mit Recht für einen Schotten hat ausgeben wollen,
bleibt zweifelhaft. Er wirkt ganz als in der Praxis überaus erfah-
rener und wissenschaftlich hochbedeutender Südfranzose, neben dem
Schweifstern Arnald unbestreitbar die hervorstechendste Aerzte-
persönlichkeit Montpelliers im Mittelalter.
Er begann seine Lehrtätigkeit um 1282 und hat bis in das
zweite Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts gelebt (gegen 1318). In einer
Jugendschrift über den Theriak lehnte er sich an den Spanier IBN
ZunR (Avenzoar) an, ist aber in all seinem späteren bedeutenden
Schriftwerk völlig selbständig, von dem ein Traktat über Diätetik
in Fieberkrankheiten (1294), eine prognostische Abhandlung über
Krisen und kritische Tage (1295), eine allgemeine Therapeutik („De
ingeniis curandorum morborum", Juli 1299), sein großes Handbuch
der inneren Aledizin („Lilium medicinae", Juli 1303) und ein zusam-
2 1 6 Montpellier.
menfassendes Werk über mittelalterliche Blutlehre (Aderlaß, Harn-
lehre, Pulslehre und Lebenserhaltung, Februar 1308) als das Wich-
tigste genannt seien. Wenn auch in völlig anderer Weise metho-
disch ausgeführt, stellt sich das systematische Lilium in 7 Abschnitten
als Lehrbuch würdig neben das praktische Handbuch des Arnal-
dinischen „Breviarum", das vielfach neue Wege geht. Bernhard
zeigt auch schon Spuren scholastischer Lehrmethodik in man-
cherlei akademischen Quaestiones, neben geheimwissenschaftlichen
und Lebensverlängerungs-Verordnnngen, die sich zum Teil direkt
mit Arnalds Schriftwerk berühren, wenn auch die dabei zum Wort
kommende fromme Gesinnung von den chiliastischen Spielereien
und Religionsverbesserungsplänen des Ekstatikers Arnald scharf
absticht.
Da es immerhin möglich ist, daß Bernhard Gordon kein
geborener Franzose, sondern ein Schotte ist, wenn ich es auch nicht
gerade für besonders wahrscheinlich halte, so seien hier doch einige
namhafte Aerzte des 13. und 14. Jahrhunderts genannt, die eng-
lischer Herkunft sind, so der viel herumgekommene RiCHARDUS
Anglicus (von Wendowre oder Wendmere, f 1252), geb. zu Oxford,
eine Zeitlang päpstlicher Leibarzt zu Rom, später zu Paris, der eine
ganze Reihe von Schriften verfaßt haben soll. Auch Gilbert, der
Engländer, ein Zeitgenosse des Richard, soll weit gereist, in Mont-
pellier und Salerno gewesen sein. Er schrieb ein „Compendium
medicinae" für Aerzte und Chirurgen, das manches Wichtige ent-
hält, z. B. in der Pathologie der Infektionskrankheiten (Lepra, Pocken,
Masern usw.). Ein Zeitgenosse Bernhards Gordon war John
OF Gaddesden (um 1320). Er schrieb, kurz nach dem „Lilium"
Bernhards und stark daran angelehnt, ein „Rosa anglica" ge-
nanntes Lehrbuch der praktichen Medizin.
Aus dem Anfang des 1 4. Jahrhunderts sind als Lehrerin Mont-
pellier zu nennen Guillaume de Beziers (de Biterris, f 1323),
Kanzler der Hochschule, Verfasser einer ärztlichen Hodegetik ; auch
der Italiener Wilhelm Corvi von Brescia, Verfasser einer be-
rühmten „Practica", hatte als Leibarzt der Päpste Bonifaz VIII. und
Klemens V, in Avignon lose Beziehungen zu MontpeUier. Mag.
Jordanus de turre, als Lehrer von 13 13 — 1335 nachweisbar,
schrieb über Schwangerschaft, wobei darauf hingewiesen sei, daß
das Zölibat in Montpellier nicht die strikte Vorbedingung zur Lehr-
tätigkeit war, wie in Paris an der medizinischen Fakultät. Ste-
phanus Arnaldi, Vizekanzler 13 19, wird noch 1340 genannt und
hat sich auch chirurgisch betätigt, wie auch seine Schriften erkennen
lassen, die sich mit der Anatomie bei Hippokrates und Galenos
Montpellier. 217
und der des MONDINO befassen und über Aderlaß und über den
Star handeln. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wirkte
Bernardus Alberti, der 1353 belegt ist, über Harn und Fieber
schrieb und schon in rein scholastischer Manier eine Einführung in
die Praxis ausdrücklich an einen Abschnitt aus dem Kanon des IBX
SiNÄ anlehnte, wie sein Zeitgenosse Geraldus de Solo, Lehrer zu
Montpellier 1335 — 137 1, eine Zeitlang Kanzler der Hochschule, einen
Kommentar zum 9. Abschnitt des Mansurischen Buches des AR
RÄzi schrieb und zur Isagoge des HoNEix (Johannitus) neben
einer Einführung in das Studium (Introductorium juvenum), einer Fie-
berschrift usw. Als Rivalen um die Kanzlerwürde treten uns im
Jahre 1364 Johannes Jacobi (t 1384) und Johann von Torna-
mira (1329 — 1396) entgegen, beides hervorragende Männer in Praxis,
Wissenschaft und Lehre. Ersterer schrieb über die Pest, über Blasen-
stein und einen kurzen Abriß der praktischen Medizin (Secretarium
practicae medicinae); Jean de Tournemire aus der oberen Lan-
guedoc schrieb eine Einführung in die Praxis (introductorium), eine
Erläuterung (Clarificatorium) zum 9. Buche an Älansur und eine
Fieberschrift. Als letzte Größen des mittelalterlichen Montpellier sind
Johannes de Piscis aus der Languedoc und der Spanier (oder
Gascogner?) Valescus de Taranta (Balescon de Tharante)
zu nennen. Jean de Piscis wird 1396 und 1426 als Kanzler ge-
nannt; er schrieb eine Practica. Ein Buch gleichen Titels, auch
Philonium genannt, von Balescon, der 14 18 schrieb, hat bis weit
in das 1 6. Jahrhundert hinein als Handbuch der praktischen Medizin
gegolten und ist oft gedruckt worden. B. war auch der Verfasser
eines chirurgischen Buches, wie sich denn Montpellier gleich Bologna
auch für die Wundarzneikunst allezeit wohl interessiert gezeigt hat
Wir haben schon erfahren, wie zu Anfang des 13. Jahrhunderts
Willehalm von Bourg (de congenis) in den Tagen der Roger-
glosse in Montpellier chirurgische Lehrvorträge hielt und im Spital
zum Heiligen Geist Schüler in die operative Chirurgie einführte.
Um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert übte in Mont-
pellier Boneto Lanfranco, der Sohn des größten Chirurgen des
hohen Mittelalters, die chirurgische Praxis. Gleichzeitig unterrichtete
dort der gelehrte scholastische Mediziner und schon längere Zeit als
ausübender Wundarzt in Paris in Krieg und Frieden tätig gewesene
Henri von Hermondeville (Mondeville) um 1304 Chirurgie
und Anatomie in Montpellier. Sein großes in der Darstellung schon
völlig scholastisches Handbuch der Chirurgie, das leider ein Torso
geblieben ist, hat er unter Einfügung der Anatomie, nach Paris
zurückgekehrt, verfaßt, wo er auch sein Leben um 1317 oder 1320 be-
2l8
Montpellier.
schloß. Er ist besonders beachtenswert auch um deswillen, weil die
anatomischen Tafeln, mit denen er seinen Lehrvortrag in Montpellier
illustrierte, einen wesentlichen Fortschritt in der anatomischen Gra-
phik bedeuten (s. u.). In der Chirurgie ist es sein großes Verdienst,
erneut und mit großer Eindringlichkeit auf die eiterlose Wund-
behandlung der BORGOGNONI hingewiesen zu haben und von
seinen eigenen bedeutenden Erfolgen mit dieser primären Wund-
heilung nachdrücklichst Bericht erstattet zu haben, ohne freilich mehr
Nachfolge erreichen zu können als HuGO und Theoderich, von
deren Wundbehandlungsmethode nicht einmal die beiden großen
Meister der Wundarzneikunst Bolognas Wilhelm von Saliceto
und Lanfranc ernsthaft und ausdrücklich Notiz genommen haben,
obgleich sie neben ihnen und vor ihren Augen noch Theoderich
geübt hat.
Besser ist es auch dem eifrigen
Lobredner einer eiterlosen Wund-
heilung Henri nicht erg'angen.
Der hervorragendste chirurgische
Schriftsteller Frankreichs im Mit-
telalter, Guy de Chauliac, aus-
gebildet in Montpellier und Bo-
logna (f 1368), nimmt in seinem
berühmten „Collectorium c3Tur-
gie" (1363), dem Ergebnis lang-
jähriger eigener Erfahrung und
gewissenhafter, kritischer Benut-
zung der abendländischen und
morgenländischen chirurgischen
Literatur, soweit sie in lateinischen
Uebersetzungen zugänglich war,
von der Wundbehandlung des
Henri d'Hermondeville kaum
Notiz, noch weniger von dem
Eigenen, das in HuGO und Theo-
derichs Chirurgie darin steckt.
Mit scharfem Urteil, wenn auch nicht ohne Parteilichkeit, sitzt Guy
über die ihm zu Gebote stehende Literatur zu Gericht und hat
mit viel Selbständigkeit, aber ohne den Leser an der Beurteilung
durch Vorlage eigener Kasuistik teilnehmen zu lassen, das ganze
Gebiet unter ständiger Berücksichtigung des AviCENNA und Abu'l
Qäsim zur Darstellung gebracht und offenbar gar manches aus
eigener Erfahrung hinzugetan, ohne dies selbst ausdrücklich her-
vorzuheben. Ob er selbst ausübender Operateur gewesen ist,
Abb. 98. Guy de Chauliac
trägt seine Chirurgie vor. Aus
französischen Hand-
schrift im Vatikan.
Montpellier. 2 1 9
darüber steigen dem Leser immer wieder Zweifel auf, trotz aller
Eigenwüchsigkeit des Urteils. Die Darstellung krankt gar viel-
fach an den Fehlern der scholastischen Methode, wie bedeutend
auch das ganze Werk als wissenschaftliche Leistung ist. Die knappe
Klarheit und klinische Geschlossenheit der „großen Chirurgie" des
eigenwüchsigen operativen Meisters Lanfranc wird schmerzlich
vermißt in dem Buche, das trotzdem nicht unverdient das führende
Handbuch der Chirurgie des ausgehenden Mittalalters geworden ist
bis zu Pierre Franco und dem genialen Ambroise Pare!
Ueberschaut man die lehrende und gelehrte Arbeit von Mont-
pellier im LIittelalter, das immer ausschließlich Aerzteschule ge-
blieben ist im Laufe von drei Jahrhunderten, so ist sie lange Zeit^
trotz aller arabischen Belehrung aus dem nahen Spanien, doch frei
geblieben von den quälenden Spitzfindigkeiten der Scholastik, die
erst seit dem 14. Jahrhundert einzuziehen beginnt. Man hat den
Eindruck, als habe der gesunde medizinische Sinn eigener Erfah-
rung und Lehre, vielleicht unter Einwirkung nachklingenden Ein-
flusses aus der Antike, auch auf dem spätbesiedelten Hügel, wenig
mehr als 10 Kilometer von der Alittelmeerküste, ausgestattet mit
dem ältesten botanischen Garten Frankreichs, ein Gegengewicht in
sich selbst besessen gegen die Lockungen der Scholastik, die mit
den Literaturströmen arabischen Wissens seit dem Ende des 12. Jahr-
hunderts aus Spanien nach Frankreich sich ergossen und ihren festesten
Boden an der Hochschule von Paris gefunden haben. Eine Spur
von dieser Empfindung ist auch bei GuY de Chauliac noch leben-
dig, wenn er von Henri d'Hermondeville betont, als in Mont-
pellier selbst schon die Scholastik in der Medizin herrschte, er sei:
„Parisiis nutritus inter philosophos", unter dem Einflüsse der Pariser
Scholastik aufgewachsen.
Scholastik in der Medizin,
Paris, Bologna, Padua.
Gilles de Corbeil hatte zu Ende des 12. und zu Anfang des
13. Jahrhunderts versucht, die Medizin von Hochsalerno, gekleidet
in die seit dem Pseudo-Macer in der Medizin Frankreichs so be-
liebte Versform, nach Paris zu überführen. Harnlehre, Pulslehre,
Arzneimittellehre, ein Abriß der Therapie, alles im Sinne Salernos
gefaßt, war in Versen von ihm hinausgegangen, und man hat dem
nicht geringe Beachtung geschenkt, wie mancherlei Kommentierungen
beweisen. Wirkungsvoller in weiteren, auch philosophischen Kreisen
ward das direkte Bekanntwerden mit den Werken des Maurus
und Urso, wie wir schon gesehen haben. Als Arzt und Philosoph
wirkte in Paris Jean de Saint gilles (Joh. de Sancto Egidio),
Leibarzt des Königs Philipp August, der auch in Montpellier gelernt und
gelehrt hatte, zu Anfang des 1 3. Jahrhunderts, der auch einen Traktat
über Bau und Bildung des Menschenkörpers geschrieben hat, kurz
nachher auch Pontius de Sancto Egidio, der aus Montpellier kam
und ein medizinisches Kompendium schrieb. Magister Gerauld aus
Bourges (GiRALDUS Bituricensis) hat einen Namen durch seinen
Kommentar zum Viaticus Constantini; er war in Salern und Mont-
pellier gebildet und praktizierte zu Paris.
So gehen die Fäden zwischen den drei Hochschulen hin und
her, und es war nur selbstverständlich, daß der Portugiese Petrus
Juliani (Hispanus) auf seinen Reisen sowohl Montpellier als Paris
besuchte und an beiden Stellen studierte und unterrichtete, ehe er
1249 in Pisa auftauchte, wo er am längsten als Lehrer und Arzt
gewirkt zu haben scheint, ohne daß man bis heute bestimmt sagen
könnte, wo sein Schriftwerk, vor allem der vielverbreitete „Thesaurus
Pauperum" entstanden ist; sein Papsttum als Johann XXI, (1276)
hat ja nur wenig Monate gedauert.
Bedeutung als medizinische Lehrstelle hat Paris ja zunächst
kaum erlangt; dagegen hat die Chirurgengilde, das „College de
St. Come" schon im 13. Jahrhundert sich gebildet und allmählich
seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts Bedeutung gewonnen, in
Praxis und Lehre, namentlich durch Jean Pitard, der es sich eine
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
221
Ehre sein ließ, dem großen Laxfraxco die Wege zu ebnen, und
durch Laxfranco selbst. Auch Henri d'Hermondeyille trug
zum Ruhme des College mächtig bei; er, wie Lanfranc haben zu
Paris mit Erfolg Chirurgie gelehrt. Dadurch ward die Eifersucht
des AerztekoUegiums langsam rege, die in jahrhundertelangem Kampfe
der beiden Korporationen austobte und mit dem Siege der Chirurgen
endete und enden mußte.
Ruhm und Einfluß erlangte die Pariser Hochschule durch ihre
Artistenfakultät, während die medizinische Fakultät, die lange Zeit
bei der Artistenfakultät in der Rue du Fouarre zu Gaste war und
sich erst 1369 ein eigenes Haus in der Rue de la Bucherie erw^arb,
auch wissenschaftlich vorher noch kaum allzuviel Geltung hatte.
Abb. gq. Lage der ecole de Medecine gegenüber der Rue du Fouarre nahe der Notre-
Dame und des Hötel-Dieu (aus NiCAiSE, Chirui^e de Pierre France, 1895).
Trotz des heftigen Widerstandes, welchen die Pariser Universität
anfänglich dem Einströmen des naturwissenschaftlichen Aristoteles
aus Toledo entgegensetzte, wurde Paris doch recht bald der Mittel-
punkt für die ganze scholastische und philosophische Naturwissen-
schaft. Hier verweilten sie jahrelang fast alle, die in der Hoch-
scholastik einen großen Namen haben, Franzosen, Engländer, Deutsche
und auch ItaHener, manche, nachdem sie sich in Toledo und Sizilien
den Blick geweitet hatten, wie Michael Scottus, dessen physiogno-
misches Werk auch für die Medizin Bedeutung hatte. Hier weilten
vorübergehend auch Roger Bacon und Albert V'>n B<'LLSTAEDT
222 Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
und dessen Schüler Vincenz von Beauvais, der die größte Enzy-
klopädie des Mittelalters verfaßt hat, in der auch die Medizin zu
ihrem Recht kommt.
Roger Bacon (12 14 — 1292), der neuplatonisches, aristotelisches
und arabisches Wissen in weitem Umfange in sich aufgenommen
hat, erkannte doch schon, daß damit die naturwissenschaftliche Er-
kenntnis noch nicht ihre endgültigen Grenzen erreicht habe, und
suchte an seinem Teile daran weiterzubauen. Sein „Opus majus"
enthält auf dem Gebiete der exakten Naturwissenschaften Keime
des Fortschrittes in Fülle. Weniger von Bedeutung sind seine
medizinischen Ausarbeitungen, die sich zum Teil in iatromathe-
matischen Spitzfindigkeiten verlieren, wie in den Schriften über die
kritischen Tage, zum Teil größer sind in der Kritik (De erroribus
medicorum) als in positiver Leistung, z. B. in der Lebensverlängerung,
da ihm, der der Erfahrung gegenüber der Autorität und dem Rai-
sonnement so großen Wert zumaß, die eigene Erfahrung in der
Praxis und am Krankenbette völlig abging. Sein mathematisch ge-
richteter Neuplatonismus führte ihn überhaupt von ARISTOTELES und
seiner organischen Naturwissenschaft in der Erforschung des Tier-
körpers und seiner Lebensäußerungen hinweg, bringt ihn in Gegen-
satz zu dem größten deutschen Naturforscher des Mittelalters, zu
Albert dem Großen, dessen Bedeutung für die Medizin gerade in
seinen Pflanzen- und Tierstudien liegt.
Der Schwabe Albert Graf von Bollstädt (1206— 1280) stu-
dierte in Padua, lehrte einige Jahre in Paris (1245 — 1248), vorher
und nachher meist in Köln, am dortigen „Studium generale"; einer
Bitte, 1268 nochmals die Lehrkanzel in Paris zu übernehmen, leistete
er keine Folge. Hier ist von den Leistungen des universellen Denkers
nur auf sein Schaffen in den biologischen Wissenschaften hinzuweisen.
Ausgehend von Aristoteles und Avicenna, hat er vor allem in
der Tiergeschichte zahlreiche Beweise dafür gegeben, daß er ein
Beobachter höchsten Ranges gewesen ist und in der Biologie Wege
eingeschlagen hat, wie man sie erst im 16. Jahrhundert wieder be-
schritt.
Auch in der Botanik sind Alberts Leistungen epochemachend ;
man kann ihn mit Recht als den ersten wissenschaftlichen Bearbeiter
der Pflanzenkunde seit dem Eresier Theophrastos, dem Schüler
des Aristoteles, bezeichnen.
Zu seinen Lebzeiten entstand in Frankreich eine Uebersetzung
des „Circa instans", einer salernitanischen alphabetischen Pharmako-
logie, welche, wie wir oben erfahren haben, unter dem Namen eines
Platearius geht. Dieser französische Platearius, beginnend
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
22-
Abb. loo.
Abb. loi.
Abb. loo, loi und 102. Kornrade (Gith,
Agrostemma Githago L.) und Mohn aus fran-
zösischen PLATEARius-Handschriften („Secrets
de Saleme") um 1400.
„En cette presente besoigne",
wurde später, wohl schon im
14. Jahrhundert, mit Pflanzenabbil-
dungen versehen, welche in der
botanischen Graphik Beachtung
verdienen; stellen sie doch zum
Teil die ersten wirklich wieder nach
der Natur gezeichneten wissen-
schaftlichen Pflanzenillustrationen
dar seit Dioskurides oder gar
seit Krateuas; als ihre Vorläufer
sind zahlreiche vortreffliche Pflan-
zenbilder auf Miniaturen Frank-
reichs, in Livres d'heures usw. des
14. Jahrhunderts anzusehen. Doch
die Pflanzenbilder des französischen
Abb. I02.
2 24 Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
Platearius, von denen wir umstehend einige wiedergeben, haben
bis weit in die Inkunabelgraphik Frankreichs und Deutschlands, ja
ins 1 6, Jahrhundert hinein gewirkt. Sie bilden immerhin ein Ruhmes-
blatt Frankreichs im sinkenden Mittelalter. —
Wer aber im 13. und 14. Jahrhundert z. B. in Deutschland
Medizin studieren wollte, ging selten nach Paris, häufiger schon
nach Montpellier, meist aber nach Bologna und Padua, den Haupt-
sitzen der medizinischen Scholastik.
Bologna, zuerst ausschließlich Juristenschule führt seine medizi-
nischen Anfänge bis in das Ende des 12. Jahrhunderts zurück. Be-
deutung gewinnen Mediziner und Artisten dort erst im 13. Jahr-
hundert. Die Blüte der Bologneser Chrurgie haben wir schon kennen
gelernt. Auch sie knüpft an Abu'l QäSIM und IBN Sina an und
wäre ohne das Bekanntwerden beider literarisch sicher nicht in
gleichem Umfang und gleicher Bedeutung in die Erscheitmng ge-
treten. Doch ist die italienische Chirurgie Oberitahens im 13. Jahr-
hundert durchaus nicht etwa arabistische Entlehnung, wenn sie auch
als ein Teil der medizinischen Scholastik aufgefaßt werden muß,
aber als ein Teil, der auf eigener Beobachtung und den Ergebnissen
eigener Erfahrung neben der Herübernahme islamischer Ueber-
lieferung sich aufbaut und insofern direkt an die spätalexandrinische
Chirurgie des PAULUS, wenn auch unwissentlich, anknüpft. Bei
Guy De Chauliac spricht sich die Anlehnung an Paulus schon
dem Worte nach aus, wenn auch Paulinisches Chirurgische ihm wohl
nur aus Abu'l Qäsim bekannt ist.
Wie aber entwickelt sich die innere Medizin in Bologna? Wie
die Anatomie?
Wir sehen noch nicht klar über die dortigen Anfänge, zumal
in der Frage, ob dort etwa ein gewisser Gegensatz zur Schule von
Salerno in die Erscheinung trat wie in MontpeUier. Die vorsalerni-
tanische und die sogenannte frühsalernitanische Literatur wird in
Bologna nicht gefehlt haben, soweit sie aus der Spätantike stammte
und als „Mönchmedizinisches" im ganzen Abendlande Kurs hatte.
Auch dem Einflüsse Konstantinischen Früharabismus wird man sich
nicht haben entziehen können. Und die Literatur Hochsalernos?
Wie weit gewann sie in Bologna Einfluß? Wenn man aus der Ent-
stehung der chirurgischen „Rolandina" in Bologna weitere Schlüsse
ziehen darf, die das wundarzneiliche Schulbuch Hochsalernos, den
Roger, mit geringen Veränderungen, aber in Bologneser Umprä-
gung sich einfach aneignete und nur mit einer neuen Etikette, einem
andern Titel versah, müßte man Aehnliches auch für die innere
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua. 22^
Medizin erwarten. Aber einfache Umprägung irgendeiner Salerni-
taner „Practica" in einen Bologneser Leitfaden der praktischen Me-
dizin ist bisher noch nicht bekannt geworden. Die Literatur des
frühen 13. Jahrhunderts in Bologna ist aber noch kaum erforscht,
noch weniger die des auskUngenden 12. Jahrhunderts. Ein Bolog-
neser Schulbuch scheint die „Practicella" eines internistischen Par-
mesanen zu sein, sie kann aber im Ernst nicht mit der „Rolandina"
des Roland von Parma in Parallele gestellt werden, denn sie ist
keine praktische Medizin, also spezielle Pathologie und Therapie,
sondern nur ein pharmakologisch -therapeutischer Leitfaden, wohl
frühestens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden,
und setzt die Entstehung eines großen Unbekannten voraus, des
„Mesue junior", der wiederum die Einführung der zweiten großen
arabischen Literaturmasse gegen Ende des 12. Jahrhunderts von
Toledo aus durch den Lombarden Gherardo zur Voraussetzung
hat und vermutlich in Oberitalien selbst entstanden ist, vielleicht so-
gar in Bologna. Darf man heute schon die Frage auf werfen: stellt
etwa die kühne Mystifikation „Mesues des Jüngeren" in einem neuen
Antidotarium, nach welchem gerade jetzt ein besonderer Bedarf war
und in einer neuen Practica die Grundleistung Bolognas in der
vollen Aneignung der arabischen inneren Medizin im Abendlande
dar? Daß sich so bedeutende Norditaliener, wie Peter VON Abano
und Franz von Piemont, mit der Weiterarbeit am Mesue junior
befaßten, spricht laut für die Bedeutung, die man gerade im öst-
lichen Norditalien den Büchern beimaß, vielleicht auch für deren
Entstehung in Oberitalien selbst. Doch gehört diese ganze Ange-
legenheit zu den ungeklärtesten des so vielfach noch unaufgehellten
Mittelalters. Bestimmt wurden jedoch Bologna und Padua mit der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vornehmlich die Pflegestätten
der sogenannten medizinischen Scholastik, als deren führendes Haupt
der Florentiner Taddeo Alderotti (1223 — 1303) zu gelten hat.
Was hat man nun unter Scholastik in der Medizin zu ver-
stehen? Die Frage lag dem Leser gewiß schon lange auf den
Lippen ! —
Kümmerliche Wissenschaft und kümmerliche Kunstübung war
für die Medizin des frühen Mittelalters die Signatur. Hochsalerno
hatte hierin die erste Aenderung gebracht unter Vermittelung früher
arabischer Literatur durch KONSTANTIN. „Scholastisch" könnte man
auch dies alles schon nennen, wie denn auch am Ausgang der An-
tike die Wissenschaft scholastische Züge schon deutlich zeigt, wenn
Unlebendigkeit und einseitig schulmäßiger Betrieb für alle Schola-
stik wesentliche Zeichen sind. Im hohen Mittelalter hatte die Schola-
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medixin. I5
226
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
stik aber eine besondere Note, die man wohl als „Mesalliance von
Wissen und Glauben" bezeichnet hat. In Wahrheit stellt sie die
Ueberflutung zunächst der Theologie, weiter der gesamten Wissen-
schaft mit Aristotelischer Philosophie dar, die aus dem Griechischen
ins Syrische, aus dem Syrischen ins Arabische, aus dem Arabischen
mit hebräischer Beihilfe ins Lateinische umgekleidet war und über-
dies nach Frankreich usw. in Begleitung arabischer Kommentierung,
namentlich zuletzt noch des Averroes (f 1198) gelangte. Aus dieser
so verhüllten Aristotelischen Naturphilosophie hat das 13. Jahrhundert
im Abendlande allmählich in harter Arbeit den eigentlichen Aristo-
telischen Kern herausschälen müssen und gleichzeitig eine vollkom-
mene Harmonie der Weltanschauung des Aristoteles mit der der
christlichen Kirche herzustellen sich bemüht.
Auch für die Medizin ergab sich das Problem, eine Harmonie
herzustellen zwischen den verschiedenen Ueberlieferungen, die meist
dadurch erreicht wurde, daß man sich widerspruchslos dem größten
Kopfe aus der Medizin des Islam gefangen gab, dem Perser ibn
SiNÄ. Die religiöse Frage tritt vielleicht nur bei Taddeo stärker
hervor.
Entscheidend für die Medizin wurde es aber, daß sie unweiger-
lich wie die Theologie und die „Artes" an den Universitäten das scho-
lastische Gewand der Wissenschaft übernehmen mußte, die gesamte
deduktive Methode des Definierens, Klassifizierens, Argumentierens
in Syllogismen und Axiomsätzen, des Systematisierens nach Autori-
täten und harmonisierenden Prinzipien. Grundlage des Unterrichts
Abb. 103. Medizinischer Lehrvortrag in Bologna (vom Sarkophag des Professor der
Medizin JIichei.e Bertalia, 1328).
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua. 227
wurde die „Lectio", die Erläuterung eines gegebenen Textes, regel-
mäßig, etwa alle zwei Wochen, unterbrochen durch die „Disputatio
ordinaria" über das Gelesene und Erläuterte nach den Regeln der
Disputierkunst, daneben zweimal im Jahre die großen „Disputationes
de quolibet" oder „quodlibetariae", wo jeder Student und jedes son-
stige Universitätsmitglied die Möglichkeit hatte, beliebige Fragen
zu stellen und auf deren Diskussion zu bestehen, woraus sich die
große Quästionen-Literatur der „Quaestiones disputatae" und „Quae-
stiones de quolibet", kurz „Quodlibeta", entwickelte. Kennzeichnend
ist ferner das ständige Hantieren mit Autoritäten, auf die man zu-
rückgreift statt auf Beobachtungstatsachen; sie umkleiden die Be-
weisführung mit dem Schimmer der Wahrheit als unbestreitbarer
Norm im Widerstreit des „pro" und „contra" und deren „solutio" in
Harmonisierungsbestrebungen. Tabulae, Florilegia, Sentenzensamm-
lungen bilden die Rüstkammern des gelehrten Streites, Concordan-
ciae, Conciliatores controversiarum usw. sind die Ergebnisse ; die von
der Erfahrung losgerissene Natur- und Heilkunde trieb auf dem
Meere der „Conclusiones" und „Deductiones". Nach induktiver Me-
thodik war nur spärlicher Bedarf, etwa mit Ausnahme von Albert
und Roger Bacox, der, so sehr er auch in die Scholastik
hineingehört, doch in seinem Denken aus den Schranken derselben
hinausweist.
Typischer Meister medizinischer Scholastik ist Taddeo Alde-
ROTTI, der schon durch seine niedere Herkunft zu den Aristokraten
von Salerno in Gegensatz steht, aber als reicher Mann in Bologna
sein Leben schloß. Spät erst kam er zum ärztlichen Gelehrtenberuf.
Um 1260 begann er in Bologna zu lehren, ganz in der eben skiz-
zierten Weise der kommentierenden „lectio" nach dem Vorbilde der
Bologneser Juristen. Die weitschweifigen Kommentare sind noch
erhalten ; sie betreffen außer den Isagogae des HUNAIX nur griechische
Schriftsteller, wie HiPPOKRATES (Aphorismen, Prognostica, Regimen
acutorum) und Galenos (Tegni, Krisen, De interioribus usw.), was
immerhin sehr zu beachten ist. Seine Bibliothek enthielt freilich
den Kanon des Avicenna, den Liber mansuricus des Razes und
die Pandekten des Serapion neben Galenischen Folianten. Von
seinen Schriften sind charakteristisch für die Zeit mancherlei Quae-
stiones usw., die sich auch an die Kommentare anschließen, ein Re-
gimen sanitatis im Stile der ARISTOTELES-Epistel an Alexander und
zahlreiche (156) Konsilien, und unter den letzteren eine Abhandlung
über den Weingeist und seine Darstellung, die zum ersten Male eine
regelrechte Kühlvorrichtung aufweist — also auch bei diesem als
Urtypus aller medizinischen Syllogistik verpönten, zweifellos bedeu-
15*
228 Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
tenden Manne schon Beweise eines fortschrittlichen Strebens, an
dem die verschrieene Scholastik trotz der tausend Hemmschuhe ihrer
Methodik keineswegs arm ist.
Einer der vielen namhaften Schüler des Taddeo war der oben
schon genannte GuiLELMO Cor vi da Brescia (1250 — 1326), der
zuerst Logik in Padua gelehrt hatte, lange päpstlicher Leibarzt
in Avignon war, zuletzt in Paris wirkte und seinen Namen in Bo-
logna durch ein, zum Dank für die dort erhaltene medizinische Be-
lehrung errichtetes Stipendium, lebendig hielt. Seine Praktik der
inneren Medizin trug ihm den ' bezeichnenden Namen „Aggregator
Brixiensis" ein. Ein anderer Schüler Bartolomeo Varignana
(f 13 18) lehrte lange in Bologna selbst, wie auch andere seines Na-
mens, und hat als Kollegien hefte Kommentare im scholastischen
Abb. 104. Bogenhallen in der alten Universität, dem Archiginnasio zu Bologna.
Stile ZU AviCENNA und Galenos hinterlassen. Ein Schwager des
Taddeo, mit Namen BuoNO Di Garbo, war Chirurg und Freund
des Wilhelm von SaHceto; sein Sohn Dino (Aldebrandino)
DI Garbo (f 1327) war der erste der großen AviCENNA-Kommen-
tatoren, die in fast ununterbrochener Reihe bis zum Anfang des
17. Jahrhunderts verlaufen und manch bedeutenden Mann unter sich
zählen, der sein fortschrittliches Denken, ja seine Entdeckungen in
dem Kommentarvverk mehr verborgen als kundgegeben hat. Es ist
noch mancherlei auszugraben in dieser langen Reihe der AviCENNA-
und RAZES-Kommentare, einiges schon ausgegraben worden, DiNO
hat aber, schon um des Lehrwerkes willen, auch zu Hippokrates
und Galenos in seiner Lehrtätigkeit an zahlreichen Hochschulen
Scholastik in der [Medizin. Paris, Bologna, Padua.
229
Italiens Kommentare verfaßt. Der Ehrentitel „Expositor" zeichnete
ihn aus. Sein Sohn TOMMASO Di Garbo, selbst freierer Denk- und
Schreibart, ein vom Aerztehasser Petrarca geschätzter Praktiker,
betont von seinem Vater, er sei dem Galexos gefolgt wie dem
Evangelium. TOMMASO hat eine unvollendete „Summa medicinalis"
hinterlassen. Pietro Torrigiano dei Torrigiani (Trusianus),
gleichfalls noch Taddeos Schüler, wirkte eine Zeitlang in Paris.
Seine Erläuterungen zum Tegni des Galenos wollten mehr sein
als ein bloßer Kommentar, weil er alles Mögliche dahinein schach-
telte; man hat ihn selbst darum, halb preisend, halb spottend, den
„Plusquam Commentator" genannt.
Abb. 105. Säulenhof der Universität zu Padua.
Die Paduaner medizinische Schule des 13. und 14. Jahrhunderts,
wenig jünger als die von Bologna, erlangte besonderen Ruhm
durch Pietro aus Abano (1250 — 13 15), der eindrucksvoll auch in
Paris gewirkt hat. Eine vorwärtsdrängende Persönlichkeit, hat er
sowohl geheimem Wissen (wie Arnald) sich zugeneigt als auch
Konstantinopel aufgesucht, um der pseudoaristotelischen „Proble-
mata" willen und um seinen Gesichtskreis ins Griechische zu er-
weitern. Wie üblich, besonders in Paris, verketzert, hat er in seinem
„Conciliatordifferentiarum, quae inter philosophos et medicos
versantur" ein typisches Werk medizinischer Scholastik geschaffen, das
doch vielfach physikalisch, anatomisch und ärztlich tiefere Einsicht
erkennen läßt. Wenn man dem Pietro seine astrologischen Nei-
gungen aufrechnen will, so versteht man die Zeit nicht. Seit Da-
niel VON MoRLEY ist die Astrologie im Abendlande wieder hei-
misch geworden; sie gilt als mathematische "Wissenschaft und ist
230 Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
auch dem Roger Bacon sehr ans Herz gewachsen. Um die Mitte
des 14. Jahrhunderts gibt es in Bologna drei Lehrgänge der Heil-
kunde : die praktische Medizin, die theoretische Medizin (medizinische
Philosophie) und die medizinische Astrologie (Astrologie im Allge-
meinen und latromathematik).
Als Schüler des PiETRO aus den Euganen gelten mehrere Mit-
glieder der Paduaner Aerztefamilien Santa Sofia und dei Dondi.
GiACOMO de' Dondi (f 1359) untersuchte die Heilquellen von Abano
und schrieb einen „Aggregator de simplicibus" über die Qualitäten
der Arzneistoffe, der ihm den Beinamen „Aggregator Paduanus"
eintrug. Der Astronom Giovanni (y 1380), Sohn des Giacomo,
Verfertiger eines Planetariums in 1 6-jähriger Arbeit, genoß durch ganz
Italien auch den Ruhm eines großen Arztes und war mit Petrarca
befreundet.
Der hervorragendste Anhänger des Peter von Abano war je-
doch Gentile dei Gentili da Foligno, der vornehmste der Avi-
cenna- Kommentatoren, dem man den Ehrennamen „Anima Avi-
cennae" beigelegt hat, ein vielseitiger Mann, der an mehreren Hoch-
schulen lehrte, zuletzt in Perugia, nahe seiner Heimat Foligno, wo
ihn die Pest im Sommer 1348 dahinraffte noch in der Blüte der
Jahre, ihn, den man auch wegen der Vielseitigkeit seines spintisie-
renden Nachdenkens den „Speculator" getauft hat. Als sein blei-
bend Wertvollstes hat man sich gewöhnt, seine zahlreichen „Kon-
silien" anzusehen, die zweifellos zu den hervorragendsten dieser
Literaturgattung gehören, in der seit den Frühtagen des Taddeo
die Kliniker aus den Reihen der medizinischen Scholastiker ihre
Beobachtungen vom 13. Jahrhundert an niederzulegen beflissen
waren. Man hat in diesen Konsilien einen Wegzeiger des Fort-
schrittes im ausgehenden Mittelalter sehen wollen, ja sie als Teile
der Renaissance bezeichnet; sie stehen aber schon in den Mannes-
jahren der mittelalterlichen Medizin, als welche man die zwei bis
drei Jahrhunderte der medizinischen Scholastik bezeichnen kann,
vom Anfang an als Malsteine am Wege. Wir haben sie so gut
von Taddeo und Mondino und Bartolomeo Varignana, wie
auch von Gentile, Antonio Cermisone (t 1441), Ugone Bencio,
Bartol. montagnana (t 1470), Matteo Ferrario (t 1480) und
Baverio (t i486); in allen trifft man gelegentlich Beobachtungen
von Bedeutung.
Als Kommentatoren des AviCENNA, wie auch des Hippokrates
und Galenos, sind noch zu nennen GiACOMO della Torre aus
Forli (Jacobus Foroliviensis, f 141 3) und der gleichzeitige Ja-
QUES Despars aus dem Hennegau, Professor zu Paris. Das
gesamte Wissen der Scholastik zu Beginn des 15. Jahrhunderts
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua. 231
faßte in sieben gewaltigen Büchern medizinischer Sermone NiCOLÖ
Falcucci in Florenz (t 141 2) zusammen, namenthch aus den Lehren
der Araber, aber auch das neu hinzugebrachte „Scholastische" aus
dem Abendlande und die überlieferten Lehren aus dem Altertum,
auch aus allen Spezialgebieten der Heilkunde. Eine knappere, selb-
ständige und übersichtliche Darstellung der internen Praxis allein
schrieb um 1450 ^Iichele Savonarola, Professor in Padua und
Ferrara, bei der er sich den Kanon des AviCENNA zum Vorbilde
nahm.
Noch der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehören zwei wert-
volle Werke an, welche der Absicht entsprungen sind, in den zahl-
reichen Antidotarien und „Libri simplicium" Ordnung zu schaffen
und für Identifizierung der Arzneipflanzenmassen aus der Antike
und dem Orient eine Unterlage zu gewinnen: der „Clavis sana-
tionis" Simons von Genua (Januensis, i 1303), auch „Synonyma
medicinae" geheißen, und die „Pandectae medicinae" des Matthaeus
Sylvaticus (t 1342), der sein Werk in Salerno schrieb und dem
König Robert von Sizilien gewidmet hat. Namentlich das Buch
Simons ist von allergrößtem Werte, nicht nur als Wörterbuch aller
bei griechischen, arabischen und lateinischen Schriftstellern vorkom-
menden Arzneipflanzen, die er auf ausgedehnten Reisen festzustellen
gesucht hatte, sondern auch durch die genauen Angaben über die
von ihm zu Rate gezogenen Schriftsteller. Und so erfahren wir
denn durch ihn, daß man damals, also zu Ende des 13. Jahrhun-
derts, neben den Arabern nicht nur den Galenos, den Dioskurides
in zwei lateinischen Uebersetzungen, den „Passionarius", den Pli-
NUS, die Practica (PsEUDO-) Democriti, den Cassius Felix und
Theodor Priscianus benutzte und die „Genetia" des MusTio, son-
dern auch den Paulos von Aigina, die Synopsis des Oreibasios,
ja den für uns verlorenen „Ophthalmicus" des Demosthenes und
zum ersten Male wieder den A. Cornelius Celsus. Die Renais-
sance der Antike hatte also in beachtenswertem Umfange praktisch
schon begonnen, Jahrzehnte vor Petrarca.
Indem wir oben bei Gentile dei Gentili der Pest von 1348,
also des „schwarzen Todes" gedachten, haben wir mit dem Finger
auf eine Prüfungsstunde der mittelalterlichen Medizin, der medizi-
nischen Scholastik gewiesen, eine Prüfungszeit, in der sie zeigen
konnte, ob sie einen Fortschritt verkörpere oder nicht; man kann
sagen, sie hat diese Prüfung bestanden. In diesen schweren Epi-
demienzeiten, den Zügen der „Beulenpest" und „Lungenpest", von der
Mitte bis zum Ende des 1 4. Jahrhunderts, zeigte es sich, daß das Pendel
medizinischer Entwickelung in Seuchenverständnis und Seuchen-
232
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
bekämpf ung einen gewaltigen Ausschlag nach vorwärts aufwies.
Bei der Pest des Justinian im 6. Jahrhundert, die die greulichsten
Verheerungen machte, schweigt die ärztliche Literatur, und von Ab-
wehrmaßregeln der Behörden ist keine Rede. Bei der Epidemie
des schwarzen Todes werden schon zu Anfang vielfach scharfe Ab-
sperrungsmaßnahmen ergriffen, die sogar Teilerfolge brachten, und
sofort setzt eine große Literatur in allen Ländern Europas ein. Meh-
rere hundert Pesttraktate sind allein in den letzten anderthalb Jahr-
hunderten des Mittelalters zu verzeichnen. Ja, in wenigen Jahrzehnten
entwickelte sich in Italien und Südfrankreich ein Abwehrsystem mit
Hafensperren , Isolie-
rungsplätzen , Quaran-
tänen , Anzeigepflicht
und Absonderung der
Kranken und ihrer
Pfleger, Desinfektion der
Betten , Verbrennung
alles nicht Abseifbaren
aus der unmittelbaren
Umgebung des Kranken
oder Gestorbenen,
schließlich Desinfektion
der Waren, Geldstücke,
Briefe im geschäftlichen
Verkehr. Vollkommen
durchschaut waren die
Gefahren der Kontakt-
infektion überhaupt und
daraus die Sicherungs-
vorschriften erflossen, die
dem i8. und 19. Jahr-
hundert prinzipiell kaum
viel Neues zuzufügen übrig ließen. Und das alles in den letzten
Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts! Wie war diese große Wandlung
zuwege gekommen ? Sie geht in die Zeiten der verspotteten „Mönchs-
medizin"' zurück. Hier ist sogar direkt aus dem Boden der Priester-
medizin Zukunftsreichstes erwachsen.
Die wohl schon in den Zeiten des klassischen Altertums spora-
disch den atlantischen Küsten durch die Küstenschiffahrt in Spanien
und Frankreich und weiter nördlich ausgesäte Lepra (und weis man
sonst darunter verstand) hatte im 5. und 6. Jahrhundert im Süden
und Westen Frankreichs ins Land hinein steigende Bedeutung ge-
wonnen. Dem Episkopat stieß die Not der ihm anvertrauten Be-
Abb. 106. Aussätziger mit Hom {lior7igibniodcr) um
sich bemerklich zu machen, vor Christus. Deutsches
Handschriftbild um looo.
Scholastik in der ^Medizin. Paris, Bologna, Padua.
233
völkerung ans Herz, und man besann sich auf die Priesterpflichten
aus dem alten Bunde, die ja auch den Kirchenvätern des Ostens,
allen voran Basileios dem Großen die Wege gewiesen hatten zu
seinen klugen Absperrungshäusern für die Aussätzigen in Kaisareia
usw. Das Konzil von L3'on vom Jahre 583 gibt Vorschriften gegen
den freien Verkehr der Aussätzigen, die von weiteren Konzilien aus-
gebaut wurden. Das Edikt
des Langobardenkönigs Ro-
thari von 644 verlangt die
Isolierung der Leprösen. In
wenigen Jahrhunderten wurde
die Leprabekämpfung durch
Vermeidung jeder Form von
Kontakt und Ausatmungs-
übertragung aufs feinste aus-
gebaut bis zur Forderung- be-
sonderer Weihwasserbecken
und Sitzplätze für die Aus-
sätzigen in den Kirchen, so-
lange man ihnen nicht be-
sondere Kapellen zuwies. Be-
sonders streng gehandhabt
wurde die Vorschrift auch im
Nahrungsmittelhandel. Die
amtliche Schau für die Leprö-
sen und ihre Beurteilung durch
ärztliche Körperschaften war
im 14. Jahrhundert bis in die
feinsten Beurteilungsregle-
ments ausgebaut. In Frank-
reich und Deutschland gab es
gegen 10 000 Isolierungshäuser
für Lepröse ums Jahr 1400. Im zähen Kampfe hat man Fuß für
Fuß der schleichenden Krankheit den Boden abgewonnen und sie
schließlich zum Erlöschen gebracht. Aber schon hatte sich auch
der Blick mächtig geweitet; der Begriff der „morbi contagiosi", der
durch direkte Uebertragung ansteckenden Krankheiten, war den
Aerzten des 13. Jahrhunderts allmählich in Fleisch und Blut über-
gegangen, unabhängig von der neuen Belehrung aus dem Osten.
Erst 5. dann 8, dann 11, schließlich 13 ansteckende Krankheiten
wurden aufgezählt. Zu Lepra, Influenza, Augenblennorhoe und Tra-
chom, Skabies, Impetigo kam bald Anthrax. Diphtherie, Erysipel, ty-
phöse Fieber, Pest, sogar Lungenphthise usw. hinzu, die alle für an-
Abb. 107. Aussatzschau. Die Aerzte und
Bader (den Blutkucben auswaschend), 151;
234 ScHolastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
steckend, die davon Betroffenen als zu Meidende, Auszuschließende
erklärt wurden. Und als man die Syphilis von anderen chronischen
Hautaffektionen mit Allgemeinerkrankung zu scheiden sich ge-
wöhnte, eine vor allem auf dem Wege de juvantibus et nocentibus
gewonnene Erkenntnis, zog man die von der Lues Betroffenen in
den Kreis der Abzusondernden sofort mit hinein. — Seit der Mitte
des 14. Jahrhunderts, seit die Pest ihre neue große Reihe von Seu-
chenzügen begonnen hatte, zog man vor allem diese furchtbare
Menschheitsgeißel in den Bann der neuen Lehre von den Morbi con-
tagiosi und baute gegen sie das ganze Abwehrsystem, wie wir schon
angedeutet haben, zu fast lückenloser Vollkommenheit aus, indem
man auch Ratten und Kleinvieh und Stadtreinigung nicht vergaß.
Wie die Cholera weiland 1830 ff., so hat die Pest 1348 ff. die ge-
samte Stadthygiene in gemeinsamer Arbeit von Aerzten und Be-
hörden bis herab zur Kontrolle der Badestuben zur Ausbildung
gebracht.
Wie anders schon damals die Zeit geworden war, beweisen
zwei Worte, mit denen das von der scholastischsten aller medizini-
schen Fakultäten auf behördliches Verlangen erflossene Pestregle-
ment von 1348 anhebt. Dort heißt es nicht mehr „Sicut dicit Ga-
lienus" oder „Sicut ait Avicenna", sondern: „Visis ef f ectibus . .",
nachdem wir die Wirkungen der Pest gesehen haben ! Und wenige
Jahre später bricht ein Niederdeutscher in die Worte aus: wir euro-
päischen Aerzte des 14. Jahrhunderts wissen jetzt schon mehr von
der Pest als alle Aerzte des Altertums und des Islam,
Die Pestliteratur der zweiten Hälfte des 14. und des ganzen
15. Jahrhunderts knüpft aber an eine andere Literaturgruppe an,
auf die wir oben schön hingewiesen haben, an die der Gesundheits-
regimente, deren erstes im Abendlande der Pseudo-ARlSTOTELESbrief
an Alexander in der tlebersetzung des Johann VON Toledo ca.
1130 gewesen ist, dem sich unzählige weitere anschlössen, nach
dessen Vorbild es auch dem großen Taddeo Alderotti nicht zu
gering schien, ein Regimen sanitatis in der Volkssprache zu schrei-
ben. Damit war erst recht der Damm gebrochen, und der ärztlichen
Lebensregeln Zahl schwoll immer mehr an, von deren Verfassern
nur ein paar besonders namhafte genannt seien : Arnald von Vil-
LANOYA, Aldebrandino von Siena, Giacomo Albini di Mon-
CALiERi, Vitale da Furno, Jacobini de Conflentia usw. Hinzu-
kommen bald Gesundheitsregimina für besondere Fälle, z. B. für
Schwangerschaft, für Land- und Seereisen (besonders die Fahrt ins
Heilige Land), für die Rekonvaleszenz nach Fiebern, für besondere
Krankheitsdispositionen, wie Rheuma, Gicht, Schlag, Blasensteine,
die man zu haben oder befürchten zu müssen g-laubte. Und
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
^00
wenn gar eine Krankheit dem ganzen Volke, der eigenen Stadt
drohte, wandten sich die Landes- und Stadtbehörden, Fürsten und
Fürstinnen an Leibärzte oder Doktoren-Kollegien mit dem Auftrag,
allgemeine Schutz- undVer-
haltungsmaßregeln zu ver-
fassen, die dann wohl be-
hördlich approbiert wurden.
All dies ist in den Tagen
ärztlicher Scholastik groß
geworden und hat ins i6.
und 17. Jahrhundert munter
hineingedauert, wie die mit
dem Schlag Worte „Re-
naissance" keineswegs ab-
getane Scholastik selber.
Wie sich diese um die
Wende des 14. Jahrhunderts
in der täglichen Praxis und
am Krankenbette gebär-
dete, dafür gibt uns eben
wieder aus dem aller schola-
stischsten Paris ein Auf-
zeichnungsbuch Kunde, das ein junger Deutscher in eben diesem
Paris sich angelegt hat, dessen Namen wir leider nicht kennen. Im
„Consortium in practica" der beiden Mitglieder der Pariser medi-
Abb. 108. Handschriftbild einer anatomischen Lehr-
zergiiederung (um 1400). An der Leiche der Dissek-
tor und der Demonstrator auf dem Katheder (fast
ganz zerstört) der Lektor.
Q||OT(T\OT|TDiai
t)et.Q00lS-«T-
Abb. 109. Sarkophagrelief: der lehrende Mondino.
!36
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
zinischen Fakultät, der Ordinarien GuiLLAUME Boucher (Carnificis)
und Pierre d'Auxonne (Danszon), hat sich ein Magister „de
Abb. HO. Typische Lehranatomie in Bologna. Holzschnitt von 1535 (Carpi,
Isagoge breves).
Almania" fortlaufend Notizen gemacht über die Diagnostik und
Therapie zahlreicher Fälle, welche in deren Sprechstunden oder bei
Besuchen tagsüber und
nachts zu seiner Beobach-
tung gekommen waren.
Eine Wolfenbütteler
Handschrift hat dieses
Tagebuch aus der poli-
klinischen Praxis uns auf-
bewahrt, welches uns die
gelehrten Herren jener
Tage als Aerzte von
Kenntnis, Umsicht und
Erfahrung recht vorteil-
haft kennen lehrt.
Ein besonderes Ver-
dienst der scholastischen
Unterweisung Bolognas
im ausgehenden 13. und
beginnenden 1 4. Jahr-
hundert stellt schließlich
Abb. III, Anatomisches Theater in Archiginnasio noch der anatomische Un-
zu Bologna. terricht dar, wie ihn die
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua. 237
Leichensektionen unter MONDIXO und seinen Xachfolgern uns vor-
führen. Blieb es für Salerno sogar unter Friedrich II. zweifelhaft, ob
menschliche Leichname dort wirklich zur Zergliederung kamen, so ist
dies für Bologna völlig gewiß. MoNDixo DEI Luzzi hat mindestens
seit 1306 an der Leiche anatomische Demonstrationen gehalten. Von
GuLiELMO DA Varignana ist eine anatomische Leichenschau schon
von 1302 überliefert. Eindruckvoll steht in der anatomischen Literatur
MoXDixos Lehrvortrag von 1316, der als Büchlein, frisch von der
Leiche weg, einen gewaltigen Eindruck machte, trotzdem er nur
die Galenische Anatomie in arabischer Ueberlieferung in knapper,
doch lebendiger Darstellungsweise bietet, also nur die L'eberlieferung
fixiert und an der Leiche verifiziert. Auf ein ^lehr w^ar es noch
für ein Jahrhundert und länger nicht abgesehen als auf diese demon-
strative Festlegung des überkommenen Wissensstandes am Kadaver,
auf eine demonstratio ad oculos, wie sie für das Mittelalter nicht
eindrucksvoller gedacht werden konnte. Auf dem Katheder dozierte
der Professor (später eine erklärende „Lectio" des Buches des Mux-
Dixus), unten in der Mitte der Korona (später des anatomischen
Theaters in am phi theatralischer Form) der Dissektor und zwischen
beiden (und den Zuschauern) vermittelnd der Demonstrator mit seinem
Stäbchen (x\bb. 1 10). Für Bologna war damals die Zahl der Teilnehmer
auf 20 bei einer „anatomia" einer männlichen, auf 30 bei einer
weiblichen Leiche fixiert. Mehr hätten auch wohl beim Zuschauen
keinen Vorteil gehabt. Eine solche Sektion (anatomia) dauerte
damals vier Tage. Am ersten Tage wurde der Bauch (Bauchmus-
keln) und sein Inhalt, die Eingeweide, vorgenommen, am zweiten
Tage die Brust und ihr Inhalt (die membra spiritualia), am dritten
Tage der Kopf und der Schädelinhalt (membra animata), am vierten
Tage Extremitäten mit ihren Muskeln, Adern und Knochen und
die Wirbelsäule. Zum ersten Male wurden nun wieder wirklich wie
ein bis anderthalb Jahrtausend vorher in Alexandrien Leichen
untersucht. Strenge Anatomie wurde damals und auch später
freilich nicht vorgetragen, sie war vermischt mit Physiologie und
praktischer Medizin ; Unterleibserkrankungen samt Bauchwassersucht
und Bauchstich wurden eingeschaltet, Nierenkrankheiten, Nieren-
und Blasensteine usw. Häusliche Demonstrationen und eigene Sezier-
übungen, mit Leichenraub zu ihrer Ermöglichung, waren in Bologna
früh an der Tages- bezw. Nachtordnung.
Als Weiterführer des Werkes des MONDINO (f 1327) in Bologna
sind zu nennen sein Schüler Bertuccio, der Lehrer des Guy de
Chauliac, der schon genannte Tommaso DI Garbo, Giovanni
DA CONCOREGGIO, die schon weitere Fortschritte in eigenen Ent-
deckungen bringenden, Gabriele Zerbi (ca. 1470 — 1505), Ales-
238 Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
SANDRO Achillini (1463— 15 12), Jacopo Bp^rengario da Carpi
(1470— 1550), die größtenteils ihre Lehrbücher nur als erweiterten
Mondino gaben, namentlich auch der letzte (Berengar), der einen
sehr umfangreichen Kommentar zum Mundinus schrieb und als
Chirurg, wie man schon aus seiner Anatomie sieht, mit Recht einen
Namen hatte.
In Padua ist die früheste Sektion einer menschlichen Leiche im
Jahre 1341 nachweisbar, an der Gentile dei Gentili teilnahm.
Im 15. Jahrhunderts fanden in Bologna die Leichensektionen regel-
mäßig zweimal im Jahre statt, in Padua strebt man zu Ende des
15. Jahrhundert das gleiche Ziel zu erreichen. Damals wirkte dort
der schon stark humanistitsch angehauchte Alessandro Benedetti
da Legnano (f 1525), dessen „Anatomice" 1503 abgeschlossen wurde.
Er entdeckte schon die Ausführungsgänge der Bartholinschen Drüsen
am introitus vaginae. In Florenz wirkte besonders Benedettis
Lehrer Antonio Benivieni (f 1,502), der zahlreiche Sektionen machte,
ein hervorrag-ender Humanist. In Siena ist 1427 die erste „Ana-
tomie" nachweisbar, in Ferrara zu Ende des 15. Jahrhunderts, in Pavia
schon Jahrzehnte vorher ; dort beschreibt der schon genannte GlAM-
MATTEO Ferrari da Grado (1432 — 1472) Eierstöcke und Tuben;
Marcantonio della Torre weckte große Hoffnungen, starb aber
kaum 33-jährig 1506; doch wollte auch er noch „ex placitis Galeni"
schreiben. In Pisa fand 1507 die erste Anatomie statt.
In Montpellier hat der in Bologna gebildete Henri d' Her-
mondeville, damals schon (seit 1303) Wundarzt der königlichen Fa-
milie zu Paris, anatomische und chirurgische Vorlesungen gehalten
(1304, s. o.), die um des willen besonders bemerkenswert sind, weil
er sie zwar nicht am Kadaver vorzutragen vermochte, aber, . wie er
selbst berichtet, mit 13 selbstentworfenen anatomischen Zeichnungen
und einem Schädel zu illustrieren unternommen hatte, deren einige
wir auf S. 23g Abb. 112 a — f dem Leser vorführen. Um sie völlig-
würdigen zu können — es handelt sich freilich nur um zierliche
Miniaturen, die das Detail der Vorlesungstafeln, die ihnen zugrunde
lagen, sicher nicht erschöpfen — führen wir im Ueberblick ein paar
Stichproben der gesamten vorhenricianischen Ueberlieferung in der
anatomischen Graphik des Mittelalters vor (S. 240 ff. Abb. 113 — 117).
Sie beruht zweifellos auf Lehrzeichnungen aus Alexandreia, von denen
uns eine Fünfbilderserie sowohl in abendländischer als in morgen-
ländischer Ueberlieferung in einer stattlichen Zahl von Einzelsericn er-
halten ist, die ich zu publizieren in der Lage war. Die beiden ältesten
stammen aus der bayerischen Donauebene (1158, Abb. 113a — e),
eine etwas abweichende Ueberlieferungsform, die schon näher auf
Scholastik in der [Medizin. Paris, Bologne, Badua. 239
Abb. 112. Sechs anatomische Miniaturen
aus einer französischen Chirurgie Henris
d'Hermoxdeville.
240
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
(tiwivmrur ff trei
mtruf «V
« pmfdulG fj'#iuüil^ f^iumro i-«coppenurfr«of
fuyttipuir.ft mut.n Cß^'5^ (^^ CöUii^anr ibi intUio
tiTiuf et ad'i-ciidn- VL^yf III Jmmjire parte cjpn i*
f
Abb. 113a— e. Fünf anatomische Hockbilder (Arterien, Venen, Knochen, Nerven, Muskeln)
aus Kloster Prüfening, 1158; f Skelett von 1323 (Dresden).
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
241
.»^^^^
Abb. 114. Füaf Hockbilder
einer provencalischen Anatomie
des 13. Jahrhunderts in Basel
{Venen , Arterien , Knochen,
männliche und weibliche Geni-
talien).
Henris Bilderzuführt, ist
um 1 250 in der Provence
gezeichnet (Abb. 1 1 4),
Sie streckt die anato-
mischen Ganzfiguren et-
was, während die äl-
teste Ueberlieferung im
Mejrer'Steineg u. Sadhoff, lllustr. Geachicbte der Medizin.
242
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
Abendlande tiefe Hockbilder zeigt, wie sie sich auch auf allen bis
heute bekannt gewordenen persischen Bildserien finden (Abb. 115),
bei denen zu den fünf auch im Abendlande erhaltenen Bildern
(Arteriensystem, Venensystem, Knochensystem, Muskel- und Nerven-
system) noch ein sechstes Bild, da^ einer Schwangeren, hinzugefügt ist.
Abb. 115. Sechs persisehe anatomische Hockbilder (Venen, Arterien, Knochen, Nerven,
Muskeln, Schwangere).
Neben diesen anatomischen Ganzbildern, wie sie die anatomische
Graphik bis in das 1 7. Jahrhundert beherrschen, haben sich, wenn
auch seltener, graphische Darstellungen von Einzelorganen erhalten,
deren wichtigste in Pisa und Oxford anzutreffen sind. Graphisch
geht dies bis in die Inkunabelholzschnitte im Peyligk herunter und
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
243
^
Abb. iiba— c. Drei anatomische
Ganzfiguren aus Guido de Vigevano
('345)- d Uterus aus dem Brüsseler
Mustio (um 900). e Sieben Uterus-
zellen nach Magnus Hundt, f— h
Organbilder einer Handschrift in
Oxford von 1290.
244
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
im Anthropologium des MAGNUS Hundt (Abb. 1 1 6 e, 1501) ; auch einige
Mondevillehandschriften haben (zu Unrecht) solche Organzeichnungen.
ft-r^"?"-
lJ)~?^CfAnr -.liw.v. Anna- fr»«- -itiSsÄ-'W'flC
-lAt-nfC ^m^<>.«nV'.^AU;ft^.^> ■'*'<*•'' »»'-t»'»n^'*-
^^L
Abb. 117. Organbilder einer Handschrift in Pisa ca. 1220,
Was sich im „Fascicujus" medicinae" angeblich eines „JOHANNES DE
Ketham" (Kirchhain?) von 1491 an Ganzbildcrn findet, gehört nur
mit der Gravida in diese anatomische Bilderreihe, die auch im Abend-
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
245
Abb. 118. Vier Hockbilder einer Schwangeren a — c aus Handschriften in Leipzig,
Kopenhagen und München, d aus dem gedruckten Fasciculus medicinae von 1493.
246
Scholastik in der Medizin. Paris, Bologna, Padua.
lande an Einzelbildern der Schwangeren nicht arm ist (Abb. 118).
Was sonst an Ganzbildern im „Ketham" sich findet — Aderlaßmann,
Wundenmann, Krankheitsmann, Tierkreiszeichenmann — sind selb-
ständige graphische Lehrschemata, die auch in Handschriften häufig von
mir gefunden wurden und ebenfalls in recht alte Zeit zurückgehen.
Der „Ketham" von 1493 bringt ein neues Bild der Gravida, welches aus
Bologna stammt und deswegen eine große Bedeutung besitzt, weil es
zum ersten Male seit Alexandrien
wieder ein wirklich nach der
Leiche gezeichnetes mensch-
liches Organ vorführt, einen
schwangeren Uterus im vierten
Monat, den der Künstler beim
Blick in die Bauchhöhle einer
weiblichen Leiche aufgefaßt und
wiedergegeben hat. Eigener
Kenntnis von der Leiche her ver-
danken die Bauchmuskelzeich-
nungen kaum ihre Entstehung,
welche der „Conciliator" des
PlETRO d'Abano seit 1496 in
mehreren Venetianer - Drucken
enthält; sie sind vom Künstler
nicht direkt nach der Natur,
sondern nach mündlichen An-
gaben des Anatomen schematisch
wiedergegeben.
Künstlerzeichnungen nach
Angaben der Anatomen unter
Benutzung der Bilder zur Anatomie des Henri d' Hermondeville
sind schließlich auch die 16 anatomischen Bilder zur Anatomie des
Guido de Vigevano, medecin de la reine Jeanne de Bourgogne
(i345> S. 243 Abb. ii6a — c), zugleich aber ein Beweis der fortge-
schrittenen französischen wissenschaftlichen Graphik , auch wo sie
nicht direkt an die Natur sich anlehnen kann.
Abb. 119. Bauchmuskelzeiclinung in einem
Venetianer-Drucke von 1496 des „Conciliator"
Petri Aponensis.
Renaissance und Humanismus.
Auch das scholastische Mittelalter hatte allezeit den allergrößten
Respekt vor dem klassischen Altertum. Sah man doch in dem über
Toledo eingeführten arabischen Schriftwerk in allererster Linie die
wiedergeschenkte Antike, vornehmlich den Aristoteles, von dem
man vorher nur einen kleinen Teil sein eigen hatte nennen können, für
den der AuGUSTiNische Piatonismus, der Timaios des Chalcidius,
der Macrobius und BOETHIUS auf die Dauer nur bescheidenen
Ersatz boten. Auch die Platoniker freilich zog es zur arabischen
Naturwissenschaft, schon um deren mathematischen Gehaltes willen ;
für die Aerzte war es aber vor allem das Biologische bei ARISTOTELES
und der Galenismus bei IBX SiNÄ, was sie lockte.
Doch selbst die Fortgeschrittensten unter den naturwissenschaft-
lichen Vertretern der Scholastik, wie beispielsweise Roger Bacox,
hielten sich an das Altertum und die Araber und klagten wohl
darüber, daß man vom wirklichen Altertum leider nur eine un-
genügende Kenntnis habe, vor allem auch weil man die griechische
Sprache nicht beherrsche.
Da trat denn für die Mediziner das zwei-, ja dreisprachige Süd-
italien wieder in die Bresche. Von frühen sizilianischen Ueber-
setzungen aus dem Griechischen, z. B. des Henricus Aristippus
in Catania im 12. Jahrhundert, war andeutungsweise schon oben die
Rede. Daneben hatte BuRGUNDiO aus Pisa (11 10—1194) die physio-
logische Schrift des Nemesius, die Aphorismen des HiPPOKRATES,
von Galenos diätetische, Puls- und therapeutische Schriften über-
setzt mit Hilfe (auf diplomatischem und Handelswege erworbener)
griechischer Sprachkenntnisse. Auch der Pistojese AccORSO aus
dem Anfange des i 3. Jahrhunderts is*- als Galenübersetzer zu nennen.
Im weiteren 13. Jahrhundert kam ja allerdings eine Welle von Ueber-
setzungen nach griechischer Vorlage aus dem Norden, die schließ-
lich auch Medizinisches mitheranspülte. ROBERT Grosseteste,
Bischof von Lincoln, kommt für die Medizin zwar nicht in Betracht,
wohl aber der flamländische Dominikaner Wilhelm von Moerbeke
(12 15 — 1286), seit 1277 Erzbischof von Korinth. Er übersetzte 1260
zu Theben die Aristotelische Schrift über die Teile der Tiere, 1277
zu Viterbo die Schrift des Galenos über die Kräfte der Nährstoffe,
248 * Renaissance und Humanismus.
zu Korinth das pseudo-hippokratische „De prognosticationibus aegri-
tudinum secundum motum lunae". Man war also schon in den Tagen
des ersten Aufschwunges medizinischer Scholastik z. B. in Bologna
daran gewesen, griechisches ärztliches Schriftwerk direkt nach dem
Original zu übersetzen, und wenn Roger Bacon solche Ueber-
setzungen völlig verwirft, so ist dies zum Teil auf den Gegensatz
der Franziskaner zu dem Dominikanerorden zu setzen; die moderne
klassische Philologie fällt ein besseres Urteil.
Es hatte aber an Bearbeitungen nach dem Griechischen auch vor
dem Beginn des 1 4. Jahrhunderts, wie man sieht, nicht völlig gefehlt,
selbst wenn man es für ganz unbestreitbar erklärt, daß von den
Konstantinischen Uebersetzungen griechischer Autoren alle nach dem
Arabischen hergestellt sind. An Kommentaren griechischer Aerzte-
bücher hat es in den Tagen der Scholastik gleichfalls niemals ge-
mangelt, wie das schon der Unterrichtsbetrieb der Hochschule mit
sich brachte, der „Lektionen" über Hippokrates und Galenos
vorschrieb, was wir schon betont haben, die aber bei Ugo Bencio
und Jacques Despars um die Mitte des 15. Jahrhunderts nicht anders
zu bewerten sind als schon im 13. Jahrhundert.
Und doch bedeutet es etwas, wenn man zu Anfang des 1 4. Jahr-
hunderts erneut an Byzanz anknüpft in den Massenübersetzungen
nach von dort verschriebenen griechischen Handschriften durch
NicOLO DI Deoprepio (t ca. 1350) aus Reggio in Kalabrien, in den
Jahren 1308 — 1343 im Auftrage des Königshauses der Anjou in
Neapel, Wurden damals durch ihn doch von Hippokrates wort-
getreu, ja zu wortgetreu, neu übersetzt die Aphorismen, die Pro-
gnostik, das Gesetz und die Lebensregel in akuten Krankheiten, von
Galenos Aphorismenkommentar, Therapeutik an Glaukon, Nutzen
der Teile, Geschwülste, verdünnende Diät, Gesunderhaltung, Wir-
kungen der Arzneistoffe, Causae continentes, Subfiguratio empirica,
Partes artis medicativae und anderes, schließlich auch das byzan-
tinische Arzneimittelbuch des NiKOLAOS. Auch zu Guy de Chauliac
nach Montpellier gelangten nachweislich einige dieser neuen Ueber-
setzungen, vielleicht durch Vermittelung des ihm befreundeten Herolds
der neu erwachenden Antike, Francesco Petrarca (1304 — 1374).
Mit Nicolös da Reggio Tode setzt Petrarcas heftige Be-
fehdung der zeitgenössischen Aerzteschaft ein; 1352 sind seine„In-
vectivae in medicum quendam" geschrieben, eine der heftigsten
Streitschriften gegen die Aerzte, die je erschienen sind, zweifellos
in vielem damals berechtigt, wenn auch der persönliche Haß des
Verfassers allzu stark darin zu spüren ist und die Wirkung beein-
trächtigt. Petrarca bekämpfte den Arabismus auf der ganzen
Renaissance und Humanismus. 249
Linie mit Todfeindschaft, nicht nur in der Medizin, wo er selbst den
HiPPOKRATES nicht völHg gelten lassen will und den Galexos als
Prahler kennzeichnet, überhaupt die griechischen Aerzte für die da-
malige Körperkonstitution nicht recht geeignet hält.
Wenn er die Aufgeblasenheit der Aerzte geißelt, fühlt man sich
versucht, seine eigene eitele, ewig mit sich selbst beschäftigte Art
daneben zu halten, was wiederum die Wirkung abschwächt. Mit
vollem Rechte verspottet er die medizinische Astrologie und die
Harnschau jener Tage, den ewigen Wortstreit auf Kosten der
Krankenbehandlung und die dürftigen Heilkünstchen bei so großen
Versprechungen. Uebers Ziel hinaus schießt er bei der Verhöhnung
der strengen Diätvorschriften mit ihren Unbequemlichkeiten und
Beschränkungen für den Kranken, wenn es auch mehr gewesen sein
mag als pure Medisance, daß die Aerzte von Enthaltsamkeit in
Speise und Trank nur für die Kranken wüßten und selber schlemmten
und praßten. Ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sei weder in
Lehren noch im Handeln berechtigt, was der Wahrheit nahekam.
Großer Erfolg war der herben Kritik nicht beschieden, wie gut
auch viele der Hiebe saßen. Mit der Geißel des Spottes und Hasses
war die Herrschaft des Arabismus nicht zu stürzen. Nur ganz all-
mählich rang sich in der Aerztewelt die Erkenntnis von seiner Un-
zulänglichkeit durch und von der Hohlheit seiner Doktrinen und
haarspalterischen Unterscheidungen, während an den Hochschulen
selbst das Spiel der Antithesen und Syllogismen vielfach noch zu-
nahm.
In manchen Gegenden Italiens, z. B. in Toskana, scheint man
sich sogar schon von Anfang an mit Zähigkeit und auf die Dauer
mit Erfolg den Auswüchsen der Arabistik auch in der Praxis ferner
gehalten und sich z. B. zu den spanischen und jüdischen Aerzten,
die allenthalben die Träger der Arabistik waren, in einen gewissen
Gegensatz gestellt zu haben. In Toskana, namentlich in Florenz,
haben denn auch Renaissance und Humanismus am schnellsten
Boden gewonnen im Gegensatz zu Bologna und Padua, als ihre
Zeit gekommen war.
Ob die direkten Uebersetzungen aus dem Griechischen diesen
Prozeß stark beschleunigten, steht dahin. Gerade die des NicOLo
waren in der Form zu wenig ansprechend, um nicht mehr zu sagen.
Von größerer Wirkung war die allmählich sich verbreitende Kenntnis
der Griechensprache selbst, in der auch die Aerzte nicht ganz zurück-
blieben. Auch als die italienischen Gelehrten sich selbst nach dem
Osten auf die Reise machten, ehe das Türkentum auch die letzten
Bollwerke brach, Konstantinopel einnahm und alles überflutete {1403),
da waren auch Aerzte unter den Erfolgreichsten. AurispX, der
250 • Renaissance und Humanismus.
1423 mit einer großen Bibliothek von Kodizes von seinem östlichen
Fischzug heimkehrte, hatte als Giovanni Noto Siciliano vorher in
Bologna medizinisch lehrend und schriftstellernd gewirkt, wie eine
Pestschrift seines Namens vom Jahre 1398 heute noch dartut. Hand-
schriften griechischer Aerzte kamen damals gleichfalls in erheblicher
Anzahl aus dem Osten ; die kostbare illustrierte chirurgische Niketas-
Handschrift hat Janos Laskaris sogar noch 1495 auf Kreta er-
werben können und nach Florenz gebracht.
„Renaissancen" hat es in der menschlichen Kulturgeschichte
viele gegeben, auch in der Medizin. Was Galenos erstrebte, war
zum großen Teile eine Renaissance des Hippokratismus, was der
Islam im 9. — 12. Jahrhundert schuf, vor allem des Galenismus. Was
man im Abendlande karolingische Renaissance heute nennt, ist dem-
gegenüber etwas sehr Bescheidenes, nicht nur in der Medizin. Und
das Unternehmen der Schule von Salerno ist kaum klar als Renais-
sance der klassischen Medizin gedacht gewesen, wie man es wohl
hinzustellen beliebte.
Aber die „Renaissance der Heilkunde im 15. Jahrhundert", die
Renaissance kat'exochen ? — Eine Renaissance der Kunst, der Literatur,
des Stils usw. des Altertums war möglich, aber der antiken Heil-
kunde? War sie wirklich erwünscht oder Bedürfnis, etwa im Sinne
eines Neugalenismus?
Ist die Wiedergeburt einer alten Wissenschaft, wie die Medizin,
nach einem bis zwei Jahrtausenden durch Wiedergewinnung ihrer Texte
überhaupt erreichbar? Mag sein; aber es kommt darauf an, was in
dem sie wiedergewinnenden Lande unterdessen geschehen ist. Und
da ist die Sachlage für Italien und das gesamte Abendland im
15. Jahrhundert doch eine ganz besondere. Eine nicht unerhebliche
Eigenarbeit langer Zeiträume liegt vor, die sich auf eine umfassende
Verarbeitung der zu erneuernden Wissenschaft und Kunst in völlig
anderem Kulturzusammenhange stützt, dem eine Kenntnis der Lite-
ratur der zu erneuernden Wissenschaft beschieden gewesen war
in einem Umfange, den das 15. Jahrhundert niemals sich zu ver-
schaffen hoffen konnte!
Gewiß hatte das 13. und 14. Jahrhundert die große alte Griechen-
medizin durch die Brille des Arabismus angeschaut, aber eben diese
Araber hatten dafür diese Griechenmedizin doch noch in einer ganz
anderen Vollständigkeit besessen, als sie auch die glücklichsten
Handschriftenbefunde je wieder herbeizubringen vermochten. Und
wenn es der scholastischen Philosophie des 13. Jahrhunderts gelingen
konnte, durch alle Hüllen wiederholter Uebersetzungen und Kom-
Renaissance und Humanismus. 251
mentare, selbst durch den Averroismus hindurch den rechten Ari-
stoteles wiederzugewinnen, war ein gleiches in der Medizin für
HiPPOKRATES, Galexos und etwa den Paulos unmöglich? wo es
doch im wesentlichen auf das Tatsächliche hinauskam und die Form
doch erst in zweiter Linie stand?
Gehen wir doch heute in zahlreichen Fällen wieder den gleichen
Weg wie Gerhard, der Lombarde um 1170 und halten uns für
Galexos an die arabischen Schriften, wo, wie bei den 7 Schluß-
büchern der anatomischen Encheiresen, jede Hoffnung auf Wieder-
entdeckung des griechischen L'rtextes geschwunden ist.
Allzuviel war ja im 15. und 16. Jahrhundert für Praxis und
Lehre der Medizin wohl nicht zu gewinnen, wenn man bestimmte
Traktate des Galexos nun griechisch lesen konnte, die man bisher
nur in der L'ebersetzung über die Araber gekannt hatte! War denn
der Geist der Griechen gar so fest an die Form gebunden, auch in
der Heilwissenschaft? Eine Besserung der Form, des Stils tat der
scholastischen Medizin gewiß bitter not, ja eine völlige Umkehr ^).
War dazu aber etwa Galenos in seiner unerträglichen Weit-
schweifigkeit eine so große Verbesserung gegenüber dem wortreichen
IBX SiXA? Da war jedenfalls in dieser Hinsicht die Wiedergewinnung
des Corpus Hippocraticum und anderer Griechenärzte wichtiger, wie
des Aretaios, des Ruphos, Alexaxdros und besonders des Paulos.
Am wichtigsten ward hier vielleicht die Heranholung des vergessenen
A. CoRX. Celsus aus dem Norden; denn die Zahl der Aerzte, die
des Griechischen genügend kundig wurden, um die neuen Hand-
schriftenfunde voll zu genießen und Nutzen davon zu haben, blieb
gering; die Mehrzahl war nach wie vor auf Uebersetzungen an-
gewiesen.
In Ausgaben und Uebersetzungen aller taten sich besonders
auch humanistisch gebildete deutsche Aerzte hervor, die an den
großen italienischen Gesamtausgaben fleißig mitarbeiteten : philologische
Mediziner im besten Sinne des Wortes, diesseits und jenseits der
Alpen. Aber auch ihr Wirken konnte für eine wirkliche Re-
formation der Heilkunde nur ein bescheidenes bleiben, welche auf
eine wirkliche Wiedergeburt der antiken Medizin, des medizinischen
Geistes in den Blütetagen von Alexandrien schließlich doch hinaus-
kommen mußte. Dabei darf man auch die Gefahr nicht übersehen,
welche in einer durchgehenden Erneuerung im Sinne der Griechen-
1) Wenn Barbarei des Stils mit Recht im fehlenden Zusammen-
klang von Form und Inhalt, im Zusammenraffen von Phrasen, die nicht
hinpassen, in Mangel an Sprach- und Stilgefühl gefunden wird, haben gerade
die Humanisten nicht selten noch barbarischer geschrieben und geredet
als die mittelalterliche Scholastik.
252 Renaissance und Humanismus.
medizin liegen konnte für alles, was das abendländische Mittelalter
an Eigenem verarbeitet hatte, das dem unverdienten Geschick aus-
gesetzt sein konnte, einfach nicht mehr zu gelten.
Was half es, daß man neue Autoritäten zu erwerben sich
bestrebte statt der alten, ja daß man sie wirklich erwarb? Kann
damit einer Erfahrungswissenschaft gedient sein? Jede Scholastik
kommt dazu, und auch , die medizmische Scholastik war dazu ge-
kommen, daß ihr die Begriffe des eigenen Systems wichtiger werden
als die Dinge selbst. Not war ihr hinauszutreten aus dem Zauber-
banne des Systems auf die grüne Weide der Tatsachen. Zerrissen
werden mußte das Band, gesprengt werden der Ring, der die
„Autoritas" an die „Ratio" schmiedete; nicht neue Autoritäten und
spitzfindigere Erwägungen mußte die Losung sein, sondern Er-
fahrung und scharfsinnige Prüfung des Beobachteten — experientia,
experimenta ac ratio! — Hohenheim hat es 1525 einmal ganz
präzise gegen die philologische Medizin seiner Tage ausgesprochen,
es dürfe nicht mehr der Leitgedanke sein : „Perscrutamini scripturas",
sondern der müsse lauten: „Perscrutamini naturas rerum"! —
Ehe wir aber zum Sachlichen der medizinischen Weiterentwicke-
lung übergehen, noch einige Worte über einige äußere Umstände,
die für diese Entwickelung von Bedeutung wurden.
Wie im Ausgang des 4. und namentlich zu Beginn des 5. Jahr-
hunderts der Hintritt des bequem zu handhabenden Kodex an die
Stelle der Buchrolle auf die gesamte Literatur eine bedeutende Wir-
kung übte, hat auf die Entwickelung auch der Medizin die neue,
aus Deutschland gekommene Vervielfältigungsform der Texte durch
den Buchdruck mit beweglichen Lettern, der gleich Hunderte von
billigen Einzeltexten auf einmal lieferte, einschneidende Bedeutung
gewonnen. Mit der leichten Beschaffungsmöglichkeit ging die Lite-
ratur mächtig in die Breite. Doch auch davon abgesehen, ist die
medizinische Literatur der Frühdrucke bis in die ersten Jahrzehnte
des 1 6. Jahrhunderts von Wichtigkeit. Sie gibt uns in ganz anderer
Weise, trotzdem enge Angleichung an die Handschriften in jeder
Aeußeriichkeit erstes, langdauerndes Bestreben war, die Möglichkeit
einer genauen Kontrolle, eines vollen Ueberblickes über ihre Art
und Verbreitung als in den Tagen der ausschließlichen Textverviel-
fältigung durch Handschriftenkopieren, das, nebenbei bemerkt, durch-
aus nicht mit dem Auftreten des Buchdruckes ein Ende hatte.
Zunächst tritt populäres Schrifttum neben dem wissenschaftlichen
stark hervor. Gleich das erste Druckwerk medizinischen Inhalts ist,
wenn auch für Aerzte bestimmt, doch halb populärer Art, ein Ader-
Renaissance und Humanismus. 253
laß- und Laxierkalender für die Monate des Jahres auf 1457, zu
Mainz Ende 1456 mit den Typen der 36-zeiligen Bibel hergestellt,
eines der allerältesten Druckwerke überhaupt. Es gibt die Wochen-
Cöiüi'tiofs 1 Offofirofs folis ft lunr ac mFuroK ftfrtff nr c nö öire ji itifDins
laranuisf ummDislln anno Dfii fUtrcc Inii irui^* h Iw DniwliB aiiiaure^nüe
InrmiallüijrrtjtDmittßonrurmitfBunaDies-:* •:• •:♦ ♦:-
x^oftciorda [cöa p" fttiaröi tjora \x p^ mfribif }ft«nrio in öic töunfionis
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Abb. 120. Aderlaß- und Laxierkalender, Mainz 1456, verkleinert.
tage für den Aderlaß (Minutio, z. B. 2. und 3. Januar) und Abführen
üaxatio sumenda, z. B. 9., 10., 11., 18., 20., 28. und 29. Januar) in
lateinischer Sprache wieder. Das Blatt in Schwarz- und Rotdruck
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Abb. 121. Jenner und Hornung. Ausschnitt axis einem Aderlaßkalendcr für 1469.
hatte zahllose Nachfolger in deutscher und lateinischer Sprache,
deren sich über zweihundert, meist in ^Deutschland gedruckt, vor
1501 erhalten haben, die uns zeigen, eine wie große Rolle diese
I.aßtafelkunst (denn das ist die Hauptsache) im Leben der Aerzte
254
Renaissance und Humanismus.
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Abb. 122. Eine Aderlaßtafel, d. h. Kalender für die Tagewahl des Aderlasses, ca. 1485.
Renaissance und Humanismus. 255
und des Volkes spielte, trotzdem auch der Spott darüber bald sich
einstellte. Wie eingehend die Laßstellen angegeben werden und
wie selbstverständlich, dafür möge der Januar eines deutschen
Mainzer Aderlaßkalenders aufs Jahr 1469 (Abb. 121) als sprechendes
Beispiel dienen.
Die gepriesene Renaissance nahm diesen medizinischen Unfug
der Laßzettel noch weit ins 16. Jahrhundert mit; erst HOHEXHEIM
hat aufs schärfste gegen diese „Irrung der Laßzettelarzet" Stellung
genommen, 1527.
Die ersten datierten wissenschaftlichen medizinischen Werke nach
der Naturgeschichte des Plixius (1469) waren ein Antidotarium des
,.Mesue", ein „Conciliator" des PlETRO dAbaxo und das „Anti-
dotarium Nicolai" aus Salern, alle drei 1471 in Venedig erschienen,
zu Pavia in gleichem Jahre die Practica (an den Liber Mansuricus
des Razes sich anlehnend) des dort noch lebenden Matteo Ferrari
DA Gradi, der das Buch schon einmal vorher ohne Jahrzahl hatte
erscheinen lassen und offenbar selbst in Druck gegeben hat, während
die drei anderen Werke einfache Handschriftenabdrucke darstellen:
Gangbarstes und Meistverlangtes, in seiner Auswahl höchst bezeich-
nend, wurde vom Verleger in der neuen Vervielfältigungsform
schleunigst auf den Markt gebracht. Als solche gelten noch das
führende Salernitaner und das hochgeschätzteste scholastische Anti-
dotarium. und der dem letzteren nicht völlig fernstehende Peter aus
dem Badeort an den Euganeen, dessen Conciliator schon 1472 zu
Mantua wieder herauskam ! Außerdem erschienen in letzterem Jahre
zu Bologna als altes wertes Literaturgut das Regimen Sanitatis des
Taddeo Alderotti und zu Augsburg sein deutsches Ebenbild
einer „Ordnung der Gesundheyt" oder „nützlich regiment", ferner
als aktuelle neue Erscheinung des Paduaner Professors Pa<^L<^ Ba-
GELLARDI „Libellus de egritudinibus infantium", eng an des RÄz!
Kinderbüchlein sich anschließend und offenbar von Bagellardi
selbst herausgegeben. Schon 1473 trat dann der Augsburger Arzt
D. Bartholomäus Metlinger mit seinem weit selbständigeren
„Regiment der jungen Kinder" hervor, vermutlich vom Augsburger
Verleger Günther Zainer mit Rücksicht auf das Buch Bagellardis
dazu veranlaßt. Das Jahr 1473 bringt neben einem neuen latei-
nischien Mesuedruck und einem Serapion über die einfachen Arznei-
stoffe, ebenso wie diese beiden zu Mailand erschienen, den ersten
Druck vom Kanon des IBX SixÄ als besonders wichtige Erscheinung,
ferner das Buch über Gifte des noch sehr geschätzten Peter vox
Abaxo, sowie den wertvollen „Clavis sanationis" SiMoxs des Ge-
nuesen und, offenbar wegen ihrer praktischen Nützlichkeit, zwei
256 Renaissance und Humanismus.
Badeschriften des Casteli,o und Gentile, dazu endlich den viel-
leicht vorher schon einmal ohne Jahresangabe gedruckten Hippo-
krateskommentar Jakobs von Forli (Della Torre), der schon
60 Jahre im Grabe ruhte, 1474 erschien eine zweite Auflage des
Metlinger, ein Nachdruck der Synonyma des Simon von Genua
JjJjAnn nacb anfehung g6tlicbrc
j/7/vnb mmrd>lifhrr oioenung vnnö
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Den tag fant 6n;^2t8 tcB p3?6ifFfcDtcm.
Abb. 123. Anfang und Schluß des ersten Druckes von Barthol. Metlingers „Regiment
der jungen Kinder", Augsburg 1473.
und zum ersten Male die „Pandekten" des Matthaeus Sylvaticus.
Von GUAINERI (f 1440) kamen 1473 und 1474 kleinere Schriften
heraus, ferner ein Gesundheitsregimen des noch lebenden Manfredi,
der als latromathematiker besonders bekannt ist (f 1493). 1475 ging
hinaus ein Neudruck der Pandekten des Matteo, des Giftbuchs
Peters und zum erstenmal die Gifterkennungsschrift des Arxald
von Villanova. Von Peter von Abano wurde zum erstenmal
der Kommentar zu den Problemen Pseudo-Aristotelis in die Presse
gelegt, desgleichen der umfängliche Tegnikommentar des jAKOB
von ForU und die Pestschrift des Valescus de Taranta, sowie
zweimal die Opera Mesue, nach denen stärkste Nachfrage war, ein-
mal sogar in italienischer Sprache. Auch das „Regimen Salerni"
kam in diesem Jahre zum ersten Male datiert in die Presse, des-
gleichen die „Summa conservationis" des Wilhelm von Saliceto.
1476 erschienen Neudrucke des Kanon AviCENNAE, des Conciliator
Renaissance und Humanismus.
^57
CONCnJATOR DIFFBRENTIA
BVM PHILOSOPHORN'M : ET
PRAEÜPVE MEDICORVM CLA
RISSIMl V^RI PETRI DE ABA
NOPATAVINI FEUaTERLN^'
OPIT. PROLOG VS.
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I^ine anrm per iribnoac Ciqaianba ; Ol pkuip
■ma ({KÜtenMiiiiia !»■■ MÜa < rdäq^. 4Uw
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' MidTs» »<treMr»s paaaifai ii* :6of ticM».
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(oaermtrtAStataiifami c>nlii«i«(aUiaWh«
iMcil i(M« uai baa* . 42.00 Bonfc phönai ac iBcdt
Abb. 124. Venetianer Druck des „Conciliator"
Peters von Abano aus dem Jahre 1476 (größtes
Folio) ; Textanfang und Scblußnotiz. Man beachte
den reichen feinen handgezeichneten blauen und
roten Initialschmuck und die handgcsehriebenen
„Rubriken", ganz im Brauch der Handschriften-
Rubrizierung.
\*im arfuncfitlilxs flöatiatnicdiim in*
t w amm« <i>u« dn> dA bapob' dt I Aa
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Mcempuai.
q<i^.ajUJm »IfttlnT iioJin /*
Meyer-Steineg u. Sndhoff, Illustr. Geschichte der Hedizin.
«7
258 Renaissance und Humanismus.
Peters von Abano, des Antidotarius Nicolai, der Augsburger
„Ordnung der Gesundheit" und des „Regiments der jungen Kinder" von
Metlinger, Erstdrucke eines AviCENNA-Kommentars von Gentile
sowie der Konsilien des Cermisone und des Bartolomeo Mon-
TAGNANA, Ein anderes Stück des AviCENNA-Kommentars des Gen-
TILE erschien 1477 und zu Nürnberg das Arzneibuch des sogenannten
„Ortolff von Bayerland", anscheinend aus dem deutschen „Meister
Bartholomäus" entstanden oder gar für ihn verlesen. Der „Macer
floridus" wurde im selben Jahre zuerst aufgelegt, 1478 wiederum
der Antidotarius Nicolai, die Pandekten des Sylvaticus, der
Mesue, während ein Pesttraktat des SOLDUS, der lateinische Dios-
KURIDES, der Cornelius Celsus, die Chirurgie des Guy und die
Anatomie des Mondino zum ersten Male in die Presse kamen, sowie
das Weinbüchlein des Arnald von Villanova. Wiederholungen des
„Ortolff", des Kanon, des Mesue
/-^0MCl ir rci CT nr jwurnrrr ^^^ ^^^ Serapion brachte das
^9^* r r «CD mMri- Ir^QCM nächste Jahr, samt Erstdrucken
NA LiBERFINIT FLOBEN • t^ ^ tv-
T-i Ar- A KtTz-i^r A/-\ 1»* emes Kommentars zum Kanon
TIAE ANICOLAO IM , t- i- j t^
PRESS VS ANNO von Jakob vonForh, der Prac-
SALVTIS M ^^HB tica des Michele Savona-
CCCC L ^^^B ROLA (11462), eines Schriftleins
XX:V ^^^H ^^^ Gentile und, wie es
JII j^gaBma^^^^m scheint, der „Articella", einer
^HHBIBBBBR Schriftensammlung, größten-
AKK T,r c 1,1 o *• ^ ^ /-,.. „o A teils der Antike entnommen,
Abb. 125. Scnlußnotiz der ersten Celsus- Aus- '
gäbe, Florenz 1478. dieauf KONSTANTIN von Afrika
zurückgeht und auch jetzt noch,
nach 400 Jahren, das Bedürfnis der Aerzte nach dem geläufigen Schrift-
werk aus dem Altertum befriedigen mußte und langsam anschwellend
bis nahe an die Mitte des 16. Jahrhunderts befriedigte. Die immer
wiederholte Fabel, daß diese Schriftensammlung ein Verdienst des
ausgehenden 15. Jahrhunderts oder wohl gar der nach antikem
Schriftgut verlangenden Renaissance und der auf dessen Befriedigung
bedachten Drucker gewesen sei, hat keinerlei Wahrheitsgehalt. Nur
der Name „Articella", kleine Kunst, scheint aus dem 15. Jahrhundert
zu stammen ; die Sammlung selbst läßt sich in zahllosen Handschriften
bis in das 12. Jahrhundert heute noch zurück verfolgen. Die latei-
nischen Uebersetzungen sind in den ersten Auflagen der Renaissance-
zeit völlig unwürdig und wurden erst ganz allmählich durch bessere
ersetzt.
Doch ich kann diese Aufzählung nicht endlos fortsetzen: sie
zeigt schon, wie groß der Bedarf an überkommenem scholastischen
Renaissance vind Humanismus. 259
Literaturgnt noch war, nur in dürftigster Weise durch direkte Ver-
öffentlichungen zeitgenössischer Autoren und seltenstes Humanistisches
unterbrochen ; auch der jetzt sich erst verbreitende Celsus war schon
seit mehr als iV* Jahrhunderten in engem Kreise wieder bekannt
gewesen. Weitere CELSUS-Drucke ließen aber nicht auf sich w'arten.
Was die nächsten 10 Jahre brachten, sind außer zahlreichen Neu-
drucken des PLiNros, des Canon und des Mesue, des Serapion,
sowie von Schriften des MoxDixo, Peter von Abano, Savoxarola
und der „Pandekten" und des „Clavis sanationis": Erstdrucke des
Liber mansuricus, der kleineren Schriften und des Continens des
Razi, des Colliget AvERROis und der Diaetae Isaaks, sowie des
„Lilium" Bernhards (8mal bis 1500), der Chirurgie des Pietro Di
Argelata, der Pulsschrift des Aegidius und der umfangreichen
Sermones des XicCOLÖ von Florenz. Auch „Macer" begegnet
wieder neben dem „Circa instans" und der Practik des Platearius,
allerhand Pestschriften, Schricks Schrift über „ Ausgeprannte Wässer"
(schon seit 1477), Kräuterbüchern, „Gart der Gesundheit", einigen
Konsiliensammlungen usw. Von Galexos erschien ein kleines
Schriftchen, von Hippokrates nur das kleine Pseudonyme Büchlein
über medizinische Astrologie, daneben das Kreuterbuch des Pseudo-
Apuleius und eine lateinische Uebersetzung der botanischen Schrift
des Theophrastos von Eresos, gearbeitet von Theodor Gaza
(f 1478), als humanistischem Vorläufer 1483. Eine lateinische Gesamt-
ausgabe der Schriften des Hippokrates erschien erst 1525, eine
griechische 1526, ein griechischer Galexos in 5 Foliobänden er-
schien 1525 in Venedig; ein lateinischer GalenüS war allerdings
schon ebenda 1490 in zwei Bänden herausgekommen. Nur DlOS-
KURIDES war 1499 ^Is Inkunabel griechisch gedruckt, desgleichen
Aristoteles (1495 — 1498), der Paulos lateinisch 1489.
So waren die Anfänge der medizinischen Fachliteratur in Buch-
druck! Die ersten Jahrzehnte beherrscht völlig die Scholastik, die
auch im 16 Jahrhundert fast bis an dessen Ende in Neudrucken
sich erhält und nur allmählich völlig zu versiegen begannt. So wird
das Grabadin des Pseudo-Mesue noch 1582 oder gar 1623 gedruckt
Razes Buch an Maxsur 1589, der Taisir des AVEXZOAR 1574, der
Canon des IBX SixÄ bis 1593, ja bis in das 17. Jahrhundert. Von
den Koryphäen der Scholastik erscheint Matteo da Gradi noch
1560, MiCHELE Savoxarola noch 1561, des Giacomo de' Doxdi
„Aggregator" noch 1581, GuiLELMO Varigxaxa, Peters von
Abano „Conciliator" und JOHNS Gaddesden ,3-osa anglica" alle
drei noch 1595, Berxhard GORDOXS „Lilium" noch 1617, das „Philo-
nium" des Valescus noch 1599, ja in Auszügen sogar noch 1680
17*
200
Renaissance und Humanismus.
und 17 14. Die Renaissance hatte also keineswegs mit der Scho-
lastik völlig aufgeräumt und der Buchdruck war durchaus nicht aus-
schließlich ein Anbahner des P'ortschrittes. Er paßte sich eng den
Bedürfnissen der Käufer an und richtete sich mit den Neudrucken
nach deren Nachfrage, wie er denn als geschäftliches Unternehmen
Jg>3liem"j^erg3menfi0i16ediconimomnium T|^:mcipi9 ©pe
m Sodv^tcrincbomu ^tpn'mo Eibertjelcctisrf nftrue6
imrocmcetmos in ilfecdidna quam feaam'Dcbcant imitari.
Oniiui alt'quod t^imnartTvifenoflre
orawnüadmucntacftaremcdidnc'a-anttatcji.opt/
fCtadqrfi'pfcqui aJduri: voJiicrif.l/ ^iinilimodoa
Bl.'iyiorc^'bvj quc eft nuicr oiyni amu rubijccnaam
|/£tplid£libcrgaliemquifomunitcrttimolanirlibar
fkcah traa3mumqne5tranft:ulKinagtÜf r tiKo< juöoc
regio ocakbm ad peiiiioiicni iTgie robern.
. QucinpH'movoluminccöntincwr Öalictii opcra fC'
•i>ö«ftt- Bögoftwotwbadif 0 Sacniflimo unao|i
l^antrpe.
Abb. 126. Textanfang der Opera Galieni, Venedig 14QO in Folio (mit großem hand-
gemaltem Initialbild) und Drucknotiz am Schlüsse.
seinen Sitz zunächst an den hauptsächlichsten Handelsplätzen auf-
schlug, in Venedig, Augsburg, Nürnberg, Köln, Straßburg, Basel,
Leipzig, erst in zweiter Linie in Rom, Bologna, Mailand, Lyon, Paris
usf. Der lebende Autor tritt lange gegenüber den überkommenen
Autoritäten zurück, naturgemäß: das Neue war weniger noch be-
gehrt als das „bewährte Alte".
Renaissance und Humanismus. 261
Für die Anbahnung freierer Richtung auch in der Heilkunde
war noch ein anderer, von außen wirkender Faktor von einschnei-
dender Bedeutung, die Entdeckungsreisen, die schon zu Ende des
13. Jahrhunderts mit dem Venetianer Marco Polo eingesetzt hatten,
der ganz Asien durchzog, und zu Ende des 15. und zu Anfang
des 16. mit den Fahrten des Batolomeu Dias und des Vasco da
Gaj^ia nach Südosten, sowie denen des COLOMBUS nach Westen
ihre Krönung fanden. Ihre Ergebnisse waren eine ungeheure Weitung
des Gesichtskreises und die gewaltige Vermehrung des naturwissen-
schaftlichen Studienmaterials. Hatte SiMOX der Genuese für seine
botanisch-pharmakologischen Studien schon um 1300 von den Handels-
verbindungen wissenschaftlichen Vorteil gezogen oder gar die grie-
chischen Naturforscher des 4. Jahrhunderts vor Chr. von dem Ale-
xanderzug nach Indien, so wurden jetzt in den eroberten Ländern
des Ostens und des Westens noch ergiebigere Studien in Ruhe ge-
macht und bekannt gegeben, wofür nur die Namen Garcia d'Orta
und GoxzALO Herxandez de Oviedo y Valdez genannt seien.
Man muß auch nicht unterschätzen, wie diese neuen ungeahnten
Welten, von denen die gepriesene Antike nichts gewußt hatte, deren
Autorität an der Wurzel fraßen.
Unterdessen war an der neuen Beschäftigung mit dem über-
lieferten antiken naturwissenschaftlichen Schriftwerk nicht nur die
Freude daran, sondern auch die Kritik erwacht. Nicht umsonst war
die mühsame Arbeit des Griechen Theodor Gaza an der lateinischen
Uebersetzvmg der mangelhaften ihm vorliegenden griechischen Hand-
schrift der beiden Schriften des Theophrastos, der Historia und
der Causae plantarum gewesen, bei der er ständig die Naturgeschichte
des Plinius mitheranzog, die im ersten Halbjahrhundert des Buch-
drucks mehr als ein dutzendmal in die Presse gelegt war. Gazas
Uebersetzung der beiden Schriften des Theophrast war 1483, wie
schon gesagt, 5 Jahre nach seinem Tode zu Treviso gedruckt
worden. Rein philologisch arbeitend, säuberte der Venetianer Er-
MOLAO Barbaro (1454— 1493) den überlieferten Text des Plixius
auf Grund sorgfältiger Handschriftenstudien von Tausenden von
Fehlem; seine „Castigationes Plinianae" (1492 — 1493) dringen kaum
irgend in die Sache ein. Ganz anders gleichzeitig Leoxiceno ! Ge-
boren 1428 in Vicenza (ge.storben nach 60-jähriger Professur in
Ferrara im Jahre 1524), ließ er seit 1492 „De Plinii et aliorum in
medicina erroribus" 4 Bücher erscheinen, deren zweites er dem Er-
molao Barbaro widmete, der aber indes gestorben war. Zahl-
reiche Irrtümer weist er darin nicht nur dem AviCENNA und Se-
262
Renaissance und Humanismus.
RAPION, dem SiMO^ jANUENSis und Matthaeus Sylvaticus,
sondern auch dem Plinius selber nach, und zwar nicht nur an der
Hand des Theophrastos und DIOSKURIDES, die er als Autoritäten
^ TA A A 1 0 Ni \ 't-pAr J I </>
Cätnillm
b c
Abb. 127. a Galium und Storchschnabelarten aus dem Wiener Cod. Neapolitanus
(VII. Jahrh.) des Dioskurides, b Mohn aus dem Wiener Pseudo-APULEIUS (nach 1200),
c Kamille aus dem „Herbarius, Maguntiae impressus" (1484),
festhält, sondern auch unter Berufung auf eigene Naturbeobachtung,
und das ist das Entscheidende; darum steht Leoniceno in der
Pforte der Reform!
Renaissance und Humanismus.
263
Auch Giovanni Manardi (1463— 1536), der Schüler und Nach-
folger des XiCCOLÖ Leoniceno in Ferrara, besaß einige Pflanzen-
kenntnis und seine Beschäftigung mit den Arzneipflanzen des „Mesue"
ist nicht ohne einiges aufklärende Verdienst. Aber langsam nur
ließ man von dem Vorurteil ab, daß die Alten, wie alles andere
Wissenswerte, schon die Fülle des ganzen Pflanzenreichs erschöpft
hätten, und von dem Bestreben, bei allen Reisen und selbst bei den
Studien an der Pflanzenwelt Indiens und sogar Amerikas ausschließ-
lich die Pflanzen der Alten wiederzufinden. (Siehe die Entwicklung
des Pflanzenbildes von der Spätantike bis in den Anfang des 16. Jahr-
hunderts, Abb, 127 u. 128.)
Abb. 128. Blumenstudien des Leonardo da Vinxi (a) und Albrecht Dürer (b).
Am methodischsten die ganze Flora ihres Gebietes unter-
suchten bei weitem und am gründlichsten die deutschen Botaniker,
und in Deutschland entwickelte sich auch mit der trefflichsten
Pflanzenbeschreibung der künstlerische Holzschnitt nach der Natur,
den aller anderen Länder, auch Italiens und Frankreichs übertreffend ;
die Niederlande hatten daran vollen Anteil. Zu Begründern der
wissenschaftlichen Botanik auch über die eigentlichen Heilpflanzen
hinaus wurden so die deutschen „Väter der Botanik", alles Aerzte,
die hier nur dem Namen nach genannt werden können: Otho
Bruxfels (t 1534), musterhaft in den Bildern, HiEROXVMUS BoCK
(1498— 1566), vortrefflich in den Beschreibungen, Leoxh.\rd Fuchs
(1501 — 1566), in den Bildern das Höchste bietend und auch in den
264
Renaissance und Humanismus.
Lili'um Conuailis , UeKylucftrcLüium,
DB LIt/IO CONVALLIS, VEC LI,
m&i|a^- Üofylucftri. Rhapfodia xxxyi.
'sä
De A s^A R o RliaprodiaOdaua,
Abb, 129 a u, b. Maiblume und Haselwurz aus Brunfels, Herbarum vivae eicones 1530.
Renaissance und Humanismiis.
265
■er/
f
N^A
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H.-
SEDI TERTIVM
CENVS.
^»rjOlKCMNC.
Beschreibungen der deutschen Ausgabe dem BoCK kaum nach-
stehend, an Gelehrsamkeit ihn übertreffend. ValeriüS Cordus
(15 15 — 1544), der Frühvollendete, leistet in seinen Beschreibungen
an Genauigkeit und Anschau-
lichkeit Meisterwerke. KON-
RAD Gesners, des univer-
sellen Naturforschers und
Arztes (15 16—1565), botani-
sches Werk können wir fast
nur nach den sehr teilweise
nur und spät erst veröffent-
lichten kleinen, aber zum Teil
vortrefflichen Abbildungen
in seinem Werke erraten.
Unterstützt durch einen erst-
klassigen Verleger (Plantin in
Antwerpen), leisteten die drei
befreundeten Niederländer
Rembert Dodoexs (15 17 —
1585), Charles de l'Ecluse
{1526 — 1609) und Matth.
DE l'Obel (Lobelius, 1538
— 1 6 1 6) jeder in seiner Weise
Hervorragendes ; eine Zu-
sammenfassung aller seiner
Vorgänger gab Jaques
D ALECH AMPS in Lyon (15 13
— 1588). Auch die Leistung
des PlERAXDREA MaTTIOLI
(1501 — 1577) in seinem Dio-
SKURIDES - Kommentar ist
trotz mancher Plecken an
Werk und Autor der Er-
wähnung würdig.
In dieser botanischen
Tatsachenforschung haben
wir eine der induktiven Be-
strebungen der Renaissance
zu sehen, welche schließlich,
wenn auch erst im 17. Jahr- ^
hundert bei weiterer Aus- Abb. 130a u. b. Mauerpfeffer (Sedum) und Gauch-
breitung der empirischen heil aus Fuchs, Historia stirpium 1542.
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266
Renaissance und Humanismus.
Naturforschung, der Scholastik, die nicht sterben wollte, den Todes-
stoß versetzten. Aber der Weg der Botaniker im i6. Jahrhundert
war durchaus nicht der einzige, der jetzt schon beschritten wurde.
Neue Krankheiten zeigten sich, wie man zu beobachten
meinte; meist verstand man darunter solche, die sich in den Schriften
der alten Aerzte nicht finden ließen, oder die man längere Zeit nicht
gesehen hatte, so zu Anfang der goer Jahre des 15. Jahrhunderts
Meningitiden, Diphtherien mit Hautausschlägen usw. Einige Jahre
später (1495) machte in Deutschland und Oberitalien die Syphilis
Abb. 131a u. b. „Mala insana" und Eberwurz aus Konrad Gesner, Opera botanica 1751,
Tab. XXI und i8.
viel von sich reden, die man in Frankreich schon länger und all-
gemeiner von anderen chronischen Infektionskrankheiten zu scheiden
sich gewöhnt hatte. Eine große Literatur setzte ein, wie zur Zeit
des „schwarzen Todes", aber durch den Buchdruck bestens unter-
stützt und diesmal fast ausschließlich auf Deutschland und Italien
beschränkt. Die neue Erkenntnis ist seitdem, dank diesem Lite-
raturstreite nicht mehr verloren gegangen; sie hatte sich seit der
ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts anzubahnen begonnen. Was ihr
aber jetzt aus dem Humanistenlager von Ferrara entgegengehalten
wurde, war betrüblich rückschrittlich. Leoniceno suchte die Lues
als eine bei Hippokrates längst geschilderte Saisonkrankheit hin-
zustellen, während die Literatur des klassischen Altertums wie die
des Islam kein Wort darüber enthält. Die Fabel, daß die neue
Renaissance und Humanismus.
267
Krankheit aus Amerika durch die Matrosen des Kolumbus einge-
schleppt sein könne, kam erst viele Jahrzehnte nachher auf. Unterdes
war eine in England schon 1485 und 1508 als Seuche verbreitete
Krankheit 1529 in einem pandemischen Zuge durch einen großen
Teil Europas geschritten, der man ihre auffallende Besonderheit nicht
streitig machte, die Schweißsucht, der „Sudor anglicus"; auch diese
Krankheit, die sich 1551 noch einmal in England zeigte, wurde in
einer reichlichen Literatur hauptsächlich in Deutschland bearbeitet,
wo man seit anderthalb Jahrhunderten überhaupt eifrig am allge-
meinen wissenschaftlichen Leben sich zu beteiligen begonnen hatte.
Die ganze Frage der Kontagien und der kontagiösen Erkennungen
faßte sodann 1546 grundlegend zusammen GiROLAMO FracastoRO
(1483 — 1553), ein genialer Yero-
nese, der auch naturphilosophi-
schen Fragen nicht fernstand.
Die Lostrennung der Syphilis
aus dem Gewirr chronischer In-
fektionen ist noch ein Verdienst
der Scholastik auf ihrer Höhe.
Die „Scabies grossa", „Variola
grossa", „grosse Veröle" (noch
heute) in ihrer prompten Zu-
gänghchkeit für die Einreibungs-
therapie mit Quecksilbersalbe,
die in wenigen Wochen alle Er-
scheinungen zum Schwinden
brachte, gab aber als Xachfrucht
dieser Beobachtung des 1 4. Jahr-
hunderts, die sich allmählich
durchgesetzt hatte, in den Tagen
der Renaissance dem Kran-
kenhaus sein wirkliches Ge-
sicht. Trotz der oben (S. 155 f.) angedeuteten organisatorischen Fort-
schritte des Krankenhauswesens in Byzanz war im ganzen West-
und Südeuropa das Hospital ausschließlich Unterkunftshaus, Ver-
sorgungshaus, Pflegehaus und in besonderen Sparten (Leprosenhaus,
Antoniterhaus, Pesthaus, schließlich auch Epileptikerheim) ein Ab-
sonderungshaus gewesen. Das Blatternhaus, in dem man die mit
der Lues Behafteten zunächst unterbrachte und dann sofort der mit
der Syphiliskenntnis gleichzeitig dahergewanderten Schmierkur unter-
warf, führte in einigen Jahrzehnten eine völlige Umänderung des
Krankenhauses herbei. Aus der Pflegestätte ward es zur Behand-
lungsstätte, zur Heilstätte, seit man auch chronische Krankheiten dort
Abb. 131. GlROLAMO_ FRACASTORO.
268
Renaissance und Humanismus.
der Besserung, ja Heilung zuzuführen gelernt hatte. Die Hospitäler
erhielten ihre angestellten Aerzte, nachweislich zuerst in Straßburg
(1500), Leipzig (15 17, durch Stiftung eines Arztes) und im Hotel Dieu
zu Paris (1536).
Das philosophische Denken hatte sich mit der steigenden
Abneigung gegen die Scholastik und ihren unerträglich gewordenen
Formelkram auch von dem großen Aristoteles abzuwenden be-
gonnen; auch er wurde mit Widerwillen behandelt und mit Spott
Übergossen. Alles, was zum Humanismus hielt, schwur auf Plato,
der im Mittelalter nie ganz vergessen war und bei den Natur-
forschern um seiner mathematischen Orientierung willen neben
Aristoteles in Hochschätzung geblieben und jetzt wieder um
seiner ästhetischen und das All umfassenden Naturbetrachtung willen
gar sehr willkommen war. Alles
Platonische blieb ja zunächst
noch lange stark „neuplatonisch"
gefärbt, zumal bei der platoni-
schen Akademie in Plorenz, an
deren Spitze ein Arzt stand. Es
war Marsilio Ficmo (1453
— 1499), der Freund des huma-
nistischen Arztes Antonio
Benivieni (t 1502), der in
seinem Werk „De abditis mor-
borum causis", das aber auch
Symptome, Diagnose und Thera-
pie abhandelt, Ergebnisse von
20 Autopsien einflicht, also auf
dem Wege eigener Beobachtung
und Nachprüfung des Ueber-
lieferten ist. Marsilio nennt den Galenos und den Plato als
seine Leitsterne, hat aber dem letzteren eifriger gedient, indem er
alle seine Schriften neu übersetzte, daneben Einzelnes der Neu-
platoniker Plotin und Jamblichos, sowie den Pseudo-DiONYSiOS
Areopagita. In der Medizin sind nur eine weit verbreitete Pest-
schrift und eine Schrift „De triplici vita" von FiCiNO zu nennen,
deren letztere im ersten Buche sich mit der Lebenshaltung der Ge-
lehrten, im zweiten mit der Lebensverlängerung beschäftigt, im
dritten, das vom Jahre 1489 datiert ist und an Plotin sich anlehnt
(„De vita coelitus comparanda"), eine astral gerichtete, stark mystische
Medizin lehrt unter Berufung auch auf Galenos und Hippokrates,
Abb. 133. Marsilio Ficino.
Renaissance und Humanismus.
269
während FiciXO sonst scharf gegen die Lügen der Astrologen auf-
tritt und eng mit dem Grafen GiOVAXNl Pico DELLA Miraxdola
befreundet war. Das Büchlein über das „himmelwärts einzurichtende
Leben" hätte dem bald 60-jährigen Marsilio fast einen Prozeß
der Kurie wegen Zauberei eingetragen. Unterdessen war Pico
daran (1462 — 1494), seine „Disputationes adversus astrologos" fertigzu-
stellen, ein großes Werk von 12 Büchern, das mit reicher Kenntnis
der Literatur und glänzender Dialektik auf der ganzen Linie der
astrologischen Lehre zuleibe ging (erschienen 1495), aber doch nur
geringen Erfolg hatte, trotzdem der Fanatiker GiROLAMO Savoxa-
ROLA (verbrannt 1498) in einem kleinen Auszug der 12 Bücher dafür
eingetreten war. Schon nach wenig Jahren erhob auch die latro-
mathematik wieder schriftstellerisch ihr Haupt, ja noch in den Jahren
1562 und 1563 ist an der gleichen Universität, an der Leoxhard
Fuchs wirkte, den wir als Beförderer wissenschaftlicher Botanik
kennen gelernt haben, Samuel Siderokrates in feierlicher Rede
am Festtage der medizinischen Fakultät für die iatromathematische
Irrlehre in die Schranken getreten. So zäh saß die alte Doktrin.
Leoxhard Fuchs war übrigens einer der heftigsten Streiter
für den allmählich sich durchsetzenden Neogalenismus, den auch
Beniviexi in Florenz verfocht und der seine Hauptaufgabe zu-
nächst darin sah, die Autorität des
Avicexxa, des getreuesten Inter-
preten des Galenismus bei den
Arabern, zu stürzen, wozu Fuchs
1530 und 1533 in scharfen Pole-
miken in die Schranken getreten
war. Sein literarisches Verdienst
beruht im übrigen auf Bear-
beitungen des HiPPOKRATES, des
Galexos und des Nikolaos
Myrepsos. Auch mit dem als
philologischem Mediziner weit be-
deutenderen Jaxus Cornarius
(Joh. Hayxpul aus Zwickau, 1500
— 1558) ist Fuchs damals in lite-
rarische Fehde geraten ; auf Hayx-
PULS mustergültige lateinische Uebersetzung des AfiTios aus den Hand-
schriften, um nur eine seiner Arbeiten zu nennen, sind wir heute noch
angewiesen, wo der griechische Urtext noch nicht gedruckt ist.
Zum Kampfe gegen AviCENXA hat in den 30er Jahren des
16. Jahrhunderts auch die „neue" Florentiner Akademie aufgerufen,
Abb. 134. Leonhard Fuchs.
270 Renaissance und Humanismus.
die sich, im Gegensatz zur „Platonischen" des Cosimo Medici und
FiCiNO zu Ausgang des 1,5, Jahrhunderts, die ,, Galenische Akademie"
benannte. Freilich die Position der arabischen Medizin war nicht
mehr die beste. Wohl war noch der „Avicennista insignis", wie ihn
ein südfranzösischer Bibliograph benannte, Lorenz Fries von
Kolmar, 1530 mit einer „Defensio Avicennae" hervorgetreten; man
war also schon in die Verteidigung gedrängt, und scharf hallt es
aus Florenz 1533 „gegen Avicenna und die neueren Aerzte, welche
mit Vernachlässigung der Lehre des Galenos die Barbaren pflegen".
Im Streite lassen die Florentiner Aerzte den Benivieni als Mit-
kämpfer aus dem Grabe erstehen. Im Grunde ist das Ganze nur
ein Wechseln der Autoritäten, denen man auf beiden Seiten mit
Inbrunst anhing, wie denn die philologische Richtung auch für die
arabischen Aerzte nicht ohne Nutzen geblieben war; GiROLAMO
Ramusio, ein venetianischer Arzt (f i486 in Damask), und Andrea
Alpago aus Belluno (f nach 1554 als Professor in Padua) haben
sich um die Neu-Uebersetzung des IBN SiNA aus dem Arabischen
bemüht.
Einen seiner 60 „Errata" hatte Fuchs 1530 einer Frage gewidmet,
die aufs engste mit dem Kampfe „pro et contra Avicennam" zu-
sammenhing, dem 15 14 in Paris entbrannten Aderlaßstreit. Der ihn
entfachte, Pierre Brissot (1478 — 1522), hatte aus Paris weichen
müssen, weil er es gewagt hatte, gegen den tropfenweisen Aderlaß
am entgegengesetzten Fuße bei Pleuropneumonie (revulsio) zum
„derivierenden" Aderlaß am gleichen Arm zurückzukehren, den
HiPPOKRATES gelehrt hatte. Entscheidend war, daß er als Beweis
die Erfahrung am Krankenbette betont hatte, wenn auch
sein posthumes Schriftchen (1525), die „Apologetica disceptatio", rein
dialektisch zu Werke geht. FuCHS entschied sich natürlich für
Brissot als HiPPOKRAXES-Anhänger und setzte dem Frühverstor-
benen ein Denkmal am Schlüsse seiner Ausführungen. Aber der
Streit tobte noch viele Jahrzehnte weiter; man versuchte sogar, die
kaiserliche Regierung zur Entscheidung gegen die Neuerer zu be-
wegen.
Geht man einem der Autoren, die in den Streit um AviCENNA
heftig auf Galens Seite treten, näher aufs Leder und sieht sich
dessen eigenes Schriftwerk in einigem Umfange näher an, z. B.
dem vielschreibenden, in Montpellier gebildeten Praktiker in Lyon,
Symphorien Champier (1472 — 1540), der gegen Fries mit einer
kleinen „Epistola responsiva pro Graecorum defensione in Arabum
errata" (Lyon 1533) hervorgetreten war und auch eine „Apologia in
Academiam novam Hetruscorum contra Avicennam et Mesuen" ge-
Renaissance und Humanismus. 271
schrieben hatte, so findet man zwar Castigationes s. emendationes
des AIesue, Serapiox, Razi, Abulqäsim, Xicolaus, selbst Peter
von Abano, im übrigen aber das alte scholastische Hantieren mit
Qualitäten, Komplexionen usw., in der Therapie das Altüberkom-
mene und den Autoritätenstreit, gemildert bei ihm durch das Be-
dürfnis, heimische Drogen in den Vordergrund zu schieben. Hat
doch erst der als physiologischer Denker in manchem so fortschritt-
liche Entdecker des kleinen Kreislaufs, Michael Sera'ET, über die
Sirupe, diese spezifisch arabische Arzneiverordnungsform, 1537 ge-
sündere Ansichten aufgestellt und die „Kochung der Kardinalsäfte"
als Heilungsvorgang im Organismus einer besonnenen Kritik zu
unterziehen begonnen, die allerdings weite Verbreitung fand. Servet
(s, u.) war übrigens durch Champier in die Medizin eingeführt
worden und hatte diesen seinen Lehrer gegen FuCHS' Angriffe ge-
wandt verteidigt.
In diese Atmosphäre des Kampfes für Galenos gegen Avi-
CENXA und des Aderlaßstreites platzte nun der Baseler Reform-
versuch HoHENHEiMs hinein, von einem der größten Aerzte aller
Zeiten großzügig und mit Ungestüm unternommen, dem aber schon
dadurch die Spitze abgebrochen wurde, daß er in Basel selbst
vor Jahresfrist zum Ende kam und daß nur ein ganz kleiner Teil
seiner reformatorischen Schriften, trotz aller Bemühungen des Ver-
fassers, in Druck gebracht werden konnte, zwei Syphilisschriften und
eine allgemeine Chirurgie.
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahr-
hunderts.
Zu Einsiedeln in der Schweiz als Sohn eines schwäbischen
Adeligen, des Arztes Wilhelm Bombast von Hohenheim, und
einer Schweizerin gegen Ende des Jahres 1493 geboren, hat Theo-
PHRASTUS früh den Unterricht des Vaters genossen, der im Wall-
fahrtsort Einsiedeln an der Sihlbrücke praktiziert hatte und 1502,
nach dem Tode der Gattin, die ihm diesen einzigen Sohn geschenkt
hatte, nach Villach in Kärnten übersiedelte, wo er 1534 verstorben
ist. Dort soll der Vater, dem auch Kenntnisse in der Scheidekunst
nachgerühmt werden, neben seiner Praxis auch Unterricht an der
Bergschule erteilt haben, was aber ungewiß ist; jedenfalls war er
Lizentiat der Medizin, und es steht zu vermuten, daß er diesen aka-
demischen Grad, er war 1457 geboren, etwa 1480 in Ferrara er-
rungen hat, als NicOLÖ Leoniceno in seinen besten Jahren dort
wirkte und noch an den „Irrtümern des Plinius und anderer"
arbeitete. Als sie im Druck ihren Weg gingen und den Vicentiner
mit einem Schlage zum berühmtesten Arzte Italiens machten, wurde
der Sohn Theophrast geboren, dem der Vater nach dem Eresier
den Namen gab, dessen Pflanzenbücher sein Ferrareser Lehrer
Theodor Gaza (1476 und 1477) gerade zum ersten Male ins Latei-
nische übersetzt hatte; die Uebersetzung war, wie oben gesagt, 1483
zu Treviso erschienen. Den Sohn Theophrastus schickte Wilhelm
bestimmt nach Ferrara, wo er sich etwa 15 15 oder kurz nachher
den Doktortitel erwarb.
Freilich das Feuer des Leoniceno (hoch in den 80) war in-
dessen erloschen, und GiOVANNi Manardi, der teilweisen Ersatz
bot in freier Denkweise, ging 15 13 auf 12 Jahre als Leibarzt zu
König Ladislaus von Ungarn. Eifrig nahm Theophrast in Ferrara
und wohl auch an den nahen Hochschulen zu Padua und Bologna
auf, was dort sich bot, wenn auch nur das „löbliche Gewölb" der
Anatomie zu Ferrara des öfteren von ihm erwähnt wird. Was also
dort anatomisch zu lernen war, hat er sicher mit Begierde in sich
aufgenommen. Doch Ferrara zehrte damals im- wesentlichen an ver-
gangenem Ruhme, für den jungen, beweglichen Feuerkopf kaum
ein erwünschter Zustand. An den Disputationen und sonstigem Hoch-
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 273
schulkram damaliger Zeit nahm er redlich teil und berichtet ge-
legentlich, daß er in diesen Gärten, darin er aufgewachsen, keine
kleine Zier gewesen sei, also einiges Renommee genoß. Dort nahm
er wohl auch, als Gräco- Latinisierung seines Familiennamens von
Hohenheim, die Gelehrtenbenennung „Paracelsus" an, die er in
Bücherbenennungen, wie „Paramirum", „Paragranum" später weiter-
spann. Hochschulen, die Hohexheim sonst noch besuchte, sind
einstweilen nicht nachzuweisen ; er spricht wohl von langjährigem
Hochschulstudium in Deutschland und Frankreich, also außerhalb
Italiens, wo er weit herumgekommen ist bis nach Rom. Später
zog es ihn nach Montpellier, Granada, Lissabon und Paris. Doch
das gehört schon zu seinen großen Reisen, die ihn auch nach Eng-
land, Stockholm, Rußland, Polen, Siebenbürgen und über Ungarn
und die Slowakei heimwärts gebracht haben, bis er sich 1524/25
zum ersten ^lale in Salzburg niederließ.
Ehe er aber auf die großen Wanderungen ging, hat er sich
von der Hochschulweisheit abgewendet, deren Hohlheit ihm klar
geworden war, deren gelehrtes Griechenw^erk ihm keinen Ersatz bot
für den in Ferrara schon abgetanen Arabismus. In der Jugend
schon, beim Vater, war er nicht nur im Anschluß an DiOSKURiDES
und Theophrastos in die Heilpflanzenwelt der Berge eingeführt
worden, sondern auch in die Geheimnisse der Schmelzhütten und
alchimistischen Werkstätten, die er auch anderwärts in den Hoch-
gebirgstälern mitarbeitend besucht hatte. Das so errungene scheide-
kundige Wissen hat er später nicht nur für die Bereitung wirk-
samer Eisen-, Kupfer-, Antimon- und Quecksilberpräparate verwendet,
sondern auch bald schon als Grundlage für organische Vorgänge
und zu der Erschließung ihres Verständnisses zu gebrauchen be-
gonnen, als ihm gelungen war, sich von der Haltlosigkeit der Vier-
säftelehre zu überzeugen, als er sich frei gemacht hatte von dem
Grundirrtum zweier Jahrtausende, mit dessen Hirngespinnsten man,
wie mit ewigen Grundwahrheiten, alles organische Geschehen in ge-
sunden und kranken Tagen spielend zu erklären sich vermessen
hatte. Wohl waren ja in Griechenzeiten der Stimmen schon gar
manche gewesen, welche energisch gegen diesen Teil der Hippo-
kratischen Lehre Einspruch erhoben, aber unter dem Einfluß des
Galexos waren sie alle zum Schweigen gekommen. In Avicennis-
mus wie Galenismus herrschte diese Humoralpathologie und -physio-
logie seit Jahrhunderten unumschränkt als sakrosanktes ärztliches
Universalevangelium, Daß er die Hohlheit dieses uralten Irrtums
völlig klar durchschaut hat, daß von Schleim, gelber und schwarzer
Galle im Blute und anderen Körpersäften überhaupt keine Rede
sein könnte, daß man da völlig mit Schemen hantierte statt mit
Mej-er-Steincg u. Sadhof f, Illustr. Geschiebte der Medixin. lg
274 ^^^ großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
Wirklichkeiten, das ist seine erste große Geistestat, die ihn unsterb-
hch macht als einen der größten Wahrheitskünder für alle Zeiten.
Diese einfache klare Wahrheit, die ihm als feste Erkenntnis aufge-
gangen war, gibt ihm für sein ganzes ferneres Tun und Lassen die
große Ueberlegenheit, die sichere reformatorische Geste: „Ihr mir
nach, ich nicht Euch nach !" — „Mein ist die Monarhei !" wenn nicht
jetzt, so doch später und für immer! —
Wann ihm diese Wahrheit aufgegangen ist? Wohl schon in
Italien, wo für Zweifel und neue Erkenntnisse immer noch am
ehesten der Boden war. Damit ergab sich für ihn die Aufgabe
eines Neubaues der gesamten Medizin von Grund auf, und er ist
daran gegangen mit Sturm und Drang und Glauben an sich selbst,
der ihm freilich auch manchmal zu schwinden drohte, daß er ab-
lassen wollte von der als notwendig erkannten Mission; doch immer
fand er sein Ziel wieder und sich selbst, wne hart auch oft die Zeiten
waren in bitterer Vereinsamung. Zunächst aber galt es, neues Tat-
sachen- und neues Beobachtungsmaterial zu sammeln in Massen, an-
zuknüpfen an alles, was an Erfahrungen außerhalb der Schulzäune
errungen war, und dazu ging er auf die Wanderung, keine Infor-
mationsquelle induktiver Belehrung verschmähend. Denn alles war
in Frage gestellt; da mußte ganze Neuarbeit von Grund auf ge-
leistet werden, „in allen Enden und Orten fleißig und emsig nach-
gefragt und Erforschung gehabt"; und nachdem nicht allein bei den
Doktoren, sondern auch bei den Scherern und Badern, bei gelehrten
Aerzten, Weibern usw., bei Gescheiten und Einfältigen alles erforscht
war, mußte selbst Hand angelegt und nachgedacht werden. Das
war Arbeit vieler Jahre, ehe die ersten Erfolge reiften; zunächst
wurden die ersten neuen Grunderfahrungen auf chemischem Gebiete
lebendig erhalten und weiter ausgebaut. Doch ganz so einfach, nur
von chemischer Arbeit und deren Ergebnissen, aus Beobachtungen
auf den Wanderungen in der freien Natur, offenen Sinnes und aller
Voreingenommenheit bar, lassen sich die HOHENHEiMschen Ge-
dankengänge doch nicht herleiten, nachdem es wie Schuppen von
seinen Augen gefallen war und er nun die Hohlheit der Qualitäten-
lehre und Säftelehre durchschaute. Auf eine so einfache Formel
läßt sich die geistige Wandlung, die in ihm vorgegangen, doch
nicht zurückführen. Hdhenheim war nicht ungestraft viele Jahre
in den Säulenhallen der italienischen Renaissance gewesen. Das
philosophische Gedankenwerk seiner Zeit hatte dort im Süden auch
ihn umspönnen und nur zu lebhaften Anklang in seinem spintisieren-
den Schwabenkopfe geweckt. Lebhaft hatte er gegen Aristoteles
und für Plato Partei ergriffen, mit unzähHgen anderen. Der Neu-
platonismus im Sinne des Marsilio Ficino, den er wohl einmal
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 275
den größten Arzt Italiens nannte, sprach ihn besonders an. Die
weltumspannenden Gedanken vom Makrokosmos und Mikrokosmos
wurden nachgedacht; Kreislauf des Stoffes, Unzerstörbarkeit der
Materie tauchten in seiner Gedankenwelt auf; das Wesen des Lebens
sucht er zu erfassen und personifiziert es im Archäus, der die ge-
samten Lebensvorgänge leitet; weit in die Gebiete der Mystik dringt
sein Denken vor. Und doch bleibt ihm Leitstern die methodische
Induktion.
Die ältesten Ausarbeitungen, die wir von Hohenheim besitzen,
sind der große Wurf einer allgemeinen Krankheitsätiologie, einzelne
Abschnitte einer völlig neu gruppierten Pathologie und Therapie,
deutsche Bäderstudien, wie sie sich ihm beim erneuten Durchwandern
Süddeutschlands ergaben, und eine Zusammenfassung der Grundsätze
chemischer Arzneibereitung und -anwendung. Der Zulauf der Schüler
und Kranken wurde groß, schon ehe er sich 1526 in Straßburg
niederließ, von wo er im PYühjahr 1527 nach Basel als Stadtarzt,
mit dem Recht, Vorlesungen zu halten, vom Rat der Stadt berufen
wurde. Zu dem Bestreben, das Beobachtete, Erarbeitete und durch
Nachdenken Errungene aufzuzeichnen und klarzulegen, kamen nun
die Ausarbeitungen für die Vorlesungen. Am 5. Juni 1527 eröffnete
er seine Vorträge mit einem feierlichen Programm, das er gedruckt
in die Welt gehen ließ:
Nur wenige üben heute mit Glück die Heilkunst. Andere wollen
sie von der Trübung durch die Barbaren, wie von schweren Irrtümern
säubern, nicht nach den Vorschriften der Alten, sondern der Natur
selbst. Zu ängstlich hat man sich an die Worte des Hippokrates,
Galenos und Avicenna wie an Orakel geklammert. Nicht der
Schmuck von Titeln, Beredsamkeit, Sprachkenntnis und Bücherstudium,
sondern die Erkennung der Naturgeheimnisse machen den Arzt. In
zwei Stunden täglich werde er praktische und theoretische Medizin
nach eigenen Ausarbeitungen lesen, die nicht aus Hippokrates oder
Galenos zusammengebettelt sind, sondern von der höchsten Lehr-
meisterin, der eigenen Erfahrung und Handanlegung entnommen !
Sind Beweise von nöten, sollen E.\perimente und Ueberlegung, nicht
Autoritäten herangezogen werden : „Summa doctrix experientia" —
„experimenta ac ratio auctorum loco mihi suffragantur!" Auf Kom-
plexionen und Humores wird kein Bezug genommen werden, die, als
Ursache aller Krankheiten angenommen, für das Verständnis dieser
Krankheiten, ihrer Ursachen und ihres kritischen Verlaufs so hinder-
lich sich gezeigt haben.
Diesen reformatorischen Grundsätzen folgend, hat er in Basel
zwei Semester gelesen über Grade und Zusammensetzung der Arz-
neien, über deren Bereitung, kurze Lehrsätze über die gesamte
Pathologie und Behandlung innerer Krankheiten, zu denen münd-
liche Erklärungen gegeben wurden, ein ausführliches Kolleg über
18*
276
Die großen Reformbestrebungen des 16. Jahrhunderts.
..tartarische" Erkrankungen, über Abführkuren und Aderlaß, über
Harn und Puls, über die Aphorismen des Hippokrates und die
Arzneipflanzen des Macer (die letzten vier Vorlesungen während
der Sommerferien) und über Verletzungen und chirurgische Erkran-
kungen. Er führte seine Schüler ans Krankenbett und zu botanischer
Schau hinaus in Flur und Hügel. Nebenher wurden die Bücher
von der Lebensverlängerung ausgearbeitet, zu denen wohl das zweite
Buch des FiCiNO Veranlassung gegeben hatte. Auch die Aus-
arbeitungen über allgemeine Wund- und Geschwürsbehandlung und
über Syphilistherapie begannen schon in Basel und wurden in Kolmar
fortgesetzt, nachdem die von Anfang an unklaren Verhältnisse in
der Universitätsstadt am Oberrhein schließlich zum Bruche ge-
führt hatten.
Keine Schrift konnte in Basel zum Druck gebracht werden (der
Buchhändler Froben, bei dem er hoch in Achtung stand, war plötz-
lich gestorben) und auch in Kolmar, wo er das Werk über allge-
meine Chirurgie im ersten Entwurf, die allgemeine Geschwürsbehand-
lung und seine erste große Syphilisschrift in der Ausarbeitung ab-
schloß, scheiterte der Publikationsversuch. Er gelang erst in Nürnberg
1529, wo ein Streitschriftchen gegen die Guajak-Kuren und die
polemischen drei Bücher
über die fehlerhafte Syphi-
lisbehandlung seiner Tage
und deren Verbesserung
erschienen und sofort in
Köln 1530 nachgedruckt
wurden. Weitere Nürn-
berger Drucklegungen, so
seines großen Werkes über
Ursprung und Herkom-
men der Lustseuche und
eines therapeutischen Leit-
fadens, genannt das Spit-
talbuch, verhinderte das
Einschreiten der Leipziger
Medizinischen Fakultät,
dem der Rat von Nürn-
berg leider Folge gab.
Nach Abschluß der
Werke über die Lues ging
HOHENHEIM an die Aus-
arbeitung programmati-
scher Schriften über die
AtirRjVÄ vioi/i srr * qyi s\/vs esse potest
^/ft/RJEQU ^THEÖPHRASTI ^ MS ^HOHLSli^ t
Abb, 135, Theophrastus von Hohenheim, genannt
Paracelsus, im 45. Lebensjahre.
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
277
allgemeinen Grundlagen der Heilkunst in allgemeiner Naturwissen-
schaft (Physik), Astronomie, Chemie und Ethik (Paragranum), sodann
an die allgemeine Krankheitsätiologie (Paramirum), wobei auch die
Entstehung der tartarischen Erkrankungen, d. h. von Ausscheidungen
und Niederschlägen aus der Säftemasse und anderen Flüssigkeiten
(gichtige, atheromatöse, Konkrement-Bildungen usw.) unter der Ein-
wirkung von Säuren nochmals ausführlich abgehandelt wurden im
großen Zusammenhange anderer ätiologischer Faktoren. Schwere
religionspolitische Wirren in St. Gallen und Appenzell, in welche er mit-
verwickelt wurde, brachten ihn dazu, seine eigenen religiösen Anschau-
ungen in mehrjähriger weltferner Arbeit zu Papier zu bringen. Er
scheint die altvertrauten
Schmelzhütten in Schwatz *^
(Inntal) wieder aufgesucht
zu haben und damals sein
Buch über die krankhaften
Schädigungen im Berg-
und Hüttenbetriebe be-
endigt, desgleichen seine
Anschauungen über die
Pest, die damals in Tirol
ausbrach, aufgezeichnet zu
haben.
Im Jahre 1536 brachte
er die „Große Chirurgie",
die Lehre von den Wund-
infektionen und deren Be-
handlung und die Ge-
schwürsbehandlung in ihre
letzte Form und in Augs-
burg zum Druck; eine
zweite Auflage erschien
schon im folgenden Jahre.
Das Buch hatte also ein-
geschlagen; es sollte sein
letzter Erfolg sein. Donau-
abwärts ging der Weg nach
Wien, wo er früher schon
geweilt. Der Lehre von
den tartarischen Erkrankungen hatte er nach neuen Studien im
Veltlin die letzte Gestalt gegeben und wollte sie nun veröffentlichen.
Die Feindschaft der Wiener Aerzte wußte es zu verhindern, und
HoHEXHEiM kehrte um 1538 in die alte Heimat Kärnten (sein
Cw^ ix>A..n PER.^;CT^>^ A
reo
^
Abb. 13t. HoHENHEiM 1540, ein Jahr vor seinem
Tode gezeichnet, wie auch das erste Bild von
Augustin Hirschvogel.
27 8 Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
„zweites Vaterland" nach der Schweiz) zurück, hielt sich dort nament-
lich in Klagenfurt auf und brachte in den beiden Streitschriften, den
„Defensionen" und dem „Irrgang der Aerzte" zum letzten Male seine
gesamten Anschauungen über die Reform der Heilkunde zum Aus-
druck, ehe ihm nach Fertigstellung der „Astronomia Magna", noch
nicht 48-jährig, zu Salzburg die Feder entsank (24. September 1541).
Gewaltig war der Ansturm gegen die Viersäftelehre gewesen
und gegen die auf diese Schemen gegründete rein schematische
Therapie. Große Erfolge waren dem geborenen Arzte am Kranken-
bette beschieden gewesen und hohe Einsicht in die allgemeinen und
besonders die biologischen Naturzusammenhänge, namentlich in
chemischer Physiologie und Pathologie, wie sie nur dem Genius sich
erschließen, aber auch auf psychischem Gebiete, wo er ewig Be-
wundernswürdiges geleistet hat, so daß man fast zu Charcot
heruntergehen muß, um Aehnliches zu finden. Auch seine Erfassung
des Proteus Syphilis in seiner ganzen Vielgestaltigkeit ist erst im
I9. Jahrhundert wdeder erreicht; der durchschaute Chemismus der
Exsudatbildungen, Konkretionierungen, Verkalkungen und doch
wieder die grundsätzliche Scheidung der eigentlichen Lebensvor-
gänge von den anorganischen Vorgängen in der Retorte usw. er-
weckt heute noch Bewunderung, desgleichen der chemischen Schä-
digung" im Verhüttungsbetrieb usw., ferner seine Erfassung der
Wundinfektionen. In der Verwendung metallischer Arzneimittel hat
er ungeahnte Erfolge durch neue Bereitungsweisen chemischer Natur
aufzuweisen; als erster hat er gelehrt, die wirksamen Bestandteile
aus den Drogen auszuscheiden und in Tinkturen und Extrakten zur
Anwendung zu bringen. Auf eine völlige Umgestaltung der ge-
samten Therapie lief sein Bestreben hinaus, an Stelle der mecha-
nischen Säfteabführung durch Purganzen eine spezifische Krankheits-
behandlung zu setzen, ein Verfahren, daß der große Vereiniger von
Hippokratismus und Paracelsismus, Sydenham, im 17. Jahrhundert
wieder aufnahm. Im Zusammenhang damit muß darauf hingewiesen
werden, daß Hohexheim wohl mit Galen und Avicenna ge-
brochen hat, nicht aber mit Hippokrates selbst. Noch in seiner
letzten Streitschrift 1538 bietet er den hippokratischen Aerzten seinen
Gruß, rechnet sich selbst also zu ihnen. Nur mit dem Wortstreit
der Galenisten hatte er ein für allemal gebrochen. Und darin stand
er nicht ganz allein da: Hippokrates ist ja überhaupt im 16. Jahr-
hundert allmählich zum Bannerträger der auf neuer Beobachtung
sich gründenden Heilkunde geworden; man hatte begonnen, den
Geist der Antike an Stelle des Wortlautes der überlieferten Texte
zu setzen.
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 279
HoHENHEiMs Größtes bleibt das eindringliche, unablässige Hin-
drängen auf die Bahn der Erfahrung, der Naturbeobachtung, des
Experimentes, die er allein als die Grundlage der Xatur- und Heil-
kunde erfaßt hatte und aufstellte, als deren erstes Opfer die Lehre
von den Humores und ihren Komplexionen fiel. Was er in eifrigem
Beobachten, Denken und Experimentieren an Stelle des als morsch
Beseitigten zu setzen suchte, war naturgemäß nichts Endgültiges,
darüber war er sich nach kurzer Zeit stürmender Begeisterung klar.
Da war nur schrittweises Vorgehen und Fortschreiten möglich, dem
sein eindrucksvolles Auftreten erfolgreich die Bahn gebrochen. Be-
scheiden geworden, bricht er in die Worte aus: „Vielleicht grünet,
was jetzt herfürkeimet, mit der Zeit." Auf die Bekehrung der um
ihn lebenden Aerztegeneration rechnete er bald nicht mehr und setzte
seine Hoffnung auf die Xachw-achsenden, auf die Zukunft.
An Schülern hat es ihm bei Lebzeiten nicht gefehlt. Ihm waren
ihrer oft zu viele geworden in jungen Jahren, und bittere Erfahrungen
sind ihm auch bei diesen seinen Jüngern nicht erspart geblieben.
Zuletzt mied er die Menschen, folgte aber doch dem Rufe nach
Salzburg, w'o sich in der Gunst des Bistumsverwesers Ernst von
Bayern sein Geschick erfüllte.
Die Witteisbacher haben auch später seinen Nachlaß gehütet und
die große HuSERsche Sammelausgabe seiner Werke hat ein anderer
Ernst von Bayern, Erzbischof von Köln, kräftig unterstützt. Die Schar
der Aerzte, die sich seinen Lehren anschloß, namentlich in Deutschland
und im Norden, auch in Frankreich, war nicht gering; sind doch
schon literarisch einige Dutzend bis in das 17. Jahrhundert hinein
für ihn aufgetreten, die Zahl der Praktiker, die seiner Heilweise
folgten, war bei weitem größer. Sie haben als latrochemiker auch
der Scheidekunst zu neuen großen Fortschritten verholfen, die H(^HEN-
HEIM selbst in grundlegenden Neuerungen begonnen hatte. Ihre
Namen hier zu nennen, erübrigt sich; wirklich große Aerzte bleiben
damit nicht ungenannt. Es genüge, darauf hinzuweisen, daß bis
zum Jahre 1600 weit über 200 Schriften als die seinen erschienen
sind und daß bis heute über 500 Ausgaben von Werken H<iHEX-
HEIMS gezählt werden können.
Auf den Gesamtfortschritt der Heilkunde war die Wirkung zu-
nächst gering, wie bei der fast völligen Unterdrückung seiner
Schriften und dem schnellen Aufhören seiner Baseler Lehrtätigkeit
nicht anders zu erwarten. Und doch machte der zuerst von ihm
mit voller Klarheit ausgesprochene Gedanke, daß nur Naturbeobach-
tung, Erfahrung und Experiment den Fortschritt der Heilkunde wie
aller Naturwissenschaft verbürge, seinen Weg.
Man hat es ihm im systemfrohen 17. und 18., ja auch noch im
28o Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
19. Jahrhundert vorgeworfen, daß er kein abgerundetes System aus-
gebaut und hinterlassen habe, ja daß erst sein dänischer Schüler
Peder SöRENSEX (1542 — 1602) ein solches aus seinen Lehren zu
bilden vermocht habe. Aber gerade darin spricht sich die Ehrlich-
keit seiner naturwissenschaftlichen Ueberzeugung aus; auch das
19. Jahrhundert hat in der naturwissenschaftlichen Medizin kein
System mehr aufgestellt, sondern Tatsachen und Ergebnisse.
Aber eines darf schließlich nicht vergessen werden, ehe man
den großen Arzt aus Einsiedeln verläßt, darauf hinzuweisen, wie
hoch er den ärztlichen Beruf erfaßt hat, wie es ihm tiefste Herzens-
sache gewesen ist mit der Erfüllung dieser Aufgabe des Arztes.
Als eine der vier Grundsäulen der Medizin hat er die „Virtus", die
Ethik aufgestellt, und immer wieder entquellen seiner erbarmenden
Seele Worte der tiefsten Menschenliebe, die ihm seinen Platz neben
dem großen Koer anweisen, wie er nur wenigen gleich ihm gebührt :
„Ein Arzt darf kein Larvenmann sein, kein altes Weib, kein
Henker, kein Lügner, kein Leichtfertiger, sondern er soll ein
wahrhaftiger Mann sein."
„Wisset, daß ein Kranker Tag und Nacht seinem Arzt soll
eingebildet sein und ihn täglich vor Augen tragen, all' sein
Sinn' und Gedanken in des Kranken Gesundheit stellen mit
wohlbedachter Handlung." Denn „im Herzen wächst der Arzt,
aus Gott geht er, des natürlichen Lichts ist er, der Erfahren-
heit" — „der höchste Grund der Arznei ist die Liebe."
Als HOHENHEIM die Augen schloß, bahnte sich in der Medizin
eben ein gewaltiger Fortschritt an, der zur völligen Reformation der
Anatomie geführt hat und an den Namen des großen Niederländers
Vesalius geknüpft ist.
Noch herrschte unbeschränkt, wie seit den Tagen des MONDINO,
die durch AviCENNA überlieferte Anatomie des Galenos. Und
auch als der große Renaissancekünstler und universelle Forscher,
Beobachter und Denker Leonardo da Vinci daran ging, selbst
das anatomische Messer zu führen, wollte er, wie sein einführender
Lehrmeister Marcantonio della Torre in Pavia (s. oben S. 238),
den Galenos wieder erwecken und dessen Lehre zur Darstellung
bringen. Aber unter der Hand wurde ihm das Material lebendig,
immer selbständiger sein Urteil, seine Zeichnungen zu wirklicher
Wiedergabe des an der Natur Erschauten. Sein physikalisch-tech-
nisches Genie trieb ihn, in die Wirkung der Muskelstränge einzu-
dringen, den Klappenapparat des Herzens zu enträtseln, den hydrau-
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
281
lischen Vorgängen bei der Blutbewegung nachzuspüren. Den Blut-
kreislauf hat er wohl nicht entdeckt, aber die größten Probleme hier
gleichsam mit den zergHedernden Händen und bohrenden Gedanken
gestreift. Den Bau der Gehirnventrikel hat er durch Injektion er-
starrender Massen sich zu veranschaulichen versucht und mancher
Orten anatomische Einzelheiten erkannt, wie an den Muskelbalken
in rechtem Vorhof und Kam-
mer, die erst die zweite Hälfte
des 1 9. Jahrhunderts wieder ge-
sehen hat. So läßt sich sein
über viele Jahrzehnte sich aus-
dehnendes präparierendes Stu-
dium an mehr als 30 Leichen
nur als ernste anatomische For-
scherarbeit richtig werten, bei
der es ihm durchaus nicht nur
um die Erkenntnis der Form
und Gestalt zu künstlerischen
Zwecken, sondern um gleich-
zeitige Erfassung der Funktion
der zergliederten Organe zu tun
war. Die Hunderte von ana-
tomischen Zeichnungen des LEO-
NARDO (1452 — 15 19) sind alle
nur Studienmaterial , gehören
aber zum wichtigsten solchen
aus der Geschichte der Ana-
tomie. Für die Veröffentlichung
hergerichtet ist vielleicht ein
einziges Florentiner Skelettblatt,
aber auch dieses ist im Ver-
borgenen geblieben, wie alle übrigen anatomischen Federzeichnungen
seiner Hand, und damit wirkungslos für den anatomischen Fort-
schritt, Freilich hat Albrecht Dürer ein einziges Blatt Leonardos
zu Gesicht bekommen und kopiert, es ist also nicht völlig aus-
geschlossen, daß auch Andreas Vesalius einmal ein solches Blatt
gesehen hat und daß es in seiner plastischen Phantasie nachgewirkt
hat wie Erinnerungsbilder von Zeichnungen Henris d'Hermonde-
VILLE, an welche Aeußerlichkeiten seiner anatomischen Vollbilder
anzuklingen scheinen , wie auch (weit unwahrscheinlicher noch)
an Skelettbilder des Charles Estienne; beide könnte er 1533
— 36 in Paris gesehen haben. Seinem unvergänglichen Ruhme
als Begründer der modernen Anatomie würde das auch nicht das
Abb. 13;.
Altersbildnis eigener Hand des
Leonardo da Vraci.
2^2
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
leiseste Spürchen nehmen, auch seiner technisch wissenschaftlichen
Leistung nicht.
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-^ytmpt', "^vi't-.rr /it^nr
Abb. 138. Brust und Baucheingeweide einer Schwangeren, gezeichnet von
Leonardo da Vinci.
Aus einer Familie, deren Name dem deutschen Orte Wesel
entnommen war, ist Andreas Vesalius als Sohn eines kaiserlichen
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
28;
Leib- Apothekers 15 15 in Brüssel geboren und in Löwen vorgebildet.
Medizin studierte er 1533 - 1536 in Paris unter dem deutschen huma-
nistischen Arzte Günther von Andernach und dem gleichfalls ge-
lehrten Gräcisten Jacoues Dubois (Sylvius, 1478 — 1555), der unter
großem Zulauf die ganze Medizin lehrte, auch Anatomie und Physio-
logie, in denen beiden ihm Galexos den Gipfel aller Weisheit und
Erkenntnis erreicht
zu haben schien, wie
er ausdrücklich
lehrte. Der gesamte
Lehrkurs der Me-
dizin zog sich über
2 — 3 Jahre hin; das
war also gewiß ein
Fortschritt gegen die
Zeit, als JACQUES
Despars noch 2 1
Jahre lang einen
fortlaufenden Kom-
mentar über ein ein-
ziges Buch des Canon
Avicennae las (1432
— 1453). Aber so
recht konnte in der
Pariser , trotzdem
man den Galenos
immer im Munde
führte, noch reichlich
scholastischen Luft
ein Vesal nicht ge-
deihen. Ueberaus
dürftig waren dort
die dreitägigen ana-
tomischen Demon-
strationen, die ab und
zu für die Bader und Mediziner zusammen abgehalten wurden,
und ein paar gelegentlich von Dubois mit ins Kolleg gebrachte
Hundeorgane, an denen er nicht einmal genügend Bescheid ge-
wußt zu haben scheint, vermochten das für Vesae nur wenig zu
bessern, der schon von früh auf Hunde und Katzen und kleineres
Getier seziert hatte. Auf Kirchhöfen und Richtplätzen wußte er
sich Ersatz zu schaffen und soll schließlich selbst die anatomischen
Sektionen abgehalten haben; dafür durfte er an Günthers ana-
Abb. 139. Andreas Vesalius im 28. Lebensjahre. Nach-
stich des Holzschnittbildes von 1542 in der Fabrica, durch
J. Wandelaar 1725.
284
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
tomischen Institutionen mitarbeiten und gab ein Jahr darauf selbst
das g. Mansurische Buch des Razi in gebessertem Latein heraus
(1537). Noch im selben Jahre, nach kurzem Aufenthalt in Venedig,
siedelte Vesal nach Padua über, promovierte dort und wurde am
Tage darauf, am 6. Dezember 1537, noch nicht ganz 23 Jahre alt,
zum Professor der Chirurgie ernannt und damit auch zum Abhalten
der Schulanatomien bestimmt. Er war zunächst am Ziel.
Und wie hat er die ihm nun gebotene Gelegenheit benutzt!
Noch ist er galenistischer Anatom, wenn er dem großen Meister
auch schon das eine oder andere
Versehen glaubte nachgewiesen
zu haben. Daß Galenos gar keine
Menschenanatomie im strengen
Sinne gelehrt habe, wußte er
noch nicht. Wie unfrei er selbst
im Frühjahr 1538 noch ist, ob-
gleich er wohl damals schon alle
Zeitgenossen an anatomischen
Kenntnissen übertraf, beweisen
die 6 „Tabulae anatomicae", die
er im Anschluß an seine ersten
anatomischen Demonstrationen in
Padua (Widmung von dort
I. April 1538) zu Venedig heraus-
gab, 3 Skelettafeln, 3 Eingeweide-
und Gefäßtafeln. Es ist traditio-
nelle Anatomie (5-lappige Leber!
s. Abb. 140), verbunden mit aut-
optischen Einzelheiten, die Skelett-
bilder, das Beste des Tafehverks,
Abb. 140. Fünf lappige Leber in Vesals ^^^^1 einem von ihm selbst auf-
Tabulae anatomicae von Anfang i=;'^8. , n, -r-. i 01 i j.^
^ gestellten Paduaner Skelett ge-
zeichnet. Im nächsten Jahre
lieferte er für die neue lateinische Galenausgabe der GiUNTA die
Neubearbeitung des lateinischen Textes der damals bekannten
ersten 9 Bücher der anatomischen Encheiresen und der Anatomie
der Venen und Arterien und der Nerven, So nach nochmaliger
eingehender Prüfung des wichtigsten anatomischen Werkes des
Galenos im Original fuhr er in seiner methodischen Durchprüfung'
der gesamten Anatomie des Menschen an der Leiche fort und
leistete in 4 — 5 Jahren fast Uebermenschliches , indem er gleich-
zeitig von verständnisvollem Künstler das gesamte Material zeich-
nerisch fixieren ließ. Er erkannte, daß Galenos Affenanatomie
Die gießen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
wesentlich lehre, und baute selbst zum ersten Male die wirkliche
Menschenanatomie in einem großen Lehrgang auf, den er, reich
illustriert, 1543 zu Basel bei dem zum Buchdrucke übergegangenen
Paracelsusschüler Joh. Oporinus herausgab: „De humani corporis
fabrica libri Septem", abgeschlossen am i. August 1542, und gleich-
zeitig als Ergänzung einen Auszug, die Epitome, beendigt am
13. August. Die Figuren zur Epitome sind später hergestellt als die
der Fabrica und zeigen
daher zum Teil Verbesse-
rungen dieser. Es ist ein
großer Wurf, dieser Bau
des jMenschenkörpers von
Vesal, voll Unmittelbar-
keit und jugendHcher
Frische; eine zweite er-
weiterte Bearbeitung er-
schien in noch pracht-
vollerem Drucke 1555,
sachlicher , gemessener,
ernster , der klassische
Vesalius , der seither
immer zu Rate gezogen
wurde ; doch hat die erste
Ausgabe ihren besonderen
Reiz und ihre Vorzüge,
enthält auch noch viel
Persönliches, während die
zweite die beiden Haupt-
gegner der ersten Auflage
abtut, den kleinlichen
Leonpl\rd Fuchs und
den neidischen und ver-
leumderischen Lehrer des
Vesalius, den boshaften
Sylvius. Aufs schärfste
abgerechnet hatte Ve-
salius mit seinen meisten Gegnern schon 1546 im „Briefe von der
Chynawurzel". Er ist 1544 kaiserlicher Leibarzt geworden, wie viele
seiner Vorfahren.
Auch was Vesalius sonst geleistet hat, ist voller Beachtung
würdig, so die kritische Schärfe in der Untersuchung der Wirkungen
der „radix Chyna", einer Smilacee, Verwandten der Sassaparille, so
die Leichenobduktionen zu pathologischen Zwecken in größerer Zahl,
Abb. 141. Weiblicher Situs aus der „Fabrica" 1543.
286
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
einige Konsilien, seine Ausführung der Empyemoperation usw. Seine
Antwort freilich auf Falloppias ihn ergänzende „Observationes
anatomicae" (1561) leidet unter dem Fehlen der Nachprüfung an
Leichen, die Vesalius in Spanien nicht zur Verfügung standen.
Sein großes und ganz überwiegendes Hauptverdienst bleibt die Be-
gründung der modernen Anatomie, der anatomischen Methodik
durch die „Fabrica". Was er
im einzelnen erforscht hat in
der Anatomie neben der Auf-
klärung über das Wesen und
den Wert der Anatomie des
angebeteten Galenos und
der Aufstellung" ihrer wahren
Abb. 142. Skelett in Seitenansicht aus der
„Epitome" 1543 nur im Sinnspruch abweichend
von dem in der Fabrica.
Abb. 143. Oelbild des Vesalius zu
Amsterdam.
Methodik ist gewaltig an Masse und Bedeutung. Daß auch noch
Fehler mitunterlaufen und nicht Alles definitiv geklärt ist, zeigt
uns die Unvollkommenheit alles Menschentums auch in seinen
höchsten Vertretern. Man muß es beachten, aber nicht überschätzen.
Die Größe des Vesal wird dadurch nicht berührt; seine Methodik
erweist sich um so glänzender, je tiefer man im Studium in sein
Werk eindringt; um so mehr weckt die Systematik seiner Zer-
gliederung unsere Bewunderung, besonders auf den schwierigsten
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
287
Gebieten, wie z. B. der Anatomie des Gehirns. Vesal erst hat die
Anatomie zur Höhe einer Wissenschaft erhoben, und nicht nur Teile
des Menschenkörpers in den Bereich seiner Untersuchung gezogen,
sondern den Bau des ganzen ^Menschen, zu dessen restloser Ent-
hüllung noch mehr als drei weitere Jahrhunderte erfordert wurden
in rastloser Arbeit nach seiner Methodik, auf den von ihm gebahnten
Wegen.
Von denen, die neben ihm und direkt nach ihm Menschen-
anatomie getrieben haben, gehen wir an seinen Verkleinerem, deren
a.\BRRL FALOPIUS
ICELEBtRWMUS MEDICU5 ET .ASTROLOGUSl
IN ATNET. ET PADVA
.-£T S. I.XXIII
'" i "AJ l^- . -■'
Abb. 144. Gabriele Falloppia.
zwei nur wir genannt haben, vorbei. Vesal ist 1564 gestorben,
also kaum 50 Jahre alt geworden, der bedeutende Gabriele Fal-
loppia (1523 — 1562) noch nicht einmal 40. Dieser war zu Modena
geboren und nacheinander Professor in Ferrara, Pisa und Padua;
an letzterer Stelle hat er 1 1 Jahre gewirkt. Von seinen Schriften,
die sich meist mit äußeren Erkrankungen und der Syphilis be-
schäftigten, ist die Luesschrift zwar in wenig vertrauenswürdiger
288 Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
Form überliefert, aber dennoch eine der wertvollsten des i6. Jahr-
hunderts; sie wird aber durch die oben schon, genannte anatomische
Schrift an Bedeutung- noch übertroffen, die nicht seine einzige ist.
Abb. 145. Michael Servet,
Abb. 146. Gehör-
knöchelchen mit
Musculus tensor
tympani nach
EUSTACCHI.
Knochensystem und Knochenentwicklung, Bau des
Hör- und Sehapparates, der weiblichen Geschlechts-
organe haben ihn besonders beschäftigt ; überall sind
ihm wichtige Fortschritte und Entdeckungen zu ver-
danken. Was Michael Servet, der direkt nach
Vesal die gleichen Lehrer wie dieser in Paris ge-
hört hat, bringt in dem berühmten Abschnitt des
Buches „Christianismi restitutio" (1553), wo er den
kleinen Kreislauf zum ersten Male mit Klarheit aus-
spricht, stellt anatomische Kenntnisse zur Schau, die
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
289
teils dem Altertum entlehnt sind, teils dem Vesalius. Realdo
COLOMBO, der hämische Nachfolger des Vesal in Padua, hat in der
Physiologie des Kreislaufs den Servet kopiert, falls er ihn gekannt
Abb. 147. Nerventafel nach EusTACCHi.
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geichichte der Medizin.
19
2go
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
hat; doch ist Servet klarblickender als er, der den Vesal vielfach
grundlos angreift, aber anatomisch doch nicht ganz ohne Verdienst
ist (t 1559). Neben Vesal und Falloppia zweifellos der größte
Anatom des 16. Jahrhunderts ist Bartolomeo Eustacchi (f 1574),
Professor der Anatomie an der
Sapienza in Rom, der den Los-
lösungsprozeß von Galenos noch
einmal an sich selbst durchmachte
und viele von Vesal versehene
Einzelheiten richtigstellte. Seine
Zergliederungen sind mit größter
Sorgfalt durchgeführt und nach der
entvvicklungsgeschichtlichen und
vergleichend -anatomischen Seite
durchgeführt. Siebetreffen nament-
lich die Nieren und deren Bau,
wobei er vieles dem Bellixi schon
vorwegnahm, und die Zähne, sowie
das Gehörorgan, wo sein Name
verewigt ist, und einzelne Teile
des Venensystems. Auch mit treff-
lichen Tafeln ließ er diese Werke
ausstatten. Ein großes Gesamt-
tafelwerk über Anatomie war schon
gestochen, als ihn der Tod ereilte;
es ist erst anderthalb Jahrhunderte
später von Lancisi nach den nach-
gelassenen Tafeln zum Abdruck ge-
bracht worden (i 7 1 4). Auch patho-
logisch-anatomisch hat Eustacchi
bemerkenswerte Beobachtungen
gemacht. — Von bedeutenderen
italienischen Anatomen des 16. Jahr-
hunderts seien noch GiOV. Filippo
Ingrassia (15 10— 1580), GiuLia
Cesare Aranzio (1530 — 1589),
Leonardo Botallo (geb. 1530) und Costanzo Varolio (1543 — 1575)
genannt sowie Fabrici d'Acquapendente (1537— 1619), nicht Ent-
decker, aber eingehender Schilderer und graphischer Darsteller der
Venenklappen, dessen Hauptverdienstauf embryologischemGebieteliegt.
Abb. 148. Eines der Venenklappenbilder des
GiROLAMOs Fabrici d'Acquapendente.
Fragt man sich nun, wie groß war denn dieser Fülle neuen
anatomischen Entdeckungsmaterials, namentlich der Gigantenarbeit
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 291
des Vesal Einfluß auf die fortschrittliche Weiterentwicklung der
Gesamtmedizin, so kann die Antwort nur lauten: betrübend gering!
Nicht einmal auf die von der Anatomie doch so abhängige Chi-
rurgie hat eigentlich die unendliche Erweiterung, ja erst wahrhafte
Begründung der anatomischen Wissenschaft einen irgend entschei-
denden Einfluß ausgeübt. Ist doch in den Tagen der Scholastik
eigentlich die Anatomie der Chirurgie nachgehinkt. Ein direkter,
mächtig fördernder Einfluß auf den medizinischen Gesamtfortschritt
scheint überhaupt nur der Biologie, sowohl der Physiologie als der
Klinik im weitesten Sinne des Wortes beschieden zu sein.
Was das 14. Jahrhundert Italien Chirurgisches gebracht hatte,
waren ausschließlich Kompilationen und Kommentare zu Galexos
und den Arabern. Der chirurgische Elan des 13. Jahrhunderts war
völlig erloschen. Chirurgische Gelehrsamkeit war an den italienischen
Universitäten freilich immer noch daheim, auch im 15. Jahrh., wo
dort auch einige Männer wirklich ausübende Chirurgen, wirkliche Ope-
rateure waren, die auch schriftstellerisch sich betätigten, wie Pietro
d'Argellata (t 1423) in Bologna, der den Guy stark benutzte
und namentlich Resektionen der Knochen mit Vorliebe pflegte, und
Leonardo DA Bertapaglia in Padua (f 1460), der sein chirurgisches
Werk als Kommentar zum entsprechenden Abschnitt des AviCEXXA
verfaßte. Einiges chirurgisches Verständnis spricht sich in Giovannis
d'Arcole Erläuterungen zum 9. Buch des RÄzi an Mansur aus
(t 1458), während GlOVANNi ViGO aus Rapallo (ca. 1460 bis ca. 1520)
ein wirklich ausübender Chirurg und ausschließlich chirurgisch ge-
bildet war, ja als päpstlicher Leibchirurg Karriere machte. Sein
Lehrbuch, vollendet 15 17, hat zwar weiteste Verbreitung gefunden,
verdiente sie aber nur zum kleinsten Teile. Es ist eine simple
Kompilation, der nicht der geringste Fortschritt zu verdanken ist.
Von seinem wackeren Vater Battista da Rapallo, der ein tüch-
tiger Operateur, besonders in der Ausführung des Steinschnittes
erfahren gewesen ist, ging auf den Sohn leider nichts über, von dem
man fast den Eindruck erhält, als sei ihm seine feine Stellung zu
Kopfe gestiegen und er habe sich darum des Schneidehandwerks
geschämt. Von unheilvollstem Einfluß war die durch ihn in Kurs
gekommene Anschauung vom Vergiftetsein der Schußwunden und
daher die barbarische Behandlung mit Brenneisen und siedendem Oel.
Ein aus dem umbrischen Zentrum der Stein- und Bruchschneider
stammender Jacopo da Norcia (f 15 10) genoß in jener Zeit großen
Ruhm, den er mit einem (oder zweien) GlOVANNi DE RoMANis teilt,
19*
2g2
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
wegen einer Methode des Steinschnittes, die ein als ViGO-Schüler
bekannter Mariano Santo da Barletta (1489 bis ca. 1550) in
ApuHen im Jahre 1522 in einem „Libellus aureus de lapide a vesica
per incisionem extrahendo" zu Rom veröffentlichte. Als Mariani-
scher Steinschnitt mit dem „großen Apparat" stellt diese Methode
einen entschiedenen Fortschritt dar. Giovanni de Romanis wirkte
allerdings in Rom neben Mariano, und von ihm soll Mariano die
Methode gelernt haben.
Das von GiOVANNi ViGO eingeführte Ausbrennen der Schuß-
wunden wurde von seinem Nachfolger in Rom, dem Süditaliener
Alfonso Ferri (ca. 1500 — 1560) unter-
strichen ; dessen Kugelpinzette (Alphon-
sinum) und Behandlung der Harnröhren-
strikturen mit Sonden fanden Verbreitungf.
Abb. 149. ,,Alphonsinum",
Kugelpinzette des A. Ferri,
1552.
Abb. 150. Eine Löffelzange zur Kugel-
entfernung nach Maggi.
Bartolommeo Maggi (15 16— 1552) erklärte die Schußwunden für
einfache unvergiftete Quetschwunden und behandelte nachweislich
schon 1544 nach diesen Grundsätzen, machte sie aber erst 1552 bekannt.
Der als Anatom schon genannte Leonardo Botallo trat in seiner
wertvollen Schrift über Schußwunden (vulnera sclopetorum) auf Maggis
Seite (1560). Die erste Erwähnung der Schußwunden finden sich bei
deutschen Wundärzten seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts, deren
keiner die greuliche Methode des Ausbrennens mitgemacht zu haben
scheint. Alle, soweit wir sie kennen, sind für milde Behandlungs-
weise (Johann von Beris, Heinrich von Pfalzpeunt, Hiero-
NYMUS Brunschwig, Hans VON Gersdorf). Dagegen ist man in
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
293
Frankreich der italienischen ]Methode des Ausbrennens gefolgt, bis
eines der größten wundärztlichen Genies aller Zeiten aus einer zu-
fällig gemachten Beobachtung hellsehend die richtigen Schlüsse zog
und dem Hexensabbath ein Ende machte. Auch Paracelsus hatte
von Ausbrennen der Schußwunden nichts wissen wollen; sein
Drängen auf prima intentio und einfaches Reinhalten aller Wunden
unter Beiseitehalten aller Wundinfektionen mutet wie ein Voraus-
ahnen LiSTERscher Erkenntnisse an. Als wirklicher Chirurg kann
HOHEXHEIM nicht bezeichnet werden, wohl aber der in seinen An-
schauungen über Wundbehandlung an ihn sich anlehnende wackere
Zürcher Felix Wirtz (15 10 bis ca. 1580), der bedeutendste Wundarzt
deutscher Zunge in jener Zeit,
der sich allerdings auf die höhere
operative Chirurgie, nach seinem
Buche (1563) zu schließen, nicht
eingelassen hat. Geborne Chirur-
gen von Gottes Gnaden waren
die beiden großen Franzosen
Pierre Fraxco und Ambroise
Pare.
Der Proven(;ale Pierre
Franco (ca. 1505 bis ca. 1570),
von Haus aus wandernder Bruch-
schneider, wirkte und lehrte min-
destens 10 Jahrelang in Lausanne
und Bern, später in Orange.
Wir besitzen von ihm einen
,, Petit traite" von 1556 und eine
ausführliche , gelehrtere Dar-
stellung von 1561, in denen er
sich als erfahrenen Operateur
des Bruchschnittes erweist, mit
oder ohne Kastration, auch bei inkarzerierter Hernie, bei Steinschnitt
mit kleiner und großer Gerätschaft und bedeutenden Erfolgen unter
Verbesserung der alten Steinschnittmethoden und ihres Instrumen-
tariums, sowie der Erfindung des hohen Steinschnittes. Den Starstich
hat er mit Vorliebe ausgeführt und rühmt sich, bei 200 Operationen
mindestens 90 Proz. Erfolge verzeichnen zu können. Bei seinen
Operationen übt er die Blutstillung nur mit dem Brenneisen, dagegen
sind seine plastischen Operationen bei Hasenscharten, (raumenspalten
und Wangen defekten meisterhaft. Was Franco mit Ernst in die
Hand nahm, das brachte er um ein tüchtig Stück vorwärts. Seiner
33- jährigen Erfahrung wußte er scharfblickend den vollen Wert zu
Abb. 151. Spekulum zur Steinausziehung aus
der weibl. Harnblase und Stamadeln des
Pierre Franco.
294
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
entnehmen ; auf sie allein stützte er sich. Dagegen knüpfte Gaspare
Tagliacozzo zu Bologna (1546 — 1599) mit seinen plastischen Ope-
rationen, namentlich des Nasenersatzes aus der Armhaut an uralte
Techniken an, die sich am Golf von Santa Eufemia in Kalabrien in
Familientradition erhalten hatten und in der Familie Branca nach-
weislich seit dem 14. Jahrhundert geübt wurden, später von den
Vianei und Bojani. TAGLIACOZZO hat das Verdienst, diese Ver-
fahren zum ersten Male wissenschaftlich dargestellt und beleuchtet
zu haben in seinen mehrfach aufgelegten „De curtorum chirurgia
per insitionem libri duo" (zuerst
Venedig 1597). Seine eigene
plastisch - chirurgische Erfah-
rung war offenbar nicht allzu
groß, sein Erfolg und dessen
Nachwirkung- bescheiden.
AmbroisePare, einer der
größten Chirurgen aller Zeiten,
ist aus dem Stande der Barbiere
hervorgegangen. Geboren 1510
in Bourg - Hersent (dicht bei
Laval in der gleichnamigen
Grafschaft zwischen der Nor-
mandie und der Loire, durch-
strömt von der Mayenne, ge-
legen), kam er frühe nach Paris,
wo er schon zeitig als Barbier-
Chirurg im Hotel -Dieu tätig
sein konnte. Ob er von dem
Unterricht der Aerzte der Fa-
kultät, wie er den Barbieren
im Gegensatz zu den Chirurgen
zuteil wurde, wirklichen Vor-
teil zog, steht dahin. Er hatte damit bis zu gewissem Grade wenigstens
in der Anatomie den gleichen Pariser Unterricht genossen wie Vesal,
auch den des Jaques Dubois, der Pare später zu seinem Dissektor
bei den anatomischen Demonstrationen machte. Er machte einen Feld-
zug Franz I. mit großem Vorteil für seine Weiterbildung als Barbier-
Chirurg mit. Aber auch in den folgenden Jahren war Pare viel-
fach als Feldscher in Kriegszügen tätig und auch sonst unterwegs.
1552 wurde er zum „Chirurgien du roy" ernannt und 1554, trotz
des Widerspruchs der medizinischen Fakultät, ehrenvoll und kosten-
frei in das Chirurgen-Kollegium (College de St. Come) aufgenommen ;
Abb. 152. Verband mit Kapuze beim Xasen-
ersatz aus der Armliaut nach Tagliacozzo.
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
295
so hoch war sein Ansehen als Wundarzt schon gestiegen. Später
zum ersten Chirurgen und Kammerdiener des Königs Karl IX.
berufen, begleitete er diesen auf seinen Reisen, wurde aber gleich-
zeitig Oberwundarzt am Hotel-Dieu, hatte also die höchsten chirur-
gischen Ehren in Frankreich erreicht. Er starb 70-jährig zu Ende des
Jahres 1590. Die Leistung seines langen Lebens ist enorm. Unsterblich
ist Pare geworden durch seine Erkenntnis von der Giftfreiheit
der Schußwunden
und der Verkehrt-
heit der italieni-
schen Behandlung
derselben mit sie-
dendem Oel. Diese
aus eigener Beob-
achtung gewon-
nenen Erfahrungen
hat Pare in seiner
Erstlingsschrift von
1545 niedergelegt,
in der er erzählt,
daß ihm nach einer
verlustreichen
Schlacht das Oel
ausgegangen sei
und er sich dadurch
gezwungen sah, bei
einem Teile der
Schußverletzten
das Ausbrennen
der Schußkanäle
zu unterlassen, die
er dann am an-
deren Tage in weit
besserem Zustande antraf als die ausgebrannten. Eine anatomische
Handleitung mit einem Anhang über Einrenkungen und ge-
burtshilfliche Hilfsleistungen kam 1550 heraus, 1561 [ein Buch über
Behandlung der Wunden und Schädelbrüche, 1,564 und namentlich
1572 zwei größere chirurgische Werke, die hauptsächlich seinen Ruf
als großer Chirurg begründeten, der doch immer bescheiden blieb,
wie schon sein Leitspruch kennzeichnet: „Je le pansay et Dieu le
guarist, — ich verband ihn, Gott heilte ihn." Anfangs unbeholfen
im Stil, später gewandter, ist er ein Held der P'eder niemals ge-
worden. Die Wissenschaft, die ihm in seiner Ausbildung abging.
Abb. 153. Ambroise PARjfe, nach Oelbild.
296 Die großen Reformbestrebungen des 16. Jahrhunderts.
suchte er später durch Dargabe großer Beträge aus seinem reich-
gewordenen Besitze für Illustrationen, Sammlungen und Ankauf von
Geheimmitteln zu unterstützen. Klar erkannte PARlfe seine reformato-
rische Aufgabe; er hat aber keineswegs sämtliche Gebiete der Chi-
rurgie gleichmäßig in die Hand genommen, z. B. den Steinschnitt
überhaupt nicht ausgeführt und literarisch darin ganz dem Franco
sich angeschlossen. Neben der Schußwundenbehandlung ist die der
Kopf- und Brustverletzungen besonders glänzend; Schenkelhals-
fraktur hat er zum ersten Male diagnostiziert. In seinen Ersatz-
und Korrektionsmaßnahmen feierte seine Technik Triumphe. Seine
größte operative Leistung war aber die Verbesserung der Amputations-
technik, in der die mittelalterlichen Chirurgen einen Fortschritt nicht
zu verzeichnen hatten. Dabei ist besonders wichtig die Einführung
der Unterbindung der großen Gefäße statt blutstillender Arzneistoffe
und des Brenneisens, das Pare vor 1552 selbst noch ausschließlich
angewandt hatte.
Daneben ist von hervorragender Bedeutung die durch ihn an-
gebahnte Vervollkommnung der Geburtshilfe.
Auch auf diesem Gebiete war zwar das Mittelalter nicht völlig
steril, aber die Fortschritte, selbst über die Araber hinaus, sind doch
nur sehr gering. Man knüpfte stellenweise zunächst an die besten
Ueberlieferungen des Altertums an. Das Buch „Trotula" empfiehlt
seit SORANOS zum ersten Male wieder (nach iioo) den Dammschutz,
kennt den kompletten Dammriß und verlangt seine Naht, ViNCENZ
von Beauvais spricht sogar (nach einer noch nicht aufgefundenen
Quelle) von der Wendung auf dem Kopf durch inneren Handgriff,
Arnald, der Katalane, erklärt die vollkommene Fußlage für natur-
gemäß und verlangt die Aenderung jeder anderen Lage in Kopf-
oder Fußlage (wie Aetios), Guy von Chauliac will den Mutter-
mund Instrumenten auseinanderschrauben und verlangt Extraktion
mit Haken und Zange nach dem Vorgange der Araber, auch spricht
er vom Kaiserschnitt an der Toten, wie auch schon Bernhard
GORDOX, und gibt eine Schnittführung an. Franz von Piemont,
der um 1300 in Neapel und weiterhin in Süditalien wirkte, ist
weniger in seinen Angaben über Lagenverbesserung und Extraktion
als in seiner Wochenbettsdiätetik musterhaft. Antonio Benivieni
will auch auf die Füße wenden durch innere Handgriffe und setzt
bei Schieflage einen Haken in die Wirbelsäule, um nach Art der
Selbstentwicklung zu extrahieren; GlOV. Michele Savonarola
hat sogar offenbar eine Vorstellung von der Geburtsbehinderung
durch ein enges Becken.
Im allgemeinen ist die Geburtshilfe noch ausschließlich in den
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 2
97
Abb. 154a — f. Fußlage in den Handschriftenbildem vom 9. bis ins 15. Jahrhundert
(nach dem Hebammenkatechismus des MusTio), herab bis zu Rösslin 1513. Bild b, heute
im Vatikan, war 15 13 noch in Heidelberg.
298 Die großen Reformbestrebungen des 16. Jahrhunderts.
Händen der Hebammen, aber hier gerade hat das ausgehende Mittel-
alter andeutungsweise schon im 14. und deutlich fixierbar im 15. Jahr-
hundert durch Hebammenordnungen deutscher Städte (1452 Regens-
burg) einen wirklichen Fortschritt inauguriert; der Rat der Städte
zeigt sich stellenweise auch schon um den Unterricht der Hebammen
durch die Stadtärzte besorgt. Das erste Hebammenlehrbuch nach den
Zeiten des SORAXOS und MuSTiO gibt ein deutscher Arzt zu Worms
1 5 1 3 heraus, Eucharius R.ÖSSLIN, betitelt : „Der Swangern Frawen und
Hebammen Roßgarten", in Hagenau bei Gran. Das Büchlein lehnt
sich stark an den Hebammenkatechismus des MusTiO an, nicht nur
textlich, sondern auch in dem Bildwerk, das in den Handschriften
aus den Zeiten der Antike mit 16 Kindslagenbildern ausgestattet
war, wie sie vielleicht schon SORANOS für den Lehrzweck hatte
zeichnen lassen (Abb. 154). In Deutschland hatte dieser „Rosen-
garten", der der einschlägigen Literatur aller Länder zuvorkam, so-
gar noch einen Vorläufer, der schon um 1500 oder ganz kurz vor-
her erschienen war und in Anlehnung an den legendären „Ortolff
von Bayerland" einen „Ortolffus Doctor der ertzney" als Autor nennt
in einem „biechlin . . . wie sich die schwangern frawen halten
Süllen vor der gepurd, in der gepurd und nach der gepurd" (7 Bl.).
Etwas Neues und Eigenes bringt auch der etwas spätere „Rosen-
garten" nicht, wohl aber vermittelt er das bescheidene Wissen der
Aerzte des Mittelalters in leichtverständlicher Form in weiteste
Kreise, vor allem der Hebammen selbst ; sein Büchlein hat zweifellos
Segen gestiftet, ist sehr vielfach gedruckt, für die Aerzte aller Länder
in der lateinischen, für Hebammen und Chirurgen aller Länder in
deren Landessprachen übersetzt und bis in das 17. Jahrhundert immer
wieder neu aufgelegt worden.
Wichtig war es vor allem weiter für die fernere Entwicklung
der Geburtshilfe, daß sie in die Hände der Chirurgen kam. Mit
Ehren ist da zuerst ein Steinschneider in Zürich zu nennen, Jakob
RUEFF, der 1554 seine „Schön lustig Trostbüchle von den empfengk-
nussen und geburten der menschen" hinausgehen ließ. Er spricht
sich bedingt für den Austritt in Fußlage aus, erwähnt die Arm-
lösung nicht, empfiehlt aber, einen Druck auf den nachfolgenden
Kopf von außen auszuüben. Zur Extraktion des toten Kindes gibt
er den gezähnten Entenschnabel und andere Zangen nach dem Vor-
bilde der Araber an. Anatomisches entnimmt er für die weiblichen
Genitalien dem Vesal, beachtet das knöcherne Becken aber nicht.
Bei Pare ist bahnbrechend die Lehre von der Wendung auf
die Füße mit nachfolgender Extraktion in allen Fällen außer bei
vollkommener Kopflage. Die Wendung auf den Kopf nennt P.
gar nicht mehr, und das ist das Grundstürzende gegenüber 2000-
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 299
jähriger Lehre. Auch als Büttel der Geburtsbeschleunigung hat er
die Wendung auf die Füße verwendet, z. B. bei Placenta praevia,
die P. zum ersten Male erwähnt, wie er auch zum ersten Male die
Kindsbewegungen als Mittel zur Erkennung des Lebens des Kindes
hervorhebt. Den Kaiserschnitt an der Toten beschreibt er, während
er von dem an der Lebenden abrät, den sein bedeutender Schüler
Jacques Guillemeau (i 550 — 1 609) in seiner Gegenwart mit schlimmem
Abb. 155. Geburt auf dem Stuhl. Titelbild des Rcefk 1354.
Ausgang ausgeführt, wie denn auch noch drei andere Kaiser-
schnitte durch Pariser Chirurgen damals tödlich ausgingen. Guil-
lemeau erweitert noch die Indikationen der Wendung mit nach-
folgender Extraktion an beiden Füßen, verlangt die Drehung der
Frucht, so daß der Rücken nach vom sieht, kannte schon die Ge-
sichtslage und die Gebärmutterzerreißung bei der Wendung, sowie
die Placentaretention durch Striktur des Orificium uteri. Pare
und Guillemeau haben auch schon das accouchement force
300
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts.
ausgeführt. Den Kaiserschnitt an der Lebenden, -den 1500 der
Schweizer Schweineschneider Jakob Nufer an der eigenen Frau
mit Erfolg ausführte und neben anderen unsicheren Fällen im
16. Jahrhundert auch Marcello Donato mit Fug zu berichten
scheint, hat gegen Pare der Pariser Fran(;:ois Rousset 1581 mit
Nachdruck verteidigt und 1595 Scipione Mercurio nach Angaben
seines Lehrers Aranzio wegen engen Beckens auszuführen vor-
geschrieben. Mercurio empfiehlt in seiner in manchem recht rück-
ständigen Schrift „La Comare" (die Hebamme) bei fetten Frauen
eine Art Hängelage, wie auch schon Avicenna.
Abb. 156. Mercurio, Lagerung fetter Frauen zur Geburt; '1595.
Es läßt sich nicht leugnen, auch in der Geburtshilfe sind die
Tage des Fortschreitens angebrochen. Wissenschaft und chirurgische
Erfahrung vereinigen sich, sie auf die Bahn des Erfolges zu führen,
geleitet vom Geiste eigener unbefangener Beobachtung.
Für die Augenheilkunde gilt ein Gleiches noch nicht in dieser
Zeitspanne. Selbst Vesalius ist in der Anatomie des Auges über
Galenos kaum hinausgekommen, und was die Physiologie des
Auges und die Optik angeht, so hat erst Johannes Kepler hier
einen wirklichen Fortschritt gebracht, wie Harvey auf anderen Ge-
bieten und etwa gleichzeitig mit ihm; das kommt also hier noch
nicht in Frage. Auch Pare bedeutet hier kaum ein beachtliches
Die großen Reformbestrebungen des i6. Jahrhunderts. 301
Weiterschreiten, während allerdings Pierre Franco, wie schon an-
gedeutet, der erste große Staroperateur seit den Arabern gewesen
ist. GuiLLEMEAUs Abriß der Augenkrankheiten bringt 1585 noch
keinen eigenen Leistungen, ist aber die einzige zusammenfassende
Darstellung bis zur Wiedergeburt der Augenheilkunde, die einiger-
maßen brauchbar genannt werden kann. Georg Bartischs von
Königsbrück bei Dresden „Augendienst", dem kleine deutsche Trak-
tätchen über Augenleiden vorausgingen, ist die Arbeit eines wackeren
Wundarztes voll redlichen Strebens, guter Beobachtungsgabe und
unleugbaren Geschicks, der uns in jeder Beziehung Respekt einflößt,
ohne daß man ihm, trotzdem ihm ein gesunder Wagemut nicht ab-
zusprechen ist — er hat die erste Exstirpatio bulbi ausgeführt —
den Namen eines Erneuerers der Augenheilkunde oder eines Re-
formators zusprechen könnte.
Abschluß und Ausblick.
HOHENHEIM hatte immer auf Hippokrates als den Einzigen
hingewiesen, der noch Bestand habe, während alle anderen ver-
schwinden müssen; man habe den großen Koer nur nicht richtig
verstanden. Noch in einer seiner allerletzten Schriften bietet er ein-
führend den hippokratischen Aerzten seinen Gruß. Das war aber
keineswegs etwa eine vereinzelte Erscheinung, im Gegenteil. Auch
anderen wurde die Parteinahme für Hippokrates zum Banner des
Fortschrittes auf dem Wege methodischer Induktion, zur Ueber-
windung auch des humanistischen Neugalenismus, der die Medizin
in neue verhängnisvolle Fesseln zu schlagen drohte, trotzdem seine
Ueberwindung schon angebahnt war.
Bei der um die Mitte des i6. Jahrhunderts einsetzenden Ab-
lehnung der z. B. von Lorenz Fries (f 153 1) und der Masse der
Praktiker noch mit viel Ernst betriebenen Uroskopie war die Beob-
achtung von starkem Einfluß, daß in den Hippokratischen Schriften
von deren hervorstechender Wichtigkeit nichts zu finden sei. Besonders
deutsche Aerzte, wie Bruno Seidel, Wilh. Ad. Scribonius, Joh.
Lange, Siegmund Kölreuter, der Niederländer Piter Foreest,
taten sich hierin hervor, auch der Italiener L. Botallo. In der
Pulslehre begann man an den Dogmen des Galenos zu zweifeln,
wie die Briefe Andreas Dudiths dartun, die auch gegen die Harn-
schau sich wenden.
Andere Galenische Lehren bekämpfen in Italien Girolamo
Cardano (1501 — 1576), der Platoniker Bernardino Telesio (1508
bis 1588), Giovanni Argenterio {15 13 — 1572), in Frankreich die
beiden hervorragenden Aerzte Laurent Joubert (1529 — 1583) und
Jean Fernel (1485 — 1558). Joubert wendete sich besonders gegen
die Lehre von der Säftefäulnis als Fieberursache, Fernel nimmt
Solidarpathologisches und Dynamistisches in sein System auf, leitet
die Organtätigkeit von Bau ihrer morphologischen Elemente ab, die
von der Wärme belebt werden, deren Träger die Spiritus sind usw.
Auch um Aristoteles und Plato ging ja immer noch der Streit,
und es waren noch immer gerade, die den Aristoteles größten-
teils ablehnten, auch die Träger des Fortschrittes und seine Wege-
Abschluß und Ausblick.
303
bereiter in Naturwissenschaft und Medizin, so der Spanier Luis
ViVES (1492 — 1540) und der Franzose Pierre de la Ramee
(Petrus Ramus, 15 15 — 1572), der so warm auch für Hohexheim
eingetreten ist. Ramus forderte 1562 feierlich die endliche Befreiung
des medizinischen Unterrichtes von den Fesseln der Scholastik, beide
verlangten neue Methoden der Forschung und erkannten die Not-
wendigkeit klinischer Unterweisung der jungen Aerzte.
Und von besonderer Bedeutung wurde denn auch die klinische
Richtung im Unterricht, die sich besonders an den Namen des A''ero-
nesen Giov. Battista da Monte (1498 — 155 1) knüpft, der sowohl
eine „Idea doctrinae Hippocraticae" verfaßte, als auch bei einer großen
Abb. 157. Giovanni Battista da Monte (Montanus).
Galen-Ausgabe zu Venedig mitarbeitete und einen Teilkommentar
zum Kanon des Avicenna schrieb, namentlich aber in seinen
posthumen Konsilien („Consultationes", 1556) auf die Nachwelt ge-
kommen ist. Bahnbrechend wurde sein methodischer Ausbau des
Unterrichts am Krankenbette im Hospital San Francesco zu Padua, zu
dem die Hörer von weither herbeiströmten. Im Aderlaßstreit hat er mit
Vesal auf der Seite des Hippokrates gegen die Araber gestanden.
Der mit dem Tode da Montes wieder eingeschlafene klinische Un-
terricht wurde zu Padua 1578 durch M. DEGLI Oddi und A. BoTTONi
je in einen Weiber- und Männersaal auf Betreiben der „Natio ger-
manica" unter den Studenten wieder aufgenommen; vorher schon
war zu Ingolstadt (1562) der Vertreter der Medicina practica zur
304 Abschluß und Ausblick.
Unterweisung am Krankenbette verpflichtet worden. In Padua ent-
artete die klinische Lehre leider bald zu einer „Schola de pulsibus
et urinis". Niederländische Schüler von BüTTONi und DEGLI Oddi,
die Ewald Schrevelius (1575 — 1646) und Jean van Heurne
{1543 — 1601), samt dessen Sohne Otto (1577—1622), von hippo-
kratischem Geiste genährt, überpflanzten in ewig denkwürdiger Weise
den Paduaner klinischen Unterricht an die Leidener Universität ins
„St. Caecilia Gasthuis". In Leiden sollte er später für lange Zeit
durch BOERHAAVE seine hervorragendste Pflegestätte finden.
Die klinische Kasuistik fand zum Teil auch noch in dieser Zeit-
spanne in Konsilien oder Consultationes ihren Niederschlag, wie wir
sie gerade bei MoNTANUS erwähnt haben, vielfach auch in „Epistolae
medicae" und „Enarrationes", oder aber in genauerer Inhaltskenn-
zeichnung als „Observation es medicinales" bezeichnet, ihre Veröffent-
lichung, wenn man nicht einfach von „Curationes" sprach, gleich
den anspruchslosen „Curae" salernitanischer Zeit. Außer den schon
Genannten seien einige der bedeutenderen hier noch angeführt :
DA MoNTEs Nachfolger Trincaa^ella (f 1568) in Padua, Aless.
Massari A (f 1598) in Vicenza, Lodovico Settala (f 1632), die
Spanier Francisco Lopez, Andr. de Laguna (f 1560), Franc.
Valles, die Niederländer Rembert Dodoens, Josse van Lomm,
besonders Piter Foreest, in Deutschland der hervorragende Johann
Crato von Krafftheim (15 19 — 1586), JOH. Schenck von Grafen-
berg (1530— 1598) und Thomas Jordanus (1540- 1585), sowie der
Schweizer Felix Platter, der namentlich auch Geisteskrank-
heiten beobachtete und in milder psychischer Therapie zu bessern
suchte.
Wie zäh auch die vorwärtsstrebende Forschung des ausgehenden
16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts doch noch an den über-
lieferten Formen festhielt, ja wie man neben dem noch weithin
herrschenden Galenismus selbst, zum Teil noch an dem Scholastizis-
mus des Avicenna hing, dafür kann ein Mann dienen, den man
wohl als den Vorläufer der physikalischen Richtung des 17. Jahr-
hunderts in der Medizin mit vielem Recht bezeichnet hat, Sanotrio
Santoro (1561- 1636). Sein Name ist weltbekannt geworden durch
seine Antrittsrede zur ersten medizinischen Professur in Padua 1612,
in der er auf Grund jahrzehntelanger Wägungen seiner Speisen und
Getränke und der Exkremente die erste Stoffwechselschätzung beim
Menschen aufstellte und die Größe der unmerklichen Ausscheidung
durch Haut und Lungen zu bestimmen versuchte. Diese Abhandlung
ist unzählige Male gedruckt worden. Die wichtigsten seiner weiteren
Untersuchungen, z, B. über die Körpertemperatur mittelst eines
Thermoskops (vor Galilei), das man fast Thermometer nennen
Abschluß und Ausblick,
305
kann, eines Pulsilogiums zur Pulsmessung, von Instrumenten zur
Steinentfernung aus der Blase, zur Paracentese usw., teilte er wie
die Autoren des 14. und 15. Jahrhunderts in „Commentariis in Artem
medicinalem Galeni" (161 2) und namentlich „. . . in primum fasciculum
Libri I Canonis Avicennae" (1626} der gelehrten Welt mit. So fest
saß noch das scholastische Gewand! —
Abb. 158. Francis Bacon.
Das ist ein besonders vorgeschrittenes Beispiel aus dem Anfang
eines' neuen Jahrhunderts, aber auch im 16. waren schon überall
schließlich Beobachtung und Forschung am Werke, obschon die
Ergebnisse besonders in der inneren Medizin gering sind. Wenn
man auch z, B. in pathologisch-anatomischen Untersuchungen dem
Sitz und dem Wesen der Erkrankungen näher zu kommen trachtete,
sind die eigentlichen zusammenfassenden Erfolge doch erst späteren
Zeitspannen vorbehalten geblieben.
Aber man war doch bereits in beachtenswerten Kreisen und in
Mejrer-Steineg u. Sudholf, Illustr. Geschichte der Medixin. 20
7o6 Abschluß und Ausblick,
nicht geringem Maße dazu übergegangen, sowohl nach gesunden
Hippokratischen Grundsätzen die Heilkunst zu pflegen, das über-
lieferte Wissensmaterial auf allen Gebieten der praktischen Medizin
neu zu prüfen und da und dort dem überkommenen Bau neue Steine
einzufügen. Das zeigen uns besonders eindringlich die auf uns ge-
kommenen Briefwechsel hervorragender Aerzte, z, B. eines KoNRAD
Gesner, eines Crato und ihrer Freunde, und doch war das Rüst-
zeug der induktiven Forschung noch zu wenig ausgebildet, zuge-
richtet und geschliffen, um für jeden fleißigen Mitarbeiter am ge-
waltigen Werke einer Neubegründung der heilkundigen Erfahrungs-
wissenschaft jederzeit bequem greifbar bereit zu sein, auch für
die, denen das Geschick nicht die intuitive Sicherheit der großen
Bahnbrecher in die Wiege gelegt hatte, auch die technischen und
logischen Wege und Mittel mit untrüglichem Blicke zu greifen,
die den Erfolg ihnen verbürgten. Die induktive Methode lag in
der Luft; sie klarzulegen und jedermann zugänglich zu machen, be-
durfte es eines Lehrmeisters. Der fand sich in FRANCIS "Bacon
von Verulam.
Kurze Zeit Lord-Großkanzler von England, hat Bacon (1561
bis 1626) in „De dignitate et augmentis scientiarum" (seit 1605)
und dem „Novum Organum scientiarum" (1620), das im Titel
noch in der Weise der Renaissance gegen Aristoteles Stellung
nimmt, es unternommen, eine „Instauratio magna" aller Wissen-
schaften , besonders der Naturwissenschaften , auf der Basis der
Erfahrung zu schaffen in voller Ungebundenheit und Freiheit, eine
neue wissenschaftliche Methode aufzustellen, die der bewußten In-
duktion.
Die Grundzüge der induktiven Forschung wurden zum philo-
sophischen Prinzip erhoben mit dem Ziel der Erweiterung der Macht
des Menschen über die Natur durch die Waffen des Wissens, die
zugleich zu neuen fruchtbaren Erfindungen führen sollte, wie zur
Beseitigung aller Vorurteile, alles Aberglaubens und aller Autoritäten-
knechtschaft. Die Erklärung der Natur und ihrer Gesetze sollte
dadurch erreicht werden, daß man die Naturdinge selbst experi-
mentell zum Reden bringt, nicht mit verstandesgemäßer Ableitung
ihnen Normen aufzwingt. Vor allem ist es die Physik, auf die sich
Bacons Erfahrungsphilosophie stützt ; mit ihrer Hilfe sucht er schließ-
lich die ganze Natur scholastisch zu meistern. Für das Biologische
fehlt ihm fast völlig der Sinn. Aber auch im Physikalischen ist er
nirgends eigentlicher Bahnbrecher und Selbstfinder, sondern ordnender
Sammler der Angaben anderer. Schließlich ist ihm die methodo-
logische Bearbeitung alles. Aber daran gerade fehlte es ja in der Natur-
Abschluß und Ausblick.
307
Wissenschaft seiner Tage noch vielfach, auch in der Medizin, für die
er beachtenswerte Normen aufstellt, deren Neuheit allerdings gering
ist , geringer jedenfalls als ihre Brauchbarkeit für die Masse der
treuen Arbeiter im Acker der Wissenschaft. Die Medizin stecke,
so lehrt Bacox, eigentlich noch in ihren Anfängen. Von ihren
Aufgaben: Gesunderhaltung, Krankenheilung und Lebensverlängerung
habe sie die letzte kaum schon in Angriff genommen; ihr widmet
Bacox ein besonderes Buch, in dem auch Hohexheim gewürdigt
wird. Nach dem Vorbilde des Hippokrates sind klinische Tat-
sachen zu sammeln, sorgfältigste Krankengeschichte unter genauer
Beobachtung aller Begleitumstände anzulegen; die anatomische
Forschung ist aufs feinste auszubauen, auch nach der vergleichend-
und pathologisch-anatomischen Richtung, die PhN'siologie durch das
Tierexperiment vivisektorisch zu fördern. Die Einseitigkeit der
Humoralpathologie ist zu meiden. Unheilbarkeit eines Leidens werde
viel zu voreihg geschlossen; ein wohlüberlegter Heilplan müsse den
Arzt in der Praxis leiten. Alle Arzneimittel seien methodisch zu
prüfen, spezifische Heilstoffe ru suchen und eine kausale Therapie
anzustreben, daneben der schönen Aufgabe des Arztes, der Schmerz-
linderung, ihr volles Recht zu geben, selbst das Sterben zu erleichtern.
Den Wert der Chemie für alle diese Zwecke durchschaute Bacox
vollkommen ; so sieht er die künstliche Darstellung der Mineralwässer
mit ihrer Hilfe voraus. Auch über Nahrungsdiätetik einschließlich
ihrer quantitativen Gesichtspunkte, über die Notwendigkeit von
Körperübungen für die Gesunderhaltung handelt er mit klarem
Blick.
Mit Treffsicherheit ist dies alles erschaut und wirkt so, kurz
zusammengefaßt, wie ein Programm medizinischen Fortschrittes, war
auch so gemeint. Doch muß man sich vor Ueberschätzupg hüten.
Das Wesentliche lag schon im Zuge der Zeit und war von großen
Geistern schon ein Jahrhundert vorher aufgestellt worden — „Ex-
perimenta ac ratio". Beobachtung, Versuch und rationelle Verwertung,
die hatte schon Hohexheim, die hatten Vives und de la Ramee
gefordert, die hatte Fraxcesco Saxchez (1562 — 1623) noch kurz
vor Bacon als Wegweisung aufgerichtet und neben Bacon der
Deutsche Joachim Juxgius {1587— 1657) verlangt und schon in die
Tat umzusetzen sich bestrebt. Aber keiner, und das muß auch
gesagt werden, hatte das mit solcher Gründlichkeit und Energie
entwickelt wie eben Bacox.
Seine philosophische Festlegung drückt das Siegel auf eine
Entwicklung, die sich allmählich, wenn auch nicht ohne Schwanken
seit dem 13. Jahrhundert, mit Klarheit seit dem Ausgang des
15. Jahrhunderts angebahnt hatte. Nun war es zur endgültigen
20*
3o8 Abschluß und Ausblick.
Auswirkung gekommen, was ein Roger Bacox, ein Arnald, ein
Leonardo, ein Hohenheim und viele andere erstrebt hatten. Von
Paracelsicchem hat Francis Bacon nur das Biologische bei seiner
Grundlegung übersehen, das im Grunde auch dem Vesalius fremd
ist. Physik und in wachsendem Maße auch die Chemie sind die
treibenden Faktoren und kommen darum auch bei Bacon der Zeit
gemäß zu Geltung ur>d Ausdruck; sie werden im 17. Jahrhundert
völlig auf den Thron gesetzt. Erst im 1 8. Jahrhundert kommt nach
vorheriger Umkippung ins Animistische das Biologische wieder voll
zu seinem Recht.
IIL Teil.
Die neuere Zeit
von Harvey bis zur Gegenwart.
Von
Theodor Meyer-Steineg.
Die Neubegründung der Physiologie durch
William Harvey, die Schule der latrochemiker und
latrophysiker.
Von den großen Reform bestrebun gen des i6. Jahrhunderts
haben die nachhaltigste Wirkung die anatomischen Errungenschaften
ausgeübt, die Vesal und seine zahkeichen Nachfolger der Medizin
geschenkt hatten.
Kein Teil der]\Iedizin
ist in der Folge in
einem derart stetigen
Gange fortgeschrit-
ten wie die Ana-
tomie. War Galen
auch noch keines-
wegs endgültig ab-
getan, so war doch
sein alles beherr-
schender Einfluß be-
seitigt, und die Ana-
tomie zu einer von
Spekulationen freien
Naturwissenschaft
geworden. Man hätte
von dieser Tatsache
an sich einen starken
Einfluß auf die Wei-
terbildung auch der
Physiologie erwarten
können. Davon aber
war keine Rede. Be-
greiflicherweise: ^V^bb. 159. 1 itelblait zu Bauhins Anatomie,
denn während die
Anatomie zur Voraussetzung lediglich eine vorurteilsfreie Betrachtung
und Wiedergabe des Gesehenen hat, verlangt die Physiologie eine fort-
geschrittene allgemeine Naturerkenntnis, vor allem ein erheblich er-
312 Die NeubegTündung der Physiologie durch William Harvey,
weitertes Wissen auf den Gebieten der Physik und Chemie. Da
diese Voraussetzung aber noch fehlte, so konnten die physiologischen
I.ehren des Pergameners nach wie vor — trotz einzelner Sturm-
läufe dagegen — als fester Kanon weiter bestehen.
In segensreichster Weise wurde die ganze naturwissenschaftliche
Forschung beeinflußt von dem „Vater der neueren Philosophie"
Abb. i6o. William Harvey.
Rene Descartes (1596— 1650). Wenn auch schon Bacon von
Verulam (s. oben S. 306 f.) zweifellos in dieser Hinsicht vorgearbeitet
und der zukünftigen Entwicklung den Boden bereitet hatte, so
blieb es doch Descartes vorbehalten, die Naturwissenschaften in
den Bahnen , die sie seit Galilei verfolgten , das entscheidende
Stück weiterzuführen. Von größter Bedeutung für die Medizin
die Schule der latrochemiker und latrophvsiker.
313
wurde vor allem seine mechanistische Erklärung aller Erscheinungen
Seine Annahme, daß der Körper lediglich eine nach mechanischen
Gesetzen arbeitende Maschine sei, daß seine Funktionen zum größten
Teile auf Bewegungsvorgängen in den festen und flüssigen Be-
standteilen beruhten, hatte die Forderung zur Folge, daß alle Vor-
gänge des Lebens ausschließlich aus den Gesetzen der Physik und
Chemie abgeleitet werden dürften. In diesen Grundanschauungen
berührt sich Descartes auf das innigste mit dem Manne, dem es
dann zum ersten Male gelang, auch die Physiologie zu dem Rang
einer wirklichen Naturwissenschaft zu erheben: Wilijam Harvey.
William Harvey.
Im Jahre 1578 zu Folkestone geboren, besuchte er vom 15.
Lebensjahre ab die Schule von Cambridge, wo er auch seine medi-
zinischen Studien begann.
Diese setzte er von 1599
ab in Padua fort, haupt-
sächlich unter Fabricius
AB Aquapendente, dem er
auch die ersten Anregungen
zu der wichtigsten seiner
Entdeckungen verdankt.
Später war er Arzt am
Bartholomäus - Hospital in
London, dann ebenda Pro-
fessor der Anatomie und
Chirurgie, darauf Leibarzt
Jakobs I. und Karls L;
nach Oxford.
Abb. 161. Aus Harveys „Exercitatio anatomica de
motu cordis etc."
mit letzterem ging er eine Zeitlang
Nach London zurückgekehrt zog er sich von der
Oeffentlichkeit zurück, um sich ganz seinen Forschungen zu widmen,
und starb ziemlich einsam und in bedrückten Verhältnissen 1657.
Der hervorstechendste Wesenszug Harveys war eine große
Bescheidenheit, welche sich nicht nur in seinem persönlichen Auf-
treten, sondern auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten und der
Art ihrer Veröffentlichung ausprägt. Erst nachdem er über andert-
halb Jahrzehnte mit Beobachtungen und zahllosen Experimenten an
dem Problem des Blutkreislaufes gearbeitet und sein dann aus-
gearbeites Manuskript noch einige Jahre liegen gelassen hatte,
schritt er im Jahre 1628 zu seiner Veröffentlichung, die den Titel
trug: „Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in ani-
malibus". In dieser Schrift führte er den in jeder Hinsicht schlüssigen
Beweis, „daß das Blut infolge des Pulses der Ventrikel durch die
Lungen und das Herz hindurchgehe, sowohl in den ganzen Körper
314 Die Neubegründung der Physiologie durch William Harvey,
hineingetrieben werde, als auch unvermerkt in die Venen und Poren
der Weichteile eintrete, daß es dann auf dem Wege der Venen
selbst überall von der Peripherie zum Zentrum , von den kleinen
Venen in größere zurückströme, von da endlich durch die Hohlvene
in das Herzrohr usw". „So ist es notwendig", sagt er, ,,zu schließen,
daß das Blut in den Tieren herumgetrieben werde in einer gewissen
kreisartigen Weise." Auch die Vorgänge am Herzen selbst werden
von ihm in ihren einzelnen Phasen genau beschrieben und mit der
Blutzirkulation in die richtige Verbindung gebracht. Die einzige
erhebhche Lücke, die Harvey unausgefüllt ließ, war der Kreislauf
durch die Kapillaren, von deren Vorhandensein er noch nichts
wußte. Er half sich durch die Annahme von Anastomosen zwischen
den feineren Arterien und Venen. Gab diese erste großartige Ent-
deckung Harveys — freilich nicht ohne schwere Kämpfe gegen
alle möglichen persönlichen und sachlichen Gegnerschaften — den
Anstoß und die Grundlage zu einer
Bearbeitung zahlreicher physio-
logischer Fragen, so bildete eine
zweite den Unterbau für eine ganz
andere Seite der medizinischen
Wissenschaft, die Entwicklungs-
lehre: denn die Aufstellung des
Satzes „omne vivum ex ovo" machte
mit einem Schlage all den phan-
tastischen früheren Zeugungstheo-
rien ein Ende. Freilich auch nicht
ohne Kampf, der sich vor allem
nach der Entdeckung der Samen-
tierchen (1677 durch Ludwig VON
Hammen) gegen die einseitige Be-
trachtung des Eies als einzigen Aus-
gangspunkt der Lebewesen richtete.
Aber sowohl die beistimmende
Nachprüfung der HARVEYschen
Entdeckungen wie ihre Bekärtipfung bildeten beide einen ungeheuren
Antrieb zu weiteren Forschungen, Und wie ein in das Wasser ge-
schleuderter Stein noch lange, nachdem er in der Tiefe verschwunden
ist, auf der sichtbaren Oberfläche seine Kreise zieht, so wurden
auch durch die Arbeiten Harveys Wellen aufgeworfen, die ein
physiologisches Problem nach dem anderen aufrührten. Ein für das
vollkommene Verständnis des Blutkreislaufes wichtiger Fund, die
Entdeckung der Chylusgefäße, durch Caspar Aselli, Professor zu
Pavia, war ja im Jahre 1622 bereits vorausgegangen, bekam aber
Abb. 162. Niels Stensen.
die Schule der latrochemiker und latrophysiker, 315
erst seine volle Bedeutung dadurch, daß der Professor zu Mont-
pellier, JOH. Pecouet, 1647 <^6n bis dahin für eine Vene ge-
haltenen Ductus thoracicus und seine Verbindung mit den Chylus-
gefässen fand, und JOHANNES Vesling, Professor zu Padua, bald
darauf seine Entstehung aus der Vereinigung aller Chylus- und
Lymphgefässe erkannte. Die feineren Verhältnisse am Herzen er-
Abb. 163. Anton Y van Leecwenhoek.
forschte besonders Niels Stensen (Steno) (1638— 1683I Die Kenntnis
des Gefäßsystems wurde vor allem durch die von Friedrich Ruysch
(1638— 1731) zuerst ausgeführte Injektion außerordentlich gefördert.
Als weiteres wichtiges Hilfsmittel der anatomisch-physiologischen
Forschung fand das Mikroskop immer zunehmende Verwendung.
Nachdem Axtony van Leeuwexhoek (1632 — 1723) gezeigt hatte,
wie man mit der Unterstützung des wahrscheinlich durch CORNEL.
3i6 Die Neubegründung der Physiologie durch William Harvey,
Drebbel um 162 1 entdeckten Mikroskops auch solchen Geheimnissen
des Lebens auf die Spur kommen konnte, die dem unbewaffneten Auge
des Forschers auf ewig verschlossen bleiben mußten, wurde nicht nur
Abb. 164. Pflanzenzellen aus Leeuweuhoeks „Areana Naturae"
Abb. 165. Leeuwenhoeks Mikroskop.
den zahlreichen grob anatomischen Befunden Schlag auf Schlag
eine unabsehbare Reihe von Tatsachen über den feineren Bau des
Körpers hinzugefügt, sondern auch den physiologischen Unter-
suchungsmethoden das Eindringen in den Kleinbetrieb des Orga-
nismus immer mehr ermösflicht.
die Schule der latrochemiker und latrophysiker.
317
Die Erfolge waren außerordentlich: die Struktur der Muskeln,
des Knochengewebes, die feineren Verhältnisse des Kapillarkreis-
laufes und vieles andere mehr wurde klargelegt. Eine weniger an
sich als durch ihre Vorgeschichte bedeutsame Entdeckung war der
von CoNR. Viktor Schneider (16 14— 1680) erbrachte Nachweis,
daß der Schleim nicht
im Gehirn gebildet
werde und von dort
nach den verschie-
dentsten Teilen hin-
abfließe, sondern daß
er das Produkt einer
jeden Schleimhaut
sei. Hiermit wurde
eine uralte Hypo-
these gestürzt, welche
rund zwei Jahr-
tausende hindurch
einen wichtigen Be-
standteil der hum oral-
pathologischen Theo-
rie ausgemacht hatte.
Die hauptsäch-
lich von Desc AKTES
ausgehende Anre-
gung, die Physiologie
auf Physik und Che-
mie aufzubauen, wur-
de von der Medizin
begierig aufgenom-
men und führte zur
Ausbildung zweier
Schulen, von denen
weiter unten noch zu
reden sein wird. Auf die Weiterbildung der Krankheitslehre hatten
diese großen Errungenschaften erst allmählich einen Einfluß. Ob
man darin eine weise Selbstbeschränkung der zahlreichen Forscher
sehen darf, welche zunächst Bau und Funktionen des normalen
Körpers kennen zu lernen suchten, bevor sie an das schwierigere
Problem des Krankseins gingen, ist nicht ohne weiteres zu sagen.
Jedenfalls scheiterten die wenigen, die das Wagnis unternahmen, an
Abb. 166. JoH. Baptista van Helmont.
3i8 Die Neubegründung der Physiologie durch William Harvey,
die Stelle der GALENschen Krankheitslehre etwas Neues zu setzen,
vollkommen. Das zeigte besonders deutlich der Flame Johann
Baptista van Helmont (1577 — 1644). Dieser Mann bildet gleich-
sam die Brücke zwischen Paracelsus und seinen Anhängern zu
den erwähnten naturwissenschaftlichen Schulen und läßt in seinen
Anschauungen und Lehren deutlich die zwiespältige Stellung eines
Forschers erkennen, der den Versuch machte, alte Theoreme mit neuem
Inhalte zu erfüllen. Ein vielseitiger Geist von universeller Begabung
— er studierte nacheinander Mathematik und Astronomie, dann Theo-
logie, darauf Jurisprudenz, Botanik und schließlich Heilkunde. In seiner
Hauptschrift: „Ortus medicinae id est initia physicae inaudita. Pro-
gressus medicinae novus in morborum ultionem ad vitam longam"
führte er alle Lebensfunktionen auf ein oberstes Lebensprinzip, den
„Archaeus", zurück. Jeder einzelne Teil des Körpers hat seinen
eigenen „Archaeus insitus", durch deren harmonisches Zusammen-
wirken das normale Leben, die Gesundheit, bedingt ist. Als princeps
regulator aber steht über der Gesamtheit der „Archaei insiti" ein
von außen her kraft göttlichen Einflusses wirkender „Archaeus
influus." Krankheit unterscheidet sich im Wesen nicht von der
Gesundheit, besteht vielmehr ausschließlich in den veränderten Be-
dingungen, in welche eine „Idea morbosa" den Körper oder einzelne
seiner Teile versetzt. In diesen stark mystischen Grundanschauungen
ist die Berührung mit Paracesus ohne weiteres erkennbar; sie
werden von ihm in geistreicher Weise zu einem umfassenden System
ausgesponnen. Van Helmont war aber ein viel zu naturwissen-
schaftlich geschulter Mann, um bei derartigen Vorstellungen halt
zu machen. Seine chemischen Kenntnisse — er ist der Entdecker
der Kohlensäure und hat den Begriff der „Gase" allgemein ein-
geführt — leiteten ihn zu dem Versuche hin, für die einzelnen
Krankheitserscheinungen einen chemischen Ausdruck zu finden.
Er läßt durch die krankhafte Stimmung des „Archaeus" gewisse
chemische Veränderungen im Körper entstehen, z. B. erklärt er die
Gicht als eine abnormale Säurebildung im Blut, welche eine krank-
hafte Funktion der Nieren, mangelhafte Ausscheidung gewisser
Stoffe durch dieselben und daher Ablagerung dieser Materie in den
Gelenken zur F'olge habe.
Die Verwandtschaft seines „Archaeus" mit der Hippokratischen
„Physis" tritt deutlich in der Ansicht zutage, daß der erstere an
sich das Bestreben zeige, die Krankheit wieder zu beseitigen. Auch
in seiner Bevorzugung einfacher Maßnahmen ist dieses ersichtlich.
Diätverordnungen, Abführmittel, mäßige Aderlässe u. ä. spielen des-
halb bei ihm eine wichtige Rolle. In der Erklärung ihrer Wirkung
tritt freilich wieder sein Mysticismus hervor: sie sollen nämlich
die Schule der latrochemiker und latrophysiker.
319
weniger unmittelbar auf den Körper wirken, als vielmehr in erster
Linie im Archaeus heilsame Tendenzen erregen.
Alles in allem liegt das Wesen der HELMONTschen Lehren
darin, daß er — ähnlich wie Paracelsus — die IVIedizin weder
als bloße Naturwissenschaft noch auf dem Wege der reinen Em-
pirie behandelt sehen wollte, sondern in inniger Verbindung mit
gewissen philosophischen Erkenntnissen und religiösen Vorstellungen
eine Art Einheit von
Natur und Geist
in ihr herzustellen
suchte.
Es ist somit nicht
zu verwundern, daß
Helmont keine
Schule gemacht hat.
Die Zeit, in welcher
seine Hauptschriften
erschienen, trug be-
reits die Zeichen
eines ganz anders
gearteten Geistes,
des Geistes einer
nüchtern naturwis-
senschaftlichen Be-
trachtungsweise, wie
sie Harvey mit so
großem Erfolge bei
seinen Forschungen
in Anwendung ge-
bracht hatte. Statt
mit geistreichen Spe-
kulationen den tief-
sten Rätseln dos
Lebens nachzuspü-
ren, hatte man begonnen, einzelne Fragen der Anatomie und Physio-
logie streng naturwissenschaftlich zu bearbeiten, und beschränkte
sich mit vollem Bewußtsein darauf, zunächst einmal möglichst viel
Bausteine herbeizutragen, aus denen dann später erst das stolze
Gebäude einer medizinischen Gesamtlehre errichtet werden könnte.
Die unbestreitbaren Erfolge, welche die medizinische Forschung in
der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufzuweisen hatte, veranlaßten
einzelne Forscher, von neuem den Versuch zu einer zusammen-
hängenden Bearbeitung der gesamten Heilkunde zu wagen, ein
FRANCISCUS DELEBOt SYLVIUS , ME DIC INjE
PRACTlCiE IN ACADEMIA LUGDITNO-BATAVA PROFESSOR.
Abb. 167. Franz de le Boß Sylvius.
320 Die Neubegründung der Physiologie durch William Harvey,
System der Medizin aufzubauen. Bei der wichtigen Rolle, welche
die Chemie und Ph3^sik sich bereits in der Medizin erobert hatte,
fiel diesen beiden Naturwissenschaften begreiflicherweise eine aus-
schlaggebende Bedeutung bei diesen Versuchen zu. Und diese
führten geradezu zur Ausbildung zweier Schulen, von denen jede
eine der genannten Wissenschaften zur Grundlage nahm: die latro-
chemiker und latrophysiker.
Der Begründer der ersteren ist der Leydener Professor Franz
DE LE BOE Sylvius. Das ist — wie aus den obigen Ausführungen
zu ersehen ist — nicht so zu verstehen, als ob die Idee selbst von
ihm ausgegangen sei; denn in der Tat gab es schon vor seinem
Hervortreten eine Reihe von Lehrstühlen für Chemiatrie, und ein-
zelne bedeutende Leute, wie der gelehrte Wittenberger Arzt Daniel
Sennert (1572 — 1637), hatten diesen Bestrebungen in gleicher Rich-
tung bereits erheblich vorgearbeitet. Doch war Sylvius der erste,
der zum Teil durch seine ungewöhnlichen Kenntnisse und Leistungen
auf allen Gebieten der Medizin, zum Teil durch die leichtfaßliche
Art, wie er seine Anschauungen formulierte und in eine einheitliche
Form zu bringen verstand, zum Teil schließlich durch den Einfluß
seiner gewinnenden und überzeugenden Persönlichkeit, eine wirkliche
Schule zu bilden vermochte. Sylvius selbst war fraglos ein bedeu-
tender Anatom, davon legen seine Forschungen über den Bau des
Gehirns (Fossa Sylvii) Zeugnis ab. Aber diese Seite seiner Arbeit
hat keine unmittelbaren Beziehungen zu seinem eigentlichen Lebens-
werk. Dieses ist — um das vorweg zu sagen — der Versuch, die
alte Humoralpathologie auf Grund der fortgeschrittenen chemischen
Kenntnisse aufzufrischen. Und so zeigt Sylvius nicht nur in Einzel-
heiten, sondern in der Gesamtheit seiner Auffassungen eine unver-
kennbare Verwandtschaft mit Galen; eine Verwandtschaft, die ihm
selbst wohl kaum so recht zum Bewußtsein gekommen ist und
sicherlich von ihm heftig abgestritten sein würde. Sein Hauptwerk
„Praxeos medicinae idea nova", das erst nach seinem Tode erschien
und die meisten seiner bereits veröffentlichten Lehren in vereinheit-
lichter Form wiedergab, zeigt dies recht deutlich.
Der Ausgangspunkt seiner Lehren und gleichzeitig das Band,
das seine aus recht heterogenen Bestandteilen zusammengesetzten
Einzelideen zusammenhält, ist der Begriff der „Fermentation". Er
versteht darunter jenen Vorgang, bei dem durch die Einwirkung
eines hypothetischen, als „Ferment" bezeichneten Stoffes die Um-
setzung eines Stoffes im Körper in einen anderen erfolge. So be-
ruht nach seiner Vorstellung nicht nur die Umwandlung der Speisen
die Schule der latrochemiker und latrophysiker. 321
durch den Sf)eichel und durch das Sekret der Bauchspeicheldrüse
auf einem in diesen enthaltenen Ferment, sondern auch die Um-
arbeitung des Blutes zu einem den Körper erhaltenden und auf-
bauenden Stoffe sei bedingt durch gewisse Fermente, welche dem
Blute durch Galle und Lymphe beigemischt würden. Durch solche
unter dem Einfluß der Körperwärme (Calor innatus) und der Lebens-
geister (spiritus) entstehende Umsetzungen würden nun zwei ver-
schiedene Arten von Endprodukten erzeugt: saure oder alkalische.
Ein richtiges qualitatives und quantitatives Verhältnis der beiden
zueinander sei die Voraussetzung der Gesundheit. Krankheit da-
gegen werde dadurch her\'orgebracht, daß durch das Uebermaß der
sauren oder alkalischen Stoffe oder durch ihr Auftreten an einem
falschen Ort eine Art von „Schärfen" (acrimonia) erzeugt würden
und zwar je nachdem saure oder alkalische Schärfen; diese führten
dann zu einer Veränderung des Blutes, der Galle oder der Lj'mphe,
und dadurch zu einer Störung des allgemeinen Stoffwechsels. Die
Krankheiten zerfallen demnach in zwei große Hauptgruppen : solche,
die auf einer „sauren Schärfe", und andere, die auf „alkalischer
Schärfe" beruhen. Wir finden demnach bei Sylvius nicht nur die
Grundanschauungen der Humoralpathologie wieder, sondern auch
deren einzelne Begriffe (siehe S. 62 f.).
Für die Therapie gaben diese Anschauungen eine äußerst ein-
fache und dadurch bestechende Unterlage ab. Die Hauptfrage in
jedem Krankheitsfalle war, ob ihm eine „saure" oder eine „alkalische"
Schärfe zugrunde liege. In .beiden Fällen bestand die Aufgabe in
einer Umstimmung der vorhandenen chemischen Anomalie nach
dem Grundsatze „contraria contrariis", also das eine Mal durch Zu-
führung alkalischer, dcis andere Mal durch saure Stoffe. Dabei aber
wurde großer Wert auf die Erhaltung der Kräfte, Hebung des all-
gemeinen Körperzustandes durch ausführliche Diätverordnungen
gelegt. Auch auf eine möglichste Ausschaltung der fortwirkenden
Krankheitsursachen und eine Milderung besonders hervorstechender
Symptome wurde Rücksicht genommen. War demnach der Arznei-
schatz auch vorwiegend nach chemischen Grundsätzen gewählt und
angewandt, so behielt Sylvius doch auch bewährte Mittel, welche
außerhalb seiner strengeren Indikationen lagen, bei.
Daß diese Lehren den großen Einfluß und die weite Verbreitung
finden konnten, die sie in Wirklichkeit sich verschafften, lag nicht
allein daran, daß sie den Aerzten der damaligen Zeit als ein bisher
unerreichtes, wissenschaftlich begründetes, in sich geschlossenes System
erschienen, das dabei eine bequeme Handhabe für die Kranken-
behandlung abgab; auch nicht allein in Sylvius' hervorragender
Lehrbegabung, die er vor allem in seinem für damalige Zeit ganz
Meyer-Steineg u. Sudboff, Illustr. Geschichte der Medüin. 21
322 Die Neubegründung der Physiologie durch William Harvey,
neuartigen klinischen Unterricht bewährte; sondern auch vor allem
in den wirklich bedeutenden Leistungen, welche Sylvius auf dem
Gebiete der Anatomie und Chemie aufzuweisen hatte.
So kam es, daß seine Anhängerschaft sich nicht nur auf die große
Masse der unbedeutenden und kritiklosen Aerzteschaft beschränkte,
sondern auch Leute von originellem Wesen umfaßte. Hierzu gehört
vor allem der englische Forscher Thomas Willis (1622 — 1675).
Es wäre verkehrt, diesen Mann als einen Schüler des Sylvius
bezeichnen zu wollen; dafür war er in seinem ganzen Denken viel
zu selbständig und war auch bereits zu gleicher Zeit, wo jenes erste
wichtigere Veröffentlichungen erschienen, selbst mit Arbeiten auf
chemiatrischem Gebiete hervorgetreten. Dennoch ist in der weiteren
Entwicklung Willis' der Einfluß des Sylvius nicht zu übersehen.
Auch der erstere beschäftigte sich eingehend mit Gehirnanatomie,
im Anschluß daran auch mit Fragen der Nervenpathologie. In
seinen physiologischen Anschauungen ging er, hierin an Paracelsus
anknüpfend, von der Annahme dreier chemischer Prinzipien aus;
des Salzes, Schwefels, Spiritus, die als chemisch gedachte Grund-
stoffe allen Körperfunktionen zugrunde liegen sollten. Die Vor-
gänge selbst läßt er ebenso wie Sylvius auf Fermentation beruhen,
diese selbst aber mehr von gewissen geistigen Einflüssen abhängig
sein. Also auch hier eine Verbindung Galenischer Humoralpatho-
logie mit moderneren chemischen Lehren. Die gleiche Mischung
tritt auch in seiner Therapie hervor; doch steht diese an Konsequenz
derjenigen des Sylvius bedeutend nach.
Im übrigen fand die chemiatrische Schule besonders in Deutsch-
land und in den Niederlanden großen Anhang, weniger dagegen in
anderen Ländern, wie Frankreich, England, Italien, in denen bereits
andere Lehren einen gewissen Boden sich erobert hatten. Die wich-
tigsten der gegnerischen Anschauungen verkörperten sich in der
zweiten der genannten Schulen, den latrophysikern. Das
treibende Agens, welches zur Ausbildung dieser Lehre führte, war
letzten Endes — wenn man die rein theoretische Anregung Des-
CARTES beiseite läßt — die Entdeckung des Blutkreislaufes. Diese
hatte zweifellos in einer gewissen Ueberschätzung ihrer allgemeinen
Bedeutung viele Forscher zu der Meinung verleitet, daß man, wenn
es möglich sei, eine der wichtigsten Funktionen des Organismus auf
mechanistischem Wege restlos zu erklären, überhaupt für alle Vorgänge
des Körpers einen physikalischen Ausdruck finden müßte. Da die Kennt-
nisse auf diesem Gebiete entschieden denen in der Chemie jener Epoche
sowohl an Tiefe als auch vor allem an Mannigfaltigkeit überlegen
waren, so gestaltete sich auch ihre Anwendung auf die Medizin viel-
die Schule der latrochemiker und latrophysiker.
323
seitiger. Das zeigt sich schon in den Methoden, mit denen einer der
Vorläufer der latrophysik, wenn nicht gar ihr eigentlicher Begründer,
an seine Probleme herantrat: Santorio Santoro (1561 — 1636),
Professor zu Padua und Venedig.
Mit einer bewunderungswürdigen Ausdauer ist dieser Mann
dreißig Jahre lang den
Rätseln des Stoffwechsels
nachgegangen, für die bis
dahin trotz mancher Aen-
derungen in einzelnen
Punkten doch im allge-
meinen Galens An-
schauungen als unantast-
bares Dogma bestehen ge-
blieben waren. Mit Hilfe
origineller Untersuchungen,
deren Ergebnisse er vor
allem in seinem 16 14 er-
schienenen Werke „Ars de
statica medicina" nieder-
legte und zu denen er von
ihm selbst konstruierte
Apparate verschiedenster
Art, wie Wagen, Puls-
messer, Thermometer, Hy-
grometer usw. benutzte und
neben anderen Versuchs-
personen auch seinen eige-
nen Körper hergab, trach-
tete er danach, das Ver-
hältnis der von dem Körper
aufgenommenen Stoffe zu
den Vorgängen des Wachs-
tums und der Ernährung
festzustellen sowie das
Schicksal zu verfolgen, welches diese Stoffe bis zur Ausscheidung
im Organismus durchmachten.
Mit einseitiger Beiseitelassung aller chemischen Deutungen
glaubte er so in der Tat ausschließlich mechanistisch die meisten
körperlichen Vorgänge erklären zu können. Die Verdauung war
ihm lediglich eine mechanische Zermahlung der Speisen, die Auf-
nahme des Chylus erfolgte durch den Druck des sich zusammen-
ziehenden Darmes, die Absonderungen durch eine Art „vis a tergo";
Abb. 168.
Santorio Santoro in seinem Ver-
suchskasten.
324 Die Neubegründung der Physiologie durch Williaäi Harvey,
die Atmung beruhte auf der Mechanik der Brustbewegungen, die
Körperwärme auf der Reibung der Blutteilchen usw. Gesundheit
war demnach der ungestörte Ablauf aller physikalisch-mechanischen
Vorgänge, Das wichtigste Resultat seiner Forschungen war die
Aufstellung des Begriffs der „perspiratio insensibilis". Hierunter
verstand er die mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Ausdünstung
durch Lungen und Haut, welche vor allem anderen erkläre, warum
der Körper nicht ebenso viel an Gewicht zunehme, wie ihm an
Stoffen zugeführt werde abzüglich der verschiedenen Ausscheidungen
(Kot, Urin usw.). Gerade diese „unmerkliche Ausscheidung" erschien
ihm derart wichtig für den Körperhaushalt, daß er in ihrem un-
gestörten Ablauf die erste Vorbedingung für den ganzen Gesund-
heitszustand sah und umgekehrt die meisten Krankheiten auf ein
Versagen dieser Funktion zurückführte. Die therapeutischen Folge-
rungen, die Santorio hieraus zog, waren äußerst einfach: man
hatte in jedem Krankheitsfalle vor allem durch starke Schweiß-
erzeugung für eine Wiederherstellung der „perspiratio insensibilis''
zu sorgen. Dieser Arzt ist somit ein Schulbeispiel dafür, daß eine
einseitige, scheinbar streng naturwissenschaftliche Methodik zu thera-
peutischen Konsequenzen von einem Schematismus führt, wie er sich
selbst auf Grund grober Empirie selten ausbildet.
In ähnhcher Weise ging Giovanni Alfonso Borelli (1608
bis 1679) aus Neapel vor; doch haben seine Erklärungsversuche
einen weit stärkeren mathematischen Einschlag, so daß man ihn
geradezu als latromathematiker bezeichnet hat. Seine Berech-
nung der mechanischen Leistung des Herzens zeigt dieses besonders
deutlich. Im übrigen ähneln seine Anschauungen in mancher Hin-
sicht denen Willis', in anderer mehr Santorios.
f Am weitesten ging in seiner rein mechanistischen Auffassungs-
weise Giorgio Baglivi (1668— 1707), Professor in Rom. Er glaubte
naturwissenschaftliche Tatsachen festzustellen, wenn er die Arterien
und Venen mit hydraulischen Röhren, das Herz mit einem Pumpen-
stempel; die Drüsen mit Sieben, den Brustkorb mit einem Blasebalg
und die Muskeln mit Hebeln verglich und damit nicht nur die ge-
nannten, sondern auch die meisten anderen Funktionen rein physi-
kalisch-mathematisch erklärte. Dabei aber Heß er ganz außer acht,
daß sie fast durchweg auch mit chemischen Vorgängen einhergehen.
Auch die Krankheitserscheinungen wollte er ausschließlich aus physi-
kalischen Zustandsänderungen, nämlich einem vermehrten oder ver-
minderten Tonus der festen Teile erklären. Dieser einseitigen Ein-
stellung aber war er sich insofern durchaus bewußt, daß er sich von
ihr ausschließlich in seinen theoretischen Betrachtungen beherrschen
die Schule der latrochemiker und latrophysiker.
325
ließ und sie ausdrücklich von der Praxis sonderte. Während also
die übrigen Aerzte dieser Richtung ihre Theorie zur Unterlage für
die Praxis zu machen bestrebt
waren, trennte Baglivi beide voll-
kommen voneinander und betonte
für Krankheitslehre und Therapie
die Notwendigkeit eines geläuterten
Erfahrungsstandpunktes.
Ueberhaupt scheint die Er-
kenntnis, daß man auf dem von
den latrochemikern und latro-
physikern eingeschlagenen Wege
im günstigsten Falle wohl wert-
volle Bereicherungen des theore-
tischen Wissens, viel weniger aber
eine Förderung der praktischen
Krankenbehandlung erzielen könne,
allmählich immer weitere Kreise
gezogen und zu einer gesunden
Reaktion geführt zu haben. An-
dernfalls wäre die Gefahr, daß
sich die Medizin in spitzfindigen
naturwissenschaftlichen Problem-
suchereien erschöpfte, nicht gering gewesen — sehr zum Schaden
der Kranken und des Aerztestandes.
ALL.
:o Baglivi.
Die Reform der praktischen Medizin durch
Thomas Sydenham, Kasuistik der Krankheiten und
neue Heilmethoden.
Die Einsicht, daß es trotz der fortgeschrittenen naturwissen-
schaftlichen Kenntnisse noch nicht möglich sei, ein wissenschaftliches
System der Medizin 7U begründen, in dem die Theorie wirklich
eine zuverlässige Unterlage für die Praxis gab, war bei vielen
Aerzten des 17. Jahrhunderts trotz der bestechenden Lehren der
verschiedenen Schulen nicht verloren gegangen. Mußte ihnen doch
gerade die Tatsache, daß diese in ihren Ansichten oft sehr weit
auseinandergingen, vor Augen führen, daß nur die eine oder die
andere Schule recht haben könne. Das ließ aber bei manchen den
Zweifel entstehen, ob überhaupt der ganze Weg, den die Medizin
unter dem Einflüsse der Naturwissenschaften einschlug, grundsätzlich
richtig sei. Und dieser Zweifel führte von selbst zu der Erkenntnis,
daß in Wirklichkeit die mit viel Geist aufgeführten medizinischen
Systeme — ganz abgesehen von ihrer theoretischen Anfechtbarkeit —
jedenfalls für das eigentliche Ziel der Heilkunde, die praktische
Krankenbehandlung, sich ziemlich unfruchtbar gezeigt hatten. Diese
Ueberzeugung, der sich sogar Anhänger der betreffenden Schulen
wie Sylvius, nicht hatten verschließen können, führte vorurteilslose,
selbständige Aerzte weit ab von allen diesen Bestrebungen und
nach dem Gesetze der sich berührenden Gegensätze von neuem
zurück zu ärztlichen Prinzipien, welche die eigentliche Schulmedizin
der latrophysiker und latrochemiker gerade glücklich überwunden
zu haben glaubte: zum Hippokratismus. Man hat daher auch
den hervorragendsten Vertreter dieser Richtung den „englischen
Hippokrates" genannt. In der Tat hat Thomas Sydenham sehr
viel Berührungspunkte mit Hipporates. Schon die äußeren Um-
stände, unter denen beide lebten, ähneln einander in mancher Hin-
sicht. Wie im 5. Jahrhundert v. Chr. der Widerstreit der verschiedenen
ärztlichen Schulen die Medizin trotz der unleugbaren Anregungen,
die die Aerzte dadurch empfingen, in die Gefahr einer Zersplitterung
und der Abhängigkeit von philosophischen Dogmen gebracht hatte,
so stand die Heilkunde des 17. Jahrhunderts einer ähnlichen
Reform der praktischen Medizin durch Thomas Sydenham usw. 3^27
Bedrohung von selten der unter dem Einfluß der naturwissen-
schaftlichen und philosophischen Strömungen entstandenen Schulen
gegenüber.
Thomas Sydenham.
Er woirde 1624 als Sohn angesehener Eltern in Windford-Eagle
in Dorsetshire geboren, studierte von seinem 22. Jahre ab zunächst
in Oxford, dann in Montpellier. Nachdem er zu Cambridge zum
Doktor promoviert worden war, ließ er sich in London als prak-
tischer Arzt nieder und wirkte dort bis zu seinem Tode 1689. Dieser
Mann, der weder
umfangreiche Wer-
ke verfaßt hat (seine
ganzen Schriften
lassen sich in einem
mäßigen Bande zu-
sammenfassen), der
keinerlei Lehrtätig-
keit ausgeübt, kein
medizinisches Sy-
stem begründet hat,
der überhaupt be-
strebt war, mög-
lichst wenig mit
seiner Person an die
Oeffentlichkeit zu
treten, hat trotzdem
auf die Entwick-
lung der Medizin
einen starken und
lange anhaltenden
Einfluß ausgeübt.
Dieser beruhte zum
größten Teile darauf, daß Sydenham, obwohl er selbst die volle
Kenntnis der naturwissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit
besaß, doch bewußt alle darauf fußenden theoretischen Lehren mög-
lichst von dem fernhielt, was er als die eigentliche Aufgabe der
Medizin ansah: Beobachtung des Verlaufs der Krankheit am Kranken-
bette, des Verhaltens des einzelnen Kranken gegenüber dem Leiden
und gegenüber den ärztlichen Maßnahmen.
Obgleich ein genauer Kenner der hippokratischen Werke und
Verehrer des großen Koers, haftet er doch nicht sklavisch an
dessen Lehren. Den xVusgangspunkt seiner Betrachtungen bildet
Abb. i;o. Thomas Sydenham.
328 Reform der praktischen Medizin durch Thomas Sydenham,
bei Sydenham ebenso wie bei Hippokrates die akute Krankheit
mit ihrem regelmäßigen und durchsichtigen Ablauf. Er begriff die
Krankheit als eine Art Kampf, der innerhalb des Körpers zwischen
einem schädigenden Agens und der dem Organismus innewohnenden
natürlichen Heilkraft sich abspielt. Dementsprechend teilte er die
Krankheitssymptome in solche, die unmittelbar durch die krank-
machende Schädigung hervorgerufen werden (symptomata essentialia),
solche, welche auf der Reaktion des Organismus dagegen beruhen
(symptomata accidentalia) und schließlich die durch das Eingreifen
des Arztes erzeugten (symptomata artificialia). Zum ersten Male
wieder entwickelte er so deutlich den Begriff des „Krankheits-
prozesses" als eines in verschiedenen Phasen ablaufenden, vom
ärztlichen Standpunkte je nach diesen Stadien ganz verschieden zu
bewertenden Vorganges; während bis dahin zumeist alle Krank-
heitssymptome als gleichwertige Anzeichen des Leidens betrachtet
wurden. Das Wesen der chronischen Krankheiten sieht Sydenham
darin, daß entweder die Reaktion des Organismus auf die krank-
machende Schädigung nur langsam eintritt, oder aber daß diese
letztere als Krankheitsursache längere Zeit fortwirkt.
Diese Annahme bringt ihn dann überhaupt zu einer ein-
gehenderen Untersuchung über die Bedeutung . der Aetiologie
für die Krankheiten im allgemeinen und für die einzelnen im be-
sonderen. Während die überwiegende Mehrzahl der Aerzte des
17. Jahrhunderts die Ursache der Krankheiten zum erheblichsten
Teile außerhalb des Körpers suchte, verlegte Sydenham sie vor-
wiegend in den Körper selbst, indem er alle durch Störungen der
Lebensweise entstehenden Veränderungen (Verdauungsstörungen,
Blutveränderungen) in erster Linie als Ursachen ansprach. Eine
wichtige Rolle erteilte er dabei der individuellen Anlage des ein-
zelnen, der Disposition.
Was die Disposition bei dem einzelnen, das bedeutet die „epi-
demische Konstitution" für den Ablauf einer als Seuche auftretenden
Krankheit. Er versteht unter der „constitutio epidemica seu sta-
tionaria" die Erscheinung, daß alle zu einer gewissen Zeit ent-
stehenden Leiden, auch solche interkurrenter Natur, eine mehr oder
weniger gleichartige Beschaffenheit annehmen dadurch, daß sie
sämtlich sich auf derselben Grundform entwickeln. Diese bereits
bei Hippokrates vorhandene und später ganz vergessene Lehre
hat trotz ihrer in mancher Hinsicht irrtümlichen Auffassungen zweifel-
los zu einer Klärung der Seuchenfrage beigetragen.
In Sydenhams Therapie steht der ungeschriebene hippokratische
Grundgedanke „^uaei? voöawv latpoi", d. h. die Natur des Menschen
ist sein Arzt, obenan. Während die Jatrophysiker und Jatrochemiker
Kasuistik der Krankheiten und neue Heilmethoden. 329
durch ihr aktives Eingreifen die Krankheit als solche zu beeinflussen
suchten und glaubten, ihr tatsächlich entgegenwirken zu können,
sieht Sydenham den Angriffspunkt seines ärztlichen Tuns nicht in
der Krankheit, die ja überhaupt nicht etwas Wirkliches, sondern
nur etwas Gedachtes ist, sondern darin, einmal die Ursachen des
Krankseins möglichst fernzuhalten und zu beseitigen, sodann aber
darin, den Organismus des einzelnen Kranken in seinem Kampfe
gegen das krankmachende Agens zu unterstützen. Als eines
der wichtigsten Mittel, durch die der Organismus sich selbst zu
helfen sucht, sieht er das Fieber an. Und während dieses von
den meisten Aerzten seiner Zeit als eines von vielen Krankheits-
symptomen bekämpft wurde, läßt er es unter allen Umständen sich
selbst auswirken. Dabei verkaimte er durchaus nicht, daß aus-
nahmsweise doch auch dem natürlichen Heilungsvorgang entgegen-
gewirkt werden müsse; nämlich dann, wenn dabei gleichsam von
der Natur ein falscher Weg eingeschlagen werde.
Sein Heilschatz ist im Vergleich zu dem anderer Autoren ein
verhältnismäßig bescheidener. Sehr gern verwandte er den Ader-
laß und ließ sich dabei sogar gewisse Uebertreibungen zuschulden
kommen. Daneben Brech- und Abführmittel; selten dagegen schweiß-
erzeugende Mittel. Trotzdem solche ja das Heilungsbestreben der
Natur in vielen Fällen (bei akuten Krankheiten mit kritischen
Schweißen) unterstützen, lehnte er sie — wohl vor allem aus einem
theoretischen Gegensatz gegen die latrochemiker — ab. Einen
breiten Raum nehmen in seiner Therapie diätetische und arzneiliche
Kräftigungsmittel ein. Bei allen Heilmaßnahmen war er aber in
erster Linie bestrebt, sie in jedem einzelnen Falle den besonderen
Verhältnissen anzupassen. Und so sorgfältig er auch die ver-
schiedenen Krankheitsformen gegeneinander abgrenzte, so stand
ihm doch weit über der Forderung nach einer exakten Diagnose
(d. h. der Einordnung des Krankheitsfalls in ein Krankheitsschema)
das Bestreben, jedem Kranken die Therapie zukommen zu lassen,
die durch die Eigenart seines Organismus bedingt war.
Es ist somit das Hauptverdienst Sydenhams, durch Befür-
wortung eines gehobenen Hippokratismus, namentlich durch stärkere
Betonung der praktischen Ziele der Medizin, den auf eine wissen-
schaftliche Theoretisierung der Heilkunde gerichteten Bestrebungen
der naturwissenschaftlichen Mediziner einen Damm entgegengesetzt
zu haben. Und ihm ist es vor allem anderen zu danken, daß die
Medizin des 17. Jahrhunderts nicht in uferlose Spekulationen aus-
artete, sondern in Bahnen einlenkte, die allmählich zu einem der
wichtigsten Höhepunkte führten, der Begründung der sogenannten
älteren Wiener Schule.
330 Reform der praktischen Medizin durch Thomas Sydenham,
Eine ganze Reihe von Aerzten, die durch die herrschenden
Systeme unbefriedigt waren, beschritten einen ähnlichen Weg wie
Sydenham. Dieser Weg führte zu verschiedenen Zielen, je nach
der Auffassung des einzelnen, die er von den Aufgaben der Heil-
kunde hatte. Das Streben einiger dieser Aerzte, trotz eines be-
wußten Verzichts auf ein zusammenfassendes medizinisches System
und bei einer vorwiegenden Betonung des praktisch-empirischen
Standpunktes, doch den positiven Errungenschaften — namentlich
auf dem Gebiete der Anatomie — einen größeren Raum zu ge-
währen, führte sie nicht nur zu eingehenderer Beschäftigung mit
normaler Anatomie, sondern weiterhin zu dem Versuche, auch die
krankhaften Abweichungen in der Struktur der Körperteile in ihre
Forschungen miteinzubeziehen. Der erfolgreichste Vertreter dieser
Richtung war der Schweizer Theophile Bonet (1620—1689), der
das Ergebnis seiner Untersuchungen in einem 1679 erschienenen
Buche „Sepulchretum seu anatomica practica ex cadaveribus morbo
denatis" niederlegte und damit für viele Spätere ein grundlegendes
Werk geschaffen hat.
Nicht minder bedeutungsvoll waren die Arbeiten einer Gruppe
anderer Aerzte, welche zum ersten Male in systematischer Weise
monographische Schilderungen einzelner Krankheiten sich zur Auf-
gabe machten. Der bedeutendste unter ihnen war wohl Sydenhams
Landsmann und Zeitgenosse Richard Morton, der eine umfang-
reiche Monographie über die Schwindsucht geschrieben hat; dann
Giovanni Maria Lancisi (1654 — 1720) und der Schaf fhauser Arzt
Wepfer, die beide von der Gehirn apoplexie handelten, und andere
mehr. Auch über Krankheiten exotischer Länder wurden Arbeiten
veröffentlicht, ferner über die bei bestimmten Berufen vorkommen-
den Leiden (wie das Buch des italienischen Arztes Bernardo
Ramazzini [1633 — 17 14] „De morbis artificium diatribe").
Die stärkere Betonung des praktisch-empirischen Standpunktes
brachte sodann auch die Einführung neuer Heilmittel und Methoden
mit sich. Eines der wichtigsten, die Chinarinde, war freilich schon
in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts aus Peru nach Europa
gebracht worden und hatte trotz mannigfacher Widerstände sich als
Spezificum gegen die Malaria durchgesetzt. Ihr folgten eine ganze
Reihe anderer Erzeugnisse tropischer Länder, wie die Ipecacuanha-
wurzel, die Radix Colombo u. a. m. Auch der Gebrauch der Heil-
quellen nahm einen großen Aufschwung, nachdem er seit der
römischen Zeit durch das Mittelalter hindurch — wenn auch keines-
wegs geruht — so doch ohne Zusammenhang zu der Medizin sich
Kasuistik der Krankheiten und neue Heilmethoden. 331
gehalten hatte. Unter dem Einflüsse der verbesserten chemischen
Kenntnisse über die Zusammensetzung der einzelnen Quellen sahen
sich nun auch die Aerzte veranlaßt, sich dieses wichtigen Heil-
faktors wieder mehr zu bedienen. Von anderen Heilverfahren ist
noch besonders die Bluttransfusion zu erwähnen. Die Anregung zu
dieser Maßnahme, welche auch schon früher theoretisch erörtert
worden war, ging von der HARVEYschen Entdeckung des Blutkreis-
laufes aus. Nach zahlreichen Versuchen teils am Tier, teils an
Menschen wurde der Eingriff wirklich ausgeführt durch den Fran-
zosen Jean Denis im Jahre 1666. Andere folgten. Aber das
Resultat war — teils wegen mangelnder Asepsis, teils wegen unzu-
reichender Technik — so wenig befriedigend, daß die Methode erst
viel später wirklich in die Praxis Eingang fand.
Abb. 171. Zeitgenössische Darstellung einer Blut-Transfusion.
Die Chirurgie und Geburtshilfe im 17. Jahrhundert.
Merkwürdigerweise traten die Fortschritte, welche die Chirurgie
im 17. Jahrhundert zu verzeichnen hatte, gegenüber denen der
anderen medizinischen Fächer erheblich zurück. Man hätte an sich
gerade für dieses Gebiet, dessen jeweilige Höhe doch innig mit
dem anatomischen Wissen verknüpft ist, eine starke Belebung durch
Abb. 172. Geburtshilfliches Demonstrationsmodell aus Holz um 1650 (Jenaer medizinisch-
historische Sammlung).
Die Chirurgie und Geburtshilfe im 17. Jahrhundert.
333
die erweiterten und verfeinerten Kenntnisse über den Bau des
menschlichen Körpers erwarten sollen. Daß diese keineswegs ein-
trat, lag hauptsächlich in den äußeren Verhältnissen begründet,
unter denen die Chirurgie noch immer zu leiden hatte (siehe unten
S. 338 f.). Hierzu gehörte vor allem die noch immer vorhandene
scharfe Trennung von der übrigen Medizin, welche sie an ihren Er-
folgen nur im geringen Maße teilnehmen ließ, und die auf die
Stellung und das Ansehen der Chirurgie nicht wenig drückte. Aller-
dings fehlte es auch an bedeutenden iMännern, die sich der Chirurgie
besonders gewidmet hätten. Am
ersten gab es tüchtige Chirurgen
noch in Frankreich, wo seitPARE
{s. S. 294 f.) sich dieses Fach
immer noch einer gewissen Pflege
zu erfreuen hatte. Reichte auch
niemand an diesen Meister an-
nähernd heran, so konnte doch
ein Mann, wie der 17 18 gestor-
bene Pierre Dionis, mit seinem
Werke „Cours d'operations de
Chirurgie" eine gewisse Beach-
tung beanspruchen. In Itahen
ragte Cesare Magati (1579
bis 1648) durch seine einfachen
und rationellen Grundsätze der
Wundbehandlung über eine
ganze Anzahl anderer mittel-
mäßiger Vertreter der Chirurgie
empor; in England war der be-
deutendste Chirurg der Leibarzt
Jakobs I., Richard Wisemann. Wohl der hervorragendste Chirurg
dieser Zeit überhaupt war der deutsche Wundarzt Wilhelm FABRYVon
Hilden bei Cöln (1560 — 1634). Man hat ihn — etwas kühn — sogar
den deutschen Pare genannt. Seine Hauptverdienste bestehen in
der Bereicherung des Instrumentariums sowie seinem Vorschlag zur
Verwendung einer mit einem Knebel versehenen Binde zur Um-
schnürung der Glieder bei der Amputation. Auch die Vornahme
der ersten Magnetextraktion eines Eisensplitters aus dem Auge wird
ihm zugeschrieben.
Erheblich günstiger gestaltete sich im 17. Jahrhundert die Ge-
burtshilfe, obgleich die äußeren Verhältnisse — wie weiter unten
noch zu zeigen sein wird — einer Hebung dieses Faches durchaus
nicht günstig waren. Zweifellos ist es das Verdienst einiger Frauen,
'jt aüb'mew.Jiihn ijtUqc
Abb. 1-3. JUSTINA SiEGEMüNDIN.
334
Die Chirurgie und Geburtshilfe im 17. Jahrhundert.
die erste Anregung zu einer besseren Ausgestaltung der Geburts-
hilfe gegeben zu haben. Vor allem wurde die Gründung einer
eigenen Gebäranstalt am Pariser Hotel Dieu vorbildlich, indem an
ihr Hebammen eine auf wirklichen Kenntnissen und Leistungen be-
gründete Ausbildung erhielten. Zu diesen Frauen zählte namentlich
Louise Bourgeois (1564 — 1612), die nicht nur praktisch als Heb-
amme tätig war, sondern
auch eine Schrift „Ob-
servations diverses" ver-
faßte. Eine noch größere
Bedeutung kommt Mar-
GUERITE DU TeRTRE ZU,
die seit 1660 als Ober-
hebamme und erste Leh-
rerin der Geburtshilfe
am Hotel Dieu wirkte.
In Deutschland war die
hervorragendste Vertre-
terin dieses Faches Ju-
stine Siegemund gegen
Ende des 17. Jahrhun-
derts; sie zeichnete sich
in ihrem Berufe so aus,
daß sie als „Churbranden-
burgische H of - Wehen -
mutter" nach Berlin be-
rufen wurde. Auch ver-
faßte sie ein recht gutes
Hebammen-Lehrbuch.
Q^aaiJt/vruni f/ürurqoru iAtvi/unsiti /oni/tii/, ^
ac cyflulierum, ^agnanluun,po/üu iL/ifu//n > ^
et oujertKrarupi ■ c,Atorl)lj
-;/-'■
Abb. 174. Franc;ois Mauriceau.
Durch das Wirken
dieser und einer Reihe
anderer ausgezeichneter
Geburtshelferinnen war der Boden so vorbereitet, daß nunmehr
— nach Ueberwindung des Vorurteils gegen das Eingreifen
männlicher Geburtshelfer überhaupt — auch Aerzte sich dem Fache
in steigender Zahl zuwandten. Nachdem JuLES Clement (1649 bis
1729) auf die Aufforderung Ludwigs XIV. die Dauphine entbunden
und damit den Bann gebrochen hatte, traten die Namen dreier
anderer französischer Geburtshelfer an die üeffentlichkeit: Franc^OIS
Moriceau (1637— 1709), Paul Portal (gest. 1703) und Guillaume
Mauquest de LA Motte (1655 — 1737). Während der erste dieser
Die Chirurgie und Geburtshilfe im 17. Jahrhundert.
335
drei Aerzte noch mit starken Widerständen zu kämpfen hatte und
zunächst einmal die Untersuchung der Schwangeren von Grund auf
neu gestalten mußte, worin er von dem zweiten unterstützt wurde,
hat Mauquest de LA Motte in seinem Werke: „Traite complet
des accouchements naturels, non naturels et contre nature" zum ersten
Male versucht, für die Behandlung aller vorkommenden Geburts-
formen bestimmte Grund-
sätze aufzustellen. Für alle
normalen Fälle hielt er das
Abb. 175.
Abb. 176.
Abb. 175. Darstellung der weiblichen Sexualorgane aus Maurickau, „Traite des Malacfies
des femmes grosses etc." Paris 1740.
Abb. 176. Darstellung von Geburtsbett und Stuhl etc. aus Justine Siegmund, „Unter-
richt von schweren und unrecht stehenden Geburten." Cöln a. Spree 1690.
abwartende Verfahren allein für angezeigt und trat für eine genaue, auf
guten anatomisch-physiologischen Kenntnissen beruhende Beobachtung
ein, die namentlich sich auf ein sorgfältiges Abwägen der natürlichen,
in der Wehetätigkeit zutage tretenden Kräfte des Geburtsorganismus
richtete. In solchen Fällen verwirft er jedes aktive Eingreifen. Da-
gegen macht er bei den nicht normal verlaufenden Geburten, die
336
Die Chirurgie und Geburtshilfe im 17. Jahrhundert.
durch irgendeinen Umstand erschwert werden, von gewissen ein-
fachen äußeren Maßnahmen Gebrauch. Nur bei den regelwidrigen
Lagen wendet er innerhch die Wendung — die er sorgfältig
ausgebildet hat — und im äußersten Notfalle auch zerstückelnde
Eingriffe an.
Ol^efi ^f-ij/ftiaai-. i'o-me'n^.i'uldi^f . en jtrj^u/Ut tUaarde. ff-taxjtS
Abb. 177. Titelblatt zu Deventers 1700 erschienenem Werke.
Das Aerztewesen im 17. Jahrhundert.
Im 17. Jahrhundert ist — offensichtlich unter dem Einfluß der
wissenschaftlichen Fortschritte auf vielen Gebieten der 'Medizin —
auch eine entschiedene Hebung ;des Aerztestandes zu bemerken.
Wenn auch nach wie vor eine staatliche Approbation nicht die
Voraussetzung für die Berufsausübung bildete, sondern immer noch
die medizinischen Fakultäten sämtlicher deutschen Universitäten das
Recht hatten, für ganz Deutschland die Erlaubnis zum Praktizieren
zu erteilen, so sorgte doch wenigstens der Staat dafür, daß die
Aerzte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit weitgehenden .Schutz ge-
nossen. Die von den Universitäten „rite" zugelassenen Aerzte, die
man als „medici puri" bezeichnete, erfreuten sich einer steigenden
Achtung. Auf deren Wahrung waren sie denn auch peinlichst be-
dacht. Ihre besondere Tracht, die sie jedem ohne weiteres kennt-
lich machte, ihr würdevolles, gravitätisches Auftreten hoben sie aus
der Menge heraus. Auch vermieden sie ängstlich alles, was sie in
den Augen des Publikums hätte herabsetzen können, so vor allem
jede Betätigung, bei denen eine eigene Handreichung erforderlich
gewesen wäre. Chirurgische Eingriffe, Beistand bei der Geburt, ja
selbst mancherlei notwendige Untersuchungen gehörten nicht zu
ihren Funktionen. Sie waren zwar oft dabei zugegen, legten aber
nicht selbst mit Hand an. Im wesentlichen beschränkte sich ihr ganzes
Tun auf die Stellung der Diagnose und die Verordnung eines
Rezeptes. Aber gerade dieses letztere wurde von ihnen mit einem
solchen Nimbus von tiefgründiger Gelehrtheit umkleidet und stellte
auch in der Tat in seiner Kompliziertheit ein solches Kunstwerk
dar, daß es als der Ausfluß allen medizinischen Wissens erschien.
Trotz dieser Verhältnisse waren die Anforderungen, welche die
Aerzte selbst an ihre Standesgenossen stellten, recht hohe. So ver-
langte der Helmstedter Professor Hermann Conring (1606— 168 i)
eine sorgfältige Auswahl der Medizinstudierenden nach ihrer körper-
lichen, geistigen und moralischen Eignung, ferner eine sorgfältige
Ausbildung, bei der die Praxis nicht der Theorie zuliebe vernach-
lässigt werden dürfe, schließlich Kenntnisse nicht nur auf dem
engeren Gebiete ihres Berufes, sondern darüber hinaus auch in all
den Dingen, die irgendwie auf die ärztliche Betätigung Bezug haben.
M eyer-S teineg a. Sudhoff, lllustr. Geschichte der Medizin. 32
338 Das Aerztewesen im 17. Jahrhundert.
Daß diese Forderungen nicht nur platonische waren, daß vielmehr
auf ihre Durchführung Nachdruck gelegt wurde, lassen die an vielen
Orten bestehenden Aerztekollegien erkennen, welche auf Fernhaltung
unlauterer Elemente bedacht waren.
Eine wichtige Frage blieb nach wie vor das Honorar. In länd-
lichen Gegenden, in denen allerdings die Aerzte ziemlich spärlich
waren, wurde es in der Regel in Naturalien abgeleistet. Die meisten
Städte hingegen hatten eine feste Taxe aufgestellt, die bei Streitig-
keiten zwischen Arzt und Kranken zugrunde gelegt wurde. Ein
ziemlich erheblicher Teil der wirklichen Aerzte stand übrigens in
einem festen Besoldungsverhältnis, sei es als Stadt-, Hof- oder Leib-
arzt. Die ersteren führten gewöhnlich den Titel „Physicus" im
Gegensatz zu dem einfachen praktischen Arzte, dem „Medicus", und
erhielten zumeist neben ihrem baren Gehalt noch allerlei Natural-
leistungen, wie Brennholz, Korn, freie Wohnung. Die Zahl der
Leib- und Hofärzte war bei der Menge der regierenden und nicht-
regierenden Herren eine recht erhebliche. Eine Reihe von Medi-
zinalordnungen, so die der Herzöge von Sachsen vom Jahre 1607
und die Churbrandenburgische vom Jahre 1685 regelten mancherlei
Fragen des öffentlichen Gesundheitswesens, waren aber in vieler
Hinsicht viel mehr ein Hemmschuh, als ein förderndes Moment der
ärztlichen Entwicklung.
Neben diesen „Medici" im engeren Sinne standen fast ebenso
geachtet die Wundärzte, welche größtenteils auch durchaus gebildete
Leute waren. Auch unter ihnen gab es solche mit fester Anstellung,
als Stadtchirurgen, Leibchirurgen u. a. Während die Geburtshilfe
bis zum 17. Jahrhundert ausschließlich in den Händen der Hebammen
gelegen hatte, begannen im Verlaufe dieses Jahrhunderts die Chirurgen
immer mehr, dieses Gebiet in den Bereich ihrer Tätigkeit mit ein-
zubeziehen. Viele von ihnen bildeten sich geradezu zu Geburts-
helfern aus.
Weit unter diesen beiden Kategorien standen die Barbiere und
Bader. Diese befaßten sich zwar auch mit gewissen Teilen der
Chirurgie, jedoch zumeist nur mit der sogenannten „niederen Chi-
rurgie", zu der die Entfernung von Warzen und Leichdornen, das
Schröpfen, der Aderlaß und ähnliche Maßnahmen gehörten.
Neben diesen wirklichen Vertretern der Medizin — auch die
letzteren kann man insofern dazu rechnen, als sie vielfach Gehilfen
der Aerzte waren — machte sich ein ausgedehntes Pfuschertum
breit. Wenn man auch durchaus nicht leugnen kann, daß viele
dieser Leute, die sich oft nur mit einer einzigen Heilmaßnahme be-
schäftigten, diese selbst mit einer gewissen Vollendung ausführten,
so charakterisierte sie doch ihr ganzes marktschreierisches, auf Be-
Das Aerztewesen im 17. Jahrhundert.
339
trug und x\usbeutung des Publikums berechnetes Auftreten als
Charlatane schlimmster Sorte. Diese Leute, wie z. B. die Stein-
schneider, Bruchoperateure, Starstecher übten in der Regel ihren
Beruf im Herum-
reisen aus, wobei sie
sich oft eines von
irgendeiner Behörde
oder einer angesehe-
nen Privatperson
ausgestellten Erlaub-
nisscheins zugleich
als Legitimation und
Reklame bedienten.
Der medizinische
Unterricht wurde im
Laufe des 17. Jahr-
hunderts erheblich
verbessert. Während
bis dahin die Schule
von Salerno immer
noch das Vorbild in
dieser Hinsicht ge-
blieben war, ging die
Führung allmählich
auf Frankreich und
die Niederlande über.
Besonders erfreuten
sich die Fakultäten
von Montpellier,
Paris und Leyden
eines außerordent-
lichen Zulaufs. Wie
schwer es den me-
dizinischen Fakul-
täten wurde, sich
von der alten Tra-
dition frei zu machen,
zeigen unteranderem
die Helmstedter Statuten, welche die Professoren ausdrücklich an-
wiesen, die ärztliche Kunst so zu bewahren und zu verbreiten, „wie
sie von dem göttlich berufenen Hippokrates, Galexos und Avicenna
Abb. 178. Epitaphium des Jenaer Professors der Philosophie,
Medizin, Anatomie, Chirurgie und Botanik JoH. A. Friderici
(gest. 1672) mit Emblemen seines Berufes (Originalaufnahme
Kollegienkirche in Jena).
340
Das Aerztewesen im 17. Jahrhundert.
richtig und unantastbar überliefert sei; dagegen alle Empirie, des
Paracelsus Tetralogien und andere verderbliche Erzeugnisse der
Medizin völlig fernzuhalten". Es spielte also immer noch die Aus-
legung der genannten Autoren eine gewaltige Rolle in dem Bil-
dungsgang des jungen Mediziners; und die praktische Unter-
weisung am Kranken-
bette wurde dadurch
stark in den Hinter-
grund gedrängt.
Es bedurfte des
ganzen Einflusses eines
hervorragenden Man-
nes, um hierin einen
ernstlichen Wandel zu
schaffen ; und dieses
war Sylvius. Er war
der erste, der wieder
auf die Notwendigkeit
der Unterweisung am
Krankenbette nicht nur
theoretisch hinwies,
sondern selbst einen
geordneten klinischen
Unterricht in Leyden
einführte und dadurch
sowohl eine große
Menge Medizinstudie-
render aus allen Teilen
Europas nach dort zog,
als auch andere Lehrer
der Heilkunde zu glei-
chem Vorgehen an-
regte. Der anatomische
Unterricht, der im 1 6. Jahrhundert einen so vielversprechenden Auf-
schwung genommen hatte, erfreute sich auch im 17. Jahrhundert einer
eingehenden Pflege, Die anatomischen Theater, in denen die Forscher
nicht nur ihre Untersuchungen machten, sondern auch öffentliche
Zergliederungen veranstalteten, waren an sehr vielen Hochschulen,
besonders in Italien, zu einer festen Einrichtung geworden. In
Deutschland blieb allerdings das Sezieren menschlicher Leichen
noch immer eine ziemliche Seltenheit, so daß z. B, zwei öffentliche
Zergliederungen, die im Jahre 1629 der berühmte Jenaer Professor
ROLFINK an Hingerichteten vornahm, ein ungeheures und unlieb-
Abb. 1 79. Bibliotheca anatomica.
Das Aerztewesen im 17. Jahrhundert. 341
sames Aufsehen erregte und der Anlaß wurden, jede menschliche
Sektion als „rolfinken" zu bezeichnen. Selbst unter den eigentlichen
Aerzten in Deutschland blieb ein merkwürdiges Vorurteil gegen die
Selbstbeschäftigung mit Anatomie bestehen. Die Professoren be-
schränkten sich darauf, bei den Zergliederung"en anwesend zu sein
und mit mündhchen Betrachtungen, die durch Hinweise mit einem
Stabe unterstützt wurden, die einzelnen Phasen der ZergUederung
und die dabei zutage tretenden Befunde zu erläutern.
Bei den Chirurgen wirkte der Zwang, zu ihrem Berufe über
gewisse anatomische Kenntnisse verfügen zu müssen, insofern
günstig, als sie sich weit ausgiebiger und vor allem unmittelbar
mit diesem Fache beschäftigten. In Italien wurde sogar regel-
mäßig die Chirurgie und Anatomie von dem gleichen Lehrer ver-
treten, so daß in diesem Lande auch niemals eine so scharfe
Trennung der Chirurgie von der übrigen Medizin sich vollziehen
konnte. Am besten geregelt war der chirurgische Unterricht in
Frankreich, wo im übrigen ähnliche Verhältnisse wie in Italien
bestanden.
Trotz dieser entschiedenen Besserung des chirurgischen Unter-
richts blieb der Lehrbetrieb in der Geburtshilfe noch außerordentlich
mangelhaft, obgleich doch viele und tüchtige Chirurgen gleichzeitig
vortreffliche Geburtshelfer waren. Man kam eben noch immer nicht
über das Vorurteil hinweg, das den männlichen Aerzten die un-
mittelbare Berührung der Frau als nicht dem Anstand entsprechend
verwehrte oder doch sehr erschwerte. So blieb die berühmte Ent-
bindungsanstalt am Hotel Dieu zu Paris den Aerzten unzugänglich,
sie wurde ausschließlich von Hebammen geleitet und versorgt, die
dadurch freilich ihr Wissen und Können und damit ihr Ansehen
erheblich erweiterten. Die Aerzte, welche Geburtshilfe treiben
wollten, blieben für ihre Ausbildung großenteils auf die Benutzung
von Modellen und Phantomen angewiesen und mußten im übrigen
erst durch die Erfahrung in der Praxis lernen.
Systembildung in der Medizin des i8. Jahrhunderts.
Hoffmann, Stahl und Boerhave und die ältere
Wiener Schule.
Nachdem unter dem Einflüsse Sydenhams und gleichgesinnter
Aerzte gegenüber der drohenden Ueberhandnahme der theoretischen
Richtung in der Medizin eine Rückkehr zu mehr praktisch-empirisch
gerichteten Grundsätzen in die Wege geleitet worden war, schien
es, als ob die Heilkunde ungestört in diesen Bahnen für einen
längeren Zeitraum schreiten würde. Aber der Einfluß der allge-
meinen Zeitströmung trug in diese ruhige Entwicklung einen Zug
hinein, der — freilich unter erheblich veränderten Verhältnissen —
zur Wiederaufnahme der Bestrebungen der medizinischen Schulen
des verflossenen Jahrhunderts zurück und weit darüber hinaus zu
umfassenden Systembildungen führte. Wurde hierdurch aber auch
die Stetigkeit der Entwicklung entschieden ungünstig beeinflußt, so
wirkte doch auf der anderen Seite der Wettbewerb zwischen den
beiden entgegengesetzten Richtungen anregend und fördernd und
reifte in einigen führenden Persönlichkeiten zu einem gewissen Aus-
gleich der Gegenpole.
Die unverkennbare Wirkung, welche die Philosophie des i8. Jahr-
hunderts auf die Medizin ausgeübt hat, beruhte weniger darauf, daß
jener Lehren und Anschauungen unmittelbar von der Heilkunde
übernommen wurden, als vielmehr auf der allgemeinen Anregung,
welche sie dadurch empfing. Ganz besonders gilt dies für die
deutsche Medizin, welche in gewissem Sinne die Führung über-
nahm. Hier entfalteten vor allem Leibniz (1646 — 17 16) und sein
Schüler Christian Wolff (1679 — 1754) einen tiefgehenden Einfluß
auf das ärztliche Denken. Die Ausschaltung alles Mystischen aus
dem naturwissenschaftlichen Denken und damit auch aus der Me-
dizin, die Anregung zur Benutzung aller Hilfsquellen, wie der
Mathematik, Physik, Mikroskopie, zur Begründung medizinischer
Zeitschriften und manche andere Gedanken mehr haben außerordent-
lich fördernd gewirkt.
Unter den Naturwissenschaften hatte die Physik bedeutsame
Fortschritte aufzuweisen. Namen, wie Newton, Bernoulli, Euler,
Franklin, Volta, Galyani u. a. m. bezeichnen die hauptsäch-
Systembildung in der Medizin des i8. Jahrhunderts usw. 343
liehen Leistungen. In der Chemie fiel eine wichtige Rolle der
phlogistischen Theorie Erxst Stahls zu, welcher davon ausging,
daß die Verbrennung aller Körper abhängig sei von ihrem Gehalt
an „Phlogiston". Also eine Vorausahnung des Sauerstoffes, der
dann durch Priestley entdeckt wurde, wodurch dann wiederum
Lavoisier den Antrieb zur endlichen richtigen Erklärung des Ver-
brennungsprozesses erhielt.
Im übrigen haben sich auch die meisten hervorragenden Aerzte
dieser Zeit mit allgemein-naturwissenschaftlichen Fragen, ganz be-
sonders auch mit Chemie und Phj^sik befaßt; wie denn überhaupt
der Zusammenhang mit den beiden Schulen der Jatrophysiker und
Jatrochemiker im 18. Jahrhundert nicht ganz verloren gegangen war.
Und so selbständige Köpfe auch die leitenden ^länner in der Heil-
kunde dieser Epoche waren, so ist doch die Nachwirkung älterer
Anschauungen und Lehren bei ihnen zumeist unverkennbar.
Sehr deutlich sichtbar ist dieser Zusammenhang bei dem bereits
erwähnten Ernst Stahl. Dieser Mann, der 1660 zu Ansbach ge-
boren wurde, genoß seine Ausbildung v^or allem unter dem seiner-
zeit ziemlich bekannten Jatrochemiker, dem Jenaer Professor
G. W. Wedel, wurde dann selbst Dozent in Jena nnd 1694 Professor
in Halle, wo er sich mit Friedrich Hoffmann in die einzelnen
Fächer der Medizin teilte. Infolge eines Zenvürfnisses beider ver-
ließ Stahl 1716 Halle und wurde Leibarzt des Königs in Berlin,
wo er 1734 starb.
Sein wichtigstes Werk, in dem er seine Anschauungen nieder-
gelegt und sein „System" begründet hat, ist die 1708 erschienene
„Theoria medica vera, physiologiam et pathologiam tanquam doc-
trinae medicae partes vere contemplativas e naturae et artis veris
fundamentis intaminata ratione et inconcussa experientia sistens".
Der Titel zeigt schon an sich allerlei Charakteristiches für seinen
Verfasser: einmal sein festes Ueberzeugtsein von der Richtigkeit
seiner Lehren, sodann aber auch die Grundgedanken des Aufbaues
für sein System. Dieses ist ausgesprochen „dynamisch-organistisch"
und zeigt dabei deutlich einen pietistischen Einschlag. Den Ausgangs-
punkt bildet für ihn die als oberstes Lebensprinzip — nach Art der
hippokratischen Physis oder des Hohenheimschen Archaeus — auf-
gefaßte „Anima". Sie teilt der toten Materie das Leben mit, sie
hält im normalen Körper alle Funktionen im Gleichgewicht und
wirkt dem Zerfall entgegen. Dieser und damit der Tod kann daher
nur dadurch eintreten, daß die „Anima" den Körper verläßt. Die
Kraft, deren sich die Seele zu ihren Funktionen im Körper bedient,
344 Systembildung in der Medizin des i8. Jahrhunderts.
ist die Bewegung, und zwar eine Bewegung, die einen bestimmten
„Tonus" der zu bewegenden Teile oder Organe bedingt, Krankheit
ist somit eine Behinderung des normalen Tonus und das dadurch
automatisch ausgelöste Bestreben der Anima, ihn wiederherzustellen.
Sie bewirkt dieses hauptsächlich durch Einfluß auf den Kreis-
lauf des Organismus, denn dessen Behinderung ist eine der wich-
tigsten Ursachen der Bewegungshemmungen. Eines der wirk-
samsten Selbsthilfemittel ist das Fieber, das als Ausdruck einer
erhöhten Tätigkeit der Anima betrachtet wird. Ihm nahe steht die
Entzündung, die sich im Grunde nur durch die örtliche Begrenzung
davon unterscheidet.
Auf diesem Wege nähert sich dann Stahl mehr humoral-
pathologischen Anschauungen, Denn bei der Krankheitsätiologie
spielt die „Vollblütigkeit" eine große Rolle, für die die Anima im
Kindesalter durch Nasenbluten, im Jünglingsalter durch Blutspeien,
im reifen Alter oder beim Weib durch die Menses, beim Manne
durch Hämorrhoidalblutungen einen Ausgleich selbsttätig schafft.
Sein oberster Behandlungsgrundsatz ist folgerichtigerweise die
Unterstützung der Anima in ihren Bestrebungen, also ganz wie bei
HiPPOKRATES die Physis, Auch dessen Wort „^öoek; vouawv latpoi"
findet sich bei Stahl in der Auffassung wieder, daß „der Mensch
seinen Arzt in sich habe, daß die Natur der Arzt der Krankheiten
sei". Die Behandlung muß demnach versuchen, in der gleichen
Weise auf die abnormalen „Bewegungen" einzuwirken, wie dies die
„Anima" gleichsam vormacht. Sind die Bewegungen zu stark, so
muß man dämpfen. Das wichtigste Mittel ist der die natürlichen
Blutentleerungen nachahmende Aderlaß, daneben Abführ-, Brech-,
Schweißmittel u. ä. m. Umgekehrt wendet Stahl bei zu schwachen
Bewegungen Reizmittel der verschiedensten Art an. Dagegen ver-
wirft er auf das schärfste alle Mittel, deren Anwendung seine Theorie
entgegenstand: vor allem Opium und Chinin. Bedeutsam war sein
Versuch, als einer der ersten wieder die psychische Behandlung der
Geisteskranken einzuführen.
Die STAHLsche Lehre, die man, als Ganzes genommen, als
„Animismus" bezeichnete, stellte somit ein trotz mancher Inkonse-
quenzen recht einheitliches System dar. Und dieser Einheitlichkeit
vor allem verdankte er die zahlreichen Anhänger. Denn einer sach-
lichen Kritik mußten die erheblichen Mängel und — selbst im
Lichte der damaligen Zeit — auffallenden Rückständigkeiten in die
Augen springen. Erklärte doch derselbe Mann, dessen Bedeutung
vor allem in seinen theoretischen Anschauungen liegt, die Anatomie
und Physiologie sowie überhaupt alle Beschäftigung mit gelehrt-
wissenschaftlichen Dingen für einen Arzt als überflüssig und ver-
Hoffmann, Stahl u. Boerhave u. die ältere Wiener Schule. 345
stieg sich sogar zu der Behauptung, daß gute Theoretiker schlechte
Praktiker seien. Stahl hat demnach, so bedeutsam auch die von
ihm ausgehende Reaktion gegen die einseitig sich überschätzenden
Chemiatriker und Jatrophysiker war, mit seinem ,.S\^stem" weit über
das Ziel hinausgeschossen. Und so bestechend seine* Gedanken in
mancher Hinsicht auch waren, so haben sich doch nur verhältnis-
mäßig wenig Aerzte ihnen angeschlossen. Eine eigentliche Schule
hat er nicht gebildet.
Weit größer war der Einfluß, den die in sachlicher und per-
sönlicher Gegnerschaft gegen Stahls System entstandenen Lehren
seines Zeitgenossen
Friedrich Hoff-
MANX zu gewinnen
vermochten. Dieser
ebenfalls 1 660 zu
Halle geboren, war
ebenso wie jener ein
Schüler Wedels in
Jena, später aber
nach seiner Pro-
motion Schüler des
englischen Jatrophy-
sikers ROB. Boyle.
1688 wurde er Phy-
sikus zu Halberstadt,
6 Jahre später Pro-
fessor in Halle. 1 709
berief man ihn zum
Leibarzt Friedrichs I.
nach Berlin, das er
aber infolge von In-
triguen bald verließ,
um nach Halle zu-
rückzukehren, wo er
bis zu seinem 1742
erfolgten Tode an
seiner alten Stelle
wirkte.
Hoffmann war
eine fast in allen
Stücken anders ge-
Abb. 180. Friedr. Hoffmann.
346 Systembildung in der Medizin des 18. Jahrhunderts.
artete Persönlichkeit wie Stahl. Trotz der mancherlei namentlich
äußeren Berührungspunkte beider wandelte sich daher ihre Freundschaft
bald in offene Feindschaft, zu der vor allem auch die größeren prak-
tischen Erfolge Hoffmanns dem ehrgeizigen und empfindsamen Stahl
Veranlassung gaben. In seinen Anschauungen ist Hoffmann ge-
radezu ein Musterbeispiel dafür, wie man die ältesten medizinischen
Theorien auch von einem modernen Standpunkte aus verwerten und
unter Benutzung der fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen Er-
kenntnisse und Methoden zu einem ziemlich geschlossenen System
verarbeiten kann. Zweifellos stand er nicht wenig unter dem Ein-
fluß Leibnitz' und Wolffs; des letzteren namentlich darin, daß er
so meisterhaft verstand, durch eine Art mathematischer Demonstrier-
methode und systematischer Form seinen Darlegungen einen der-
artigen Schein von Gründlichkeit zu geben, daß ein tieferes Eindringen
in seine Gründe sich zu erübrigen schien.
In seinem Hauptwerk „Medicina rationalis systematica", das er
erst wenige Jahre vor seinem Tode vollendete (es umfaßte g Bände),
hat er sein System bis in alle Einzelheiten entwickelt, das eine sehr
geschickte Verknüpfung von mechanistischen und dynamistischen
Gedanken darstellt. Der Gang derselben ist etwa folgender : Unsere
Erkenntnis ist begrenzt und auf das sinnlich Wahrnehmbare be-
schränkt. Alle Kräfte und die durch sie bedingten Vorgänge haften
der Materie an und treten als Bewegung, als Wirkung und als Gegen-
wirkung, als Zusammenziehung und Ausdehnung in die Erscheinung.
Leben ist also Bewegung, namentlich des Herzens und damit des
Blutes; Tod ist Stillstand der Bewegung, und als Folge Eintreten
von Fäulnis. Gesundheit ist das normale Ablaufen aller Bewegungen,
Krankheit ihre Störung. Die normale Blutbewegung hat das rich-
tige Verhalten der Absonderungen und Ausscheidungen zur Folge.
Auch die Verdauung hängt von der durch die Blutversorgung er-
haltenen Körperwärme ab und beruht im übrigen auf einer Um-
wandlung der Speisen infolge des beigemengten Speichels. Der
Körper als Ganzes ist mit einer hydraulischen Maschine zu ver-
gleichen, die von einer Art Nervenfluidum, dem „Aether", gespeist
wird. Dieser ist vor allem in den Gehirnventrikeln vorhanden und
wird von diesen aus durch die Bewegung des Gehirns zum Teil auf
dem Wege der Nervenröhrchen dem ganzen Organismus mitgeteilt,
zum anderen Teile kreist er mit dem Blute. Zwischen beiden Systemen
besteht eine Verbindung. Ueberall aber regelt das Fluidum den nor-
malen „Tonus" des Gewebes.
Durch zu starkes oder zu schwaches Strömen des Nervenfluidums
entsteht ein krankhafter Zustand von Spasmus oder umgekehrt von
Atonie. Durch Befallensein eines bestimmten Körperteils kann ein
HoFFMAXN, Stahl u. Boerhave u. die ältere Wiener Schule. 347
anderer Teil in Mitleidenschaft gezogen werden, auch wenn er jenem
nicht benachbart ist: es bestehen eben zwischen bestimmten Organen
gewisse „sympathische" Beziehungen ; so zwischen Xervensj'stem und
Verdauungsorganen, zwischen Mamma und Uterus usw.
Die Behandlungsgrundsätze Hofpmanns sind, der scheinbaren
Durchsichtigkeit seiner Krankheitslehre entsprechend, mit Bewußtsein
äußerst einfach gehalten. Die hauptsächliche Vorbedingung für die
Aufstellung des Heilplans liegt darin, festzustellen, in welcher Hin-
sicht die normalen „Bewegungen" des Organismus gestört sind, und
in welcher Weise der „Tonus" der Gewebe dadurch verändert ist.
Daraus ergaben sich nach den beiden Hauptgruppen auch zwei ent-
gegengesetzte Behandlungsmethoden: die eine, welche darauf abzielte,
die behinderten Bewegungen und den dadurch gestärkten Tonus
durch krampf widrige, beruhigende, lösende, ausleerende Mittel zu be-
kämpfen, im umgekehrten Falle durch verschiedenartige Reizmittel
die Bewegungen anzuregen imd die Spannung zu erhöhen. Eine
wichtige Rolle ließ Hoffmann dabei den diätetischen Verordnungen
aller Art, Mineralwässern und dem Aderlasse zukommen. Aber auch
arzneiliche Mittel verwandte er in mäßigem Umfange, besonders gern
die von ihm selbst erfundenen, wie „Balsamum vitae", „Elixir vis-
cerale Hoffmanni" und die bekannten Hoffmanns Tropfen.
Auf der anscheinenden Folgerichtigkeit seiner Gedanken und
der sich daraus ganz zwanglos ableitenden Behandlungsgesichtspunkte
und auf der Einfachheit seiner Mittel, die im wohltuenden Gegensatz
zu der Vielgeschäftigkeit mancher Zeitgenossen stand, beruhte der
größte Teil des Erfolges, dessen sich Hoffmann bei seinen Patienten
und bei Aerzten zu erfreuen hatte. Diese Tatsache erfährt auch da-
durch keinen Abbruch, daß sein System, kritisch betrachtet, selbst
im Spiegel des damaligen Forschungsstandes auf recht wackeligen
Füßen stand und seine Einheitlichkeit nur der außerordentlich ge-
schickten Verquickung alter Lehren mit neueren naturwissenschaft-
lichen Ergebnissen verdankte.
Ein noch viel weiter gehender Eklektizismus liegt den Lehren
eines anderen Zeitgenossen Stahls und Hoffmanns zugrunde,
Hermann Boerhaves. 1668 zu Vorhout bei Leyden als Sohn
eines Pfarrers geboren, studierte er zunächst Theologie, dann aber
bald Medizin zu Leyden. 1693 dort promoviert, praktizierte er mit
großem Erfolge und wurde, nachdem er eine Stelle als Leibarzt ab-
gelehnt hatte, 17 13 Nachfolger seines Lehrers Drelincourt auf
dessen Lehrstuhl für theoretische Medizin. Am größten war sein
Erfolg als klinischer Lehrer, der so weit ging, daß von überall her
348
Systembildung in der Medizin des i8. Jahrhunderts.
Schüler nach Leyden strömten. Infolge von Gicht, die ihn seit
seinem 50. Lebensjahre plagte, legte er 1729 sein Lehramt nieder
und starb 1738,
Wohl wenige Aerzte haben sich einer solch ungeteilten An-
erkennung und Beliebtheit erfreut wie Boerhave. Sie beruhte vor
allem auf einer seltenen Harmonie von Geist und Gemüt: er wußte
ein umfassendes Wissen und einen scharfen Verstand in glücklichster
Abb. 181. Herm. Boerhave.
Weise mit einer tiefen Herzensgüte und einem lauteren Charakter
zu vereinigen, in einer Weise, wie diese Eigenschaften sich selten in
einer Persönlichkeit zusammenfinden.
In seinen Bestrebungen knüpfte er unverkennbar an den ihm
durchaus wesensverwandten Sydenham an. Deshalb stellen seine
Anschauungen keineswegs ein geschlossenes System dar, obgleich
sie seinen Zeitgenossen offenbar als ein solches erschienen. Es fehlt
Hoffmann, Stahl u. Boerhave u. die ältere Wiener Schule. 349
hierzu vor allem der einheitliche Grundgedanke, den man vergeblich
in seinen Schriften sucht. Diese lassen vielmehr deutlich das Be-
streben erkennen, auf der einen Seite die Forschungsresultate der
Anatomie und Physiologie mit den Beobachtungen und Erfahrungen
am Krankenbette in Einklang zu bringen — wobei übrigens stets
den letzteren der Vorrang eingeräumt wird — auf der anderen Seite
suchte er aus den Lehren der Aerzte aller Zeiten, die ihm aus tief-
gehenden historischen Forschungen bekannt waren, das ihm Zu-
sagende und Einleuchtende auszusuchen, war aber auch hier stets
bemüht, die Theorie der Praxis unterzuordnen. Ueberall leuchtet
bei ihm das hippokratische Vorbild hindurch, dessen Erneuerung er
sich als oberstes Ziel gesetzt hatte. Besonders sichtbar tritt dies in
seinen „Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis" — seinem
wichtigsten Werke neben den „Institutiones medicae" — hervor.
Aus dem Gesagten ergibt sich ohne weiteres die Schwierigkeit,
den Gedankengang von BOERHAVEs Lehren im Zusammenhang
wiederzugeben. Seine Krankheitslehre geht davon aus, daß, ebenso
wie alle anderen organischen Vorgänge auf der Bewegung fester
oder flüssiger Teile beruhten, so auch die Krankheit nichts anderes
sei, als eine Bewegungsstörung, die ihren Sitz entweder in den Ge-
weben oder in den Säften haben könne. Im ersteren Falle handelt
es sich um organische Bildungsfehler, um Abweichungen in der
Zahl, Größe oder Lage der Gewebsbestandteile oder um zu starke
oder zu geringe Spannung. Im anderen Falle um quantitative Ver-
änderungen, besonders Plethora oder Mischungsabweichungen, die
sich als sogenannte „Acrimonia" äußerten und saurer, salziger, herber,
aromatischer, fettiger, alkalischer oder leimiger Natur sein könnten.
Also eine auf die Spitze getriebene, mit anderen Theoremen durch-
setzte Dyskrasielehre, die an sich keinerlei Fortschritte gegenüber
ähnlichen älteren Anschauungen bedeutet. Hervorragend dagegen
sind die vortrefflichen Krankheitsschilderungen, die er auf Grund
einer außerordentlich sorgfältigen Beobachtung und Untersuchung
der Kranken (unter erstmaliger Zuhilfenahme von Thermometer und
Lupe) gewann. Auf dem Gebiete der Klinik lieg^ deshalb auch
der große Einfluß, den BOERHAVE noch für lange Zeit auf die
Medizin ausgeübt hat. Und die eigentliche Fortsetzung seiner Be-
strebungen ruhte in den Händen desjenigen seiner Schüler, der
seine praktischen Ideen aufnahm und weiter ausbaute, Gerhard
VAN SWIETEN.
V.\x SwiETEN war 1700 in Leydeii geboren, studierte zunächst
Staatslehre, wandte sich dann aber der Medizin zu. Er wurde bald
250 Systembildung in der Medizin des i8. Jahrhunderts.
BOERHAVEs Lieblingsschüler, promovierte 1725. Da er als Katholik
in Leyden nicht amtlich angestellt werden konnte, blieb er als
Assistent seines Meisters in Leyden, bis ihn eine Berufung Maria
Theresias 1745 nach Wien holte. Dort wurde er Leibarzt der
Kaiserin und Vorsteher des gesamten österreichischen Medizinal-
wesens. Als solcher erhielt er vor allem den Auftrag, die Wiener
medizinische Schule zu reformieren, und hat diese Aufgabe in
glänzender Weise gelöst. Reorganisatorische Betätigungen auf allen
Gebieten des Gesundheitswesens füllten neben schriftstellerischer
und praktisch-ärztlicher
Tätigkeit sein Leben
bis zu dem 1772 er-
folgten Tode aus.
Wie sehr VAN
SwiETEN im Geiste
BoERHAVEs wirkte,
lehrt schon sein Haupt-
werk, die Kommentare
zu den Aphorismen
seines Meisters, das voll
ist von ausgezeichneten
Beiträgen zur Krank-
heitskasuistik und zur
Therapie. Die nach ihm
benannte (Liquor VAN
Swieten) Sublimat-
Abb. 182. Gerh. van Swieten. , / , . ■,. ■,
lösung (als mnerliches
Mittel gegen Syphilis) stellte unter anderem eine wichtige Neue-
rung dar.
Hatte VAN Swieten die Einrichtung der Wiener Klinik nach
BoERHAVEs Vorbild in die Wege geleitet, so blieb ihre volle Aus-
gestaltung einem anderen Schüler des Leydeners Meisters vor-
behalten: Anton de Haen. Dieser Mann, der, 1704 im Haag ge-
boren, die gleiche Ausbildung wie VAN Swieten genossen hatte,
wurde von diesem in uneigennütziger Weise 1754 nach Wien be-
rufen, wo er 1776 starb. Er war ein glänzender und für seinen
Beruf in seltener Weise befähigter Geist, aber nicht ohne erhebliche
Fehler, unter denen eine starke Ueberheblichkeit und Unduldsamkeit
gegen Andersdenkende, vor allem aber ein gewisser Sinn für
mystische Dinge und ein daraus entspringender, mit seinen sonstigen
Anschauungen im scharfen Gegensatz stehender Hexenglaube her-
vortraten. Im übrigen war er der geborene Kliniker und stellte
als solcher Beobachtung und Erfahrung am Krankenbette weit über
Hoffmann, Stahl u. Boerhave u. die ältere Wiener Schule. 351
alles andere in der Medizin. In seiner vollkommenen Verachtung
gegenüber jedem System stellt er eine deutliche Reaktion gegen
die besonders von Hoffmann und Stahl beeinflußte Richtung
dar und bekennt sich trotz mancher Inkonsequenzen im einzelnen,
zu einem ausgesprochenen Hippokratismus. Als dessen Verfechter
neigte er denn auch folgerichtigerweise und ersichtlich zu einer
humoralpathologischen Betrachtungsweise, ohne dieser freilich ein-
seitig zu verfallen. In seinem von 1758 — 79 erschienenen Hauptwerke
„Ratio medendi in nosocomio practico Vindobonensi", das ein
durch mehr als 20 Jahre fortgeführter Jahresbericht ist, hat er in
vorbildlicher Weise das gesamte klinische Material verarbeitet.
Ohne eigentliche systematische Behandlung des Stoffes — die sich
ja auch schon durch die kasuistische Form des Werkes von selbst
verbot — bringt er eine Fülle trefflicher Beobachtungen, eine Reihe
neuer Krankheitsbilder, zahlreiche epikritische Angaben auf Grund
von Sektionen und schließlich auch manchen wichtigen neuen
Fingerzeig für die Krankenbehandlung.
Neben diesem Werke, das bei den zeitgenössischen Aerzten als
Quelle des Wissens eine außerordentlich große Rolle spielte, beruhte
der Einfluß de Haens vor allem auf der glänzenden Ausbildung
des Klinikwesens und des klinischen Unterrichts. Er ist der eigent-
liche Schöpfer der sogenannten „älteren Wiener Schule", welche
eine ganze Reihe bedeutender Forscher hervorgebracht und zahl-
reichen Aerzten aus allen Ländern eine vortreffliche praktische
Ausbildung vermittelt hat. Unter den ersten wäre namentlich der
Nachfolger van Swietens in der Leitung des österreichischen
Medizinalwesens Anton Stoerck (1749— 1803) zu erwähnen,
der sich vor allem durch seine Arbeiten über die Wirkung
verschiedener bis dahin wenig erforschter pflanzlicher Giftstoffe einen
Namen erwarb. Ferner MAXIMILIAN Stoll (1742 — 1787), der mit
einer starken Hinneigung zu vorwiegend humoralpathologischer Be-
trachtung ein für seine Zeit ungewöhnliches Verständnis für die
Bedeutung pathologisch-anatomischer Untersuchungen verband und
ein ausgezeichneter Lehrer im Klinikwesen war. Die Bedeutung
eines weiteren Abkömmlings der Wiener Schule, Leopold Auen-
BRUGGERs (17 22 — 1809) ist von seiner Zeit nicht erkannt worden.
Sie lag in der Erfindung der Perkussion, die er als „Inventum novum
ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris
morbus detegendi" 1761 veröffentlichte. Diese Erfindung wurde
zunächst völlig unbeachtet gelassen und verdankt ihre Anerkennung
erst dem Eintreten des Napoleonischen Leibarztes Corvisart (1808).
352 Systembildung in der Medizin des i8. Jahrhunderts usw.
Sie wurde dann der Ausgangspunkt für die ganze Ausgestaltung
der modernen physikalischen Diagnostik und hat zweifellos den
Anstoß, wenn auch nicht zu einer weiteren Erfindung selbst, so
doch zu ihrer Ausnutzung gegeben : zur Einführung der Auskultation
durch Rene Laennec (i8i8), der diese ganz in Vergessen-
heit geratene Untersuchungsmethode wieder aufnahm und zu der
unmittelbaren Behorchung diejenige mit dem von ihm angegebenen
„Stethoskop" hinzufügte. Obgleich es somit nicht an bedeutenden
Männern fehlte, welche der Wiener Schule angehörten oder doch
von ihrem Geiste befruchtet waren, so währte doch der Einfluß
Wiens nur einige Jahrzehnte und ist in den neunziger Jahren des
1 8. Jahrhunderts schon deutlich
im Sinken begriffen. Immer-
hin ist die Bedeutung eines
Mannes wie Johann Peter
Frank (1745 — -1821), der von
1795 bis 1804 in Wien als
Leiter des Wiener allgemeinen
Krankenhauses und der inneren
Klinik wirkte, nicht zu unter-
schätzen. Sein 1792 erschie-
nenes Werk „de curandis ho-
minum morbis epitome"Jiat mit
seiner knappen und klaren
Form der Darstellung sowie
durch sein e vortreffliche Brauch-
barkeit für die Praxis noch
Jahrzehnte über Franks Tod
hinaus sich großen Ansehens
und großer Verbreitung erfreut. Auch sein Handbuch der medi-
zinischen Polizei ist vorbildlich für die ganze öffentliche Gesund-
heitspflege geworden.
Einer der Hauptgründe für die verhältnismäßig kurze Dauer
dieser bedeutsamen Epoche der Medizin liegt in dem immer und
immer wieder hervortretenden Streben des ärztlichen P'orschergeistes'
den praktischen Erfolgen eine der fortgeschrittenen naturwissen-
schaftlichen Erkenntnis entsprechende bessere theoretische Unterlage
zu geben. Dieses Streben fand im 18. Jahrhundert seinen sicht-
barsten und zugleich bedeutsamsten Ausdruck in dem Manne, den
man wohl als den ersten ärztlichen Naturforscher im modernen
Sinne bezeichnen kann: Albrecht von Haller.
Abb. 183. J. P. Frank.
Die Neubegründung der Physiologie durch Albrecht
von Haller. Anatomen und Physiologen in seinen
Bahnen. Die Lehren CuUens und Browns. Gaub
und die Pathologie.
Die Verhältnisse, unter denen Haller wirkte, waren in vieler
Hinsicht denen ähnhch, welche Galex im 2. Jahrhundert n. Chr.
vorfand. Wie im Altertum mit den großen Alexandrinern die ana-
tomisch-physiologische Forschung einen ungeheuren Aufschwung
begonnen und in einer meh-
rere Jahrhunderte hindurch
gehenden Forschertätigkeit zur
Aufsammlung eines bereits er-
staunlichen Tatsachenmaterials
auf diesen Gebieten geführt
hatte, so waren auch von Vesal
ab diese beiden Fächer als die
Grundlage des medizinischen
Lehrgebäudes nach fast andert-
halbtausendjährigem Schlafe zu
neuem Leben erweckt worden
und hatten Entdeckung auf
Entdeckung gehäuft. Wie vor
Galen die griechisch-römische
Medizin in einem auf und ab-
wogenden Streite der verschie-
denen Schulen (Dogmatiker,
Empiriker, Methodiker usw.)
die Grundprobleme der Medizin
von den mannigfachsten Seiten
aus aufgefaßt und — wenn auch zumeist in einseitiger Weise — so
doch nicht ohne Förderung zu lösen versucht hatte, so hatten sich
von Paracelsus ab ganz ähnliche Kämpfe zwischen den latro-
chemikern, latrophysikern, Hippokratikern usw. abgespielt und in
beiden Epochen schließlich wieder auf der einen Seite zu einer
Reaktion im Sinne einer Bevorzugung des rein praktisch-klinischen
Abb. 184. Albrecht von Haller.
Meyer-Steineg u. Sndboff, Illustr. Geschiebte der Medizin.
23
354 Neubegründung der Physiologie durch Albrecht von Haller.
Standpunktes geführt. Auf der anderen Seite aber drängten, ebenso
wie zu Galens Zeit, so auch wieder vor Haller, die großen, aber
ohne inneren Zusammenhang nebeneinander stehenden Fortschritte
in der Naturerkenntnis zu einer Zusammenfassung durch einen ein-
zigen überragenden Geist nach einem einheithchen Grundgedanken.
Und wie im 2. Jahrhundert Galen diese Aufgabe auf sich genommen
hatte, so im 18. Jahrhundert Haller.
Im Jahre 1708 zu Bern geboren, zeigte er schon früh eine seltene
wissenschaftliche Begabung. Nach kurzen Studien unter dem Tü-
binger Anatomen DuvERNOY, ging er nach Leyden und war dort
namentlich Schüler BoERHAVEs und Albinus*. Mit 19 Jahren im
Besitze des Doktorhutes, unternahm er weite Reisen, die ihn nach
London, Paris und dann nach Basel führten und ihm bei den ver-
schiedensten hervorragenden Aerzten reiche Anregung und Be-
lehrung brachten. Mit 26 Jahren wurde er in seiner Vaterstadt
Lehrer der Anatomie und Leiter eines Hospitals, aber schon ein Jahr
später als Professor der Anatomie, Chirurgie, Chemie und Botanik
nach Göttingen berufen (1746). Dort entfaltete er von vornherein
eine ebenso in die Tiefe wie in die Breite gehende Wirksamkeit
und verstand es, das Ansehen Göttingens und namentlich der medi-
zinischen Fakultät derart zu heben, daß von überall her die Stu-
dierenden dorthin strömten, und es bald als eine besondere Empfehlung
galt, bei Haller gehört zu haben. Trotzdem ging er im Jahr 1753
nach Bern zurück, teils infolge eines Leidens, teils weil es ihn mit
Macht in die Heimat zog. Dort lebte er, vorwiegend literarisch
tätig, daneben aber auch als Dichter und auch als Förderer des
Gemeinwohls seiner Vaterstadt wirkend. Er starb 1777 an Magen-
krebs.
Hallers wichtigste Arbeiten betreffen — auch hierin eine Ver-
wandtschaft mit Galen — die Anatomie und besonders die Physio-
logie. Das letztere Gebiet entbehrte bis auf ihn trotz der zahlreichen,
hervorragenden Einzelleistungen (man denke an Harvey und seine
Nachfolger!) noch jeder einheitlich zusammenfassenden Bearbeitung.
Es war eine Sammlung von vielen Tatsachen. Auch äußerlich fand
dies seinen Ausdruck darin, daß seit Galens „Tcepl XP*^*^*^ {xoptwv"
kein einziges wirkliches Lehrbuch der Physiologie verfaßt worden
war. Um so gewaltiger erscheinen die beiden HALLERschen Werke,
das 1747 erschienene Elementarwerk „Primae lineae physiologiae"
und sein großes Handbuch von 1757 ,,Elementa physiologiae cor-
poris humani". Ihnen stehen ebenbürtig zur Seite die „Icones ana-
tomicae" und die Kommentare zu Boerhaves Institutiones.
Sein Hauptverdienst besteht darin, an die Stelle der vagen Be-
griffe, mit denen man bis dahin den organischen Vorgang der Be-
Anatomen und Physiologen in seinen Bahnen usw. 355
wegnng als Grundlage einer großen Zahl von Lebensfunktionen zu
erklären versucht hatte, eine wissenschaftliche Tatsache gesetzt und
damit überhaupt als erster dieses biologische Grundproblem ohne
jede Spekulation ausschließlich auf Grund der sinnlichen Erfahrung
gelöst zu haben. In seiner Schrift „De partibus corporis humani
sensibilibus et irritabihbus" brachte er durch eine große Reihe von
Versuchen den Nachweis, daß dem Muskelgewebe eine von der rein
mechanischen Eigenschaft der Elastizität grundverschiedene, nur ihm
allein eigentümliche Eigenschaft innewohne, auf verschiedene Reize
mit einer Zusammenziehung zu antworten. Für diese Eigenschaft
brauchte Haller die bereits von anderen (aber im abweichenden
Sinne) gebrauchte Bezeichnung „Irritabilität". Weiter versuchte er
dann das Verhältnis der Nerventätigkeit zu dieser Funktion festzu-
stellen, und erkannte, daß den Nerven selbst keinerlei Irritabilität
zukomme, daß diese andererseits dem Muskelgewebe ganz unab-
hängig von den Nerven innewohne, daß die letzteren dagegen die
Rolle von Fortleitern des vom Zentralorgan ausgehenden Reizes zu
den Muskeln spielten. ~~
Den Nerven ihrerseits erkannte er ebenfalls eine ihnen eigen-
tümliche Eigenschaft zu : die Sensibilität, d. h. die Fähigkeit, auf alle
sie irgendwo treffenden Reize mit einer Empfindung zu reagieren.
Die Fortleitung dieser Reize verlegte er in die von ihm — ebenso
wie bereits von Galen und anderen Aerzten des Altertums — an-
genommenen feinen Röhrchen der Nervenfasern, in denen er die
feinsten „Lebensgeister" in ähnlicher Weise wie das Blut in den
Adern zirkulieren ließ.
Diese Anschauungen bilden das Gerüst, auf dem sich seine ge-
samte Physiologie aufbaut, und die vielen einzelnen Ideen seiner
Vorgänger zu einem einheitlichen Bilde verarbeitet werden. Dabei
ist Haller immer bestrebt, unter engstem Anschluß an die spezielle
Anatomie und Vornahme unzähliger Experimente seinen Lehren eine
feste naturwissenschaftliche Begründung zu geben. Obgleich also
von unserem heutigen Standpunkte aus noch vielerlei Unrichtiges
und noch mehr Unvollkommenes in seiner Physiologie enthalten ist,
so bleibt ihm doch das Verdienst, eine gewaltige Förderung dieses
Wissenszweiges erreicht und die Wege gewiesen zu haben, auf denen
er weiter ausgestaltet werden konnte.
Während aber Haller selbst sich vollkommen klar darüber
war, nur einigen Grundformen des organischen Lebens auf die Spur
gekommen zu sein, nahmen viele seiner Schüler und Nachfolger seine
Lehren als etwas Endgültiges hin, über das man nicht weiter hinaus-
*3'
356 Neubegründung der Physiologie durch Albrecht von Haller.
kommen könne. Andere wieder, die noch tief in den Anschauungen
des 18. Jahrhunderts staken, bekämften ihn, und nur verhältnismäßig
wenige erfaßten den Geist seiner Lehren vollständig und versuchten
in ihm weiterzuwirken.
Zu den letzteren gehören vor allem Johann Gottfried Zinn
(1727 — 1759), dessen Namen in der Anatomie des Auges fortlebt,
Giovanni Battista Morgagni (1682— 177 i), Heinrich August
Wrisberg (1739— 1808), ferner der erste Anatom des Berliner Col-
legiums Johann Friedrich Meckel (1724 — 1774), Johann Nathan
Lieberkühn (1711 — 1765) u.a.m.
Diese Männer, von denen keiner an Bedeutung Haller an-
nähernd erreichte, haben eine ganze Reihe bedeutsamer anatomisch-
physiologischer Einzelbefunde zu seinen Forschungen hinzugefügt
und damit dem Gebäude der HALLERschen Lehren manche neue
Stütze geschaffen. Aber auch auf anderem Gebiete erwies sich
Hallers Wirken als äußerst anregend. So nahm unter seinem
Einfluß Caspar Friedrich Wolff (1735 — 1794) die Theorie der
Epigenese, die bereits bei Hippokrates und Aristoteles ange-
deutet war, wieder auf und behauptete, daß bei der Zeugung eine
wirkliche Neuschöpfung stattfände. Auch sah er zum ersten Male
die Entwicklung des tierischen Organismus aus kugligen Gebilden,
des Embryos aus einer Platte und manches mehr. Er kann somit
als der Vorläufer der modernen Embryologie bezeichnet werden.
Johann Friedrich Blumenbach (1752 — i 840) schuf die Lehre vom
„Bildungstrieb", als einem dem tierischen Körper innewohnenden
Triebe, sich zu erhalten und innerhalb seiner selbst und der Gattung
zu reproduzieren.
Nicht gering war die Zahl der Aerzte, welche teils in Ver-
kennung des wahren Sinns der HALLERschen Lehren, teils im be-
wußten Gegensatz zu ihnen oder aber auf Grund besonderer Auf-
fassungen ihrer eigenen Wege gingen, die sie dann vielfach auf
ganz andere Gleise führten. Zu diesen meist sehr einseitig vor-
gehenden Männern gehört in erster Linie William Cullen (17 12
bis 1790), der in Edinburgh eine Richtung begründete, die zwar ihren
Zusammenhang mit Haller nicht verleugnete, in ihren Auswirkungen
aber seinen Gedanken stracks zuwiderlief. Seine Anschauungen,
die er vor allem in dem 1777 erschienenen Werke „First lines of
the practice of physik usw." niederlegte, gehen davon aus, daß alle
Funktionen des Organismus im gesunden wie im kranken Zustande
im letzten Sinne vom Nervensystem ihren Anfang nehmen. Das
„nervöse Prinzip" regelt normalerweise alle Tätigkeiten im Körper
Anatomen und Physiologen in seinen Bahnen usw.
357
und stellt bei Krankheiten durch Erzeugung von Krampf oder um-
gekehrt von Atonie die normalen Verhältnisse wieder her. Das
Fieber beispielsweise, das er als einen Ausdruck des natürlichen
Heilungsbestrebens ansieht, besteht vor allem in einem Krämpfe
der feinen Arterienendungen, durch welche rückwirkend die Herz-
tätigkeit beschleunigt und die Gefäße erregt werden. Aehnlich
erklärt er die Entzündung. Berühmt wurde seine Theorie der Gicht.
Er glaubte, daß diese auf einer Atonie des Magens oder der übrigen
Verdauungsorgane beruhe, gegen die sich in gewissen Zwischen-
räumen eine natürliche Reaktion in Form einer Entzündung der
Gelenke geltend mache. Seine Kj-ankheitslehre ist somit vorwiegend
solidar-pathologisch, aber nicht bis zur letzten Konsequenz. Vielmehr
läßt er manche Leiden, wie den Skorbut und die Skrofulöse, in
Säfteveränderungen ihre Ursache haben; ferner arbeitet er mit dem
seinen sonstigen Anschauungen gänzlich widersprechenden Begriff
der „Kachexie" und manches mehr. Seine Therapie war in der
Theorie äußerst einfach. Sie ruhte — genau wie schon bei den
Methodikern — auf zwei entgegengesetzten Prinzipien : bei atonischen
Zuständen Anwendung von Reizmitteln, bei krampfartigen umgekehrt
Verordnung lindernder und krampfstillender Maßnahmen. In voller
Erkenntnis aber, daß in
der Praxis sehr oft solche
Grundsätze versagen muß-
ten, weicht er selbst von
ihnen unbedenklich ab.
Trotz der außerordentlichen
Flachheit dieser Lehren,
vielleicht aber auch gerade
infolge derselben erwarb
sich CuLLEN einen großen
Anhang nicht nur in Eng-
land selbst, sondern auch
auf dem Kontinent.
In mancher Hinsicht
diesen Lehren verwandt und
sicher durch sie beeinflußt
ist ein System, daß bei den
Zeitgenossen, Aerzten wie
Laien ein außerordentliches, uns heute kaum mehr verständliches
Aufsehen erregt hat, das System des schottischen Arztes John Brown
(1735— 17Ö8). Dieser Mann, der zunächst ein Schüler Cullens war,
später sich aber auf das schroffste gegen ihn stellte, veröffentlichte
1778 seine Schrift „Elementa medicinae", die ihm in kurzer Frist
Abb. 185. John Brown.
358 Neubegründung der Physiologie durch Albrecht von Haller.
eine große Anzahl Anhänger und seinem System den Namen
„Brownianismus" verschaffte. In Brown vereinigten sich die denkbar
verschiedenartigsten Eigenschaften: er war zweifellos ein geistvoller
und origineller Mensch, dabei aber von zügellosem Charakter und
einer weitgehenden Gewissenlosigkeit. Sein Gedankengang, der
neben mancherlei Anklängen an ältere Lehren doch auch Eigenes
enthält, ist kurz folgender: das Leben ist im letzten Sinne kein
natürlicher Zustand, vielmehr abhängig von der dauernden Einwirkung
der „Reize", und zwar von äußeren Reizen wie Kälte und Wärme,
Luftströmung, Nahrung usw. und inneren Reizen, wie psychische
Verrichtungen, Muskelzusammenziehungen usw. Ferner sind örtlich
und allgemein wirkende Reize zu unterscheiden. Auf jede Art von
Reiz aber antwortet der Organismus mit einer „Erregung", so daß
durch die ununterbrochene Reizwirkung auch ein dauernder „Er-
regungszustand" des Körpers bedingt ist. Gesundheit ist also nichts
anderes als ein mittlerer Grad von Erregung. Krankheit entsteht
durch ihre örtliche oder allgemeine Erhöhvmg oder Herabsetzung.
Danach gibt es zwei Hauptgruppen von Leiden: „sthenische" und
„asthenische". Diese Einteilung wird gekreuzt von einer anderen in
„allgemeine und örtliche Krankheiten". Die ersteren treten zwar
meist von vornherein als solche auf und beruhen dann fast immer
auf einer besonderen Anlage, manchmal aber können sie sich auch
aus einem örtlichen Leiden entwickeln.
Bei einer derartigen auf eine denkbar einfache Formel gebrachten
Krankheitstheorie erübrigt sich für Brown fast jede Diagnostik. Es
genügt ihm die Feststellung des vorhandenen Grades von Erregung
(nach einem übrigens recht willkürlichen Schema, das seine Anhänger
geradezu in ein „Krankheitsbarometer" umwandelten), ferner einer
gewissen Rücksichtnahme auf die Ursachen des Leidens und — bei
örtlichen Krankheiten — auf ihren Sitz. In gleicher Weise verein-
facht ist dementsprechend auch die Therapie. Ihre Aufgabe besteht
nur in einer Herabsetzung oder Erhöhung der Reizbarkeit nach
dem wenigstens in der Theorie bis zur äußersten Konsequenz durch-
geführten Grundsatz „contraria contrariis"; eine Auffassung, die am
meisten an die des Asklepiades (siehe oben S. 107 f.) anklingt. Wie
denn überhaupt Brown in seinem Gehaben und seinen Lehren
mancherlei Verwandtes mit dem Bithynier hat, nicht zum wenigstens
in seiner völligen Negierung der Natur.
Auch seinen Zeitgenossen erschien Brown (trotz Hoffmann,
CuLLEN usw.) als ein hervorragender Neuerer, während in Wirklich-
keit das einzige Novum in seinen Lehren — das als solches damals
gar nicht erkannt wurde — darin bestand, daß er zum ersten Male
eine rein auf den Phänomenen begründete Krankheitslehre aufstellte.
Anatomen und Physiologen in seinen Bahnen usw. 359
Diese artete dann sehr bald ganz ähnlich wie bei den Xachfolgern
des ASKLEPIADES in einen ausgesprochenen „Methodismus" aus.
Wie Thessalos von Tralles (s. oben S. 1 19 f.) seine Kommunitätenlehre
schuf, so stellte Röschlaub (1768 — 1835) dreißig Axiome auf, deren
Beobachtung den ganzen Inbegriff aller praktischen Medizin bilden
sollte. Eine gewisse Umbildung erfuhr BRO\srxs Lehre durch den
Italiener GlOVANXl Rasori (1763 — 1837). Dieser setzte an die Stelle
der Begriffe „Sthenie und Asthenie" diejenigen der „Diathesis de
stimulo" und „Diathesis de contrastimulo", in denen er die Haupt-
grundlagen seiner Diagnostik und Therapie sah. Auf wie schwachen
Füßen diese Vorstellungen standen, erhellt am besten daraus, daß
er die Xatur einer Krankheit in der Regel erst aus der Wirkung
der angewandten Mittel erschloß (also eine verallgemeinerte Diagnose
ex juvantibus in krassester Form!).
Von HALLERschem Geiste, dem sie sich in gewissem Sinne
verwandt fühlten, ist bei keinem der zuletzt behandelten Männer
viel zu bemerken. Sie hafteten nur an dem Aeußerlichen, während
sie den Kern entweder nicht erfaßten oder jedenfalls unbenutzt bei-
seite ließen. Eine Ausnahme bildete in dieser Zeit, d. h. um die
Mitte des 18. Jahrhunderts, nur ein einziger Mann, ein Schüler
BoERHA\'Es, indem er, ebenso wie Haller die Physiologie zum
ersten Male wieder als ein geschlossenes Gebiet bearbeitet hatte,
das Gleiche für die Pathologie unternahm: HiERONYMUS David
Gai>b (1704 — 1780). Er ist ein Eklektiker im wahren Sinne des
Wortes: denn sein System — als solches muß man seine Lehren in
ihrer Einheitlichkeit bezeichnen — baut sich auf den verschieden-
artigsten Anschauungen auf, die von ihm in geschickter Weise mit-
einander in Einklang gebracht werden, wie dies am besten seine
1758 veröffentlichten „Institutiones pathologiae medicinahs" zeigen.
Er faßt die Irritabihtät und Sensibilität als zw^ei Hauptformen der
dem Körper und seinen Teilen innewohnenden Kraft auf, die er
ebenso sehr als eine Art Physis nach hippokratischem Vorbild, wie
als Anima nach SxAHLschem Muster oder als eine besondere
„Lebenskraft" auffaßt. Indem er den Sitz dieser Kraft in die
festen wie in die flüssigen Teile des Organismus verlegt, nament-
lich auch in das Blut, geht er über die einseitig solidarpathologische
Betrachtung hinaus. Diese allgemeinen Theoreme sucht er durch
sorgfältige physiologische Untersuchungen im einzelnen zu stützen
und zieht dabei die gesamten Kenntnisse über den Bau und die
Funktion des Körpers heran. Der Einfluß von Hallers Lehren
ist dabei unverkennbar.
Origineller geht er in seiner Krankheitslehre vor, wenngleich
auch darin die verschiedensten Anschauungen zeitgenössischer und
360 Die Schule von Montpellier und der Vitalismus.
älterer Autoren anklingen. Er sieht in jeder Krankheit nicht ein-
fach eine Störung in. der Zusammensetzung und der Funktion von
Körperteilen, sondern einen Kampf zwischen dem krankmachenden
Agens und der dem Körper eigentümlichen, hauptsächlich in der
„Seele" wirksam werdenden Kraft, die sich stets gerade da betätigt,
wo die krankhafte Schädigung sich am stärksten bemerkbar macht.
Je nachdem dies in den festen Geweben oder in den Säften der
Fall ist, je nachdem nur ein einzelner Teil ergriffen ist oder — was
weit häufiger vorkommt — mehrere, unterscheidet Gaub verschie-
dene Grundformen der Krankheit: Gewebs- oder Säftekrankheiten,
einfache oder zusammengesetzte Leiden. Die Gewebskrankheiten
bestehen entweder in einer zu großen Starre (Rigidität) oder Schlaff-
heit (Debilität) der Faser. Die Säftekrankheiten entweder in Ver-
dickungen (Tenacitas) oder Verflüssigungen (Tenuitas),
Eine wichtige Rolle kommt der Aetiologie der Krankheiten zu.
Gaub würdigte sowohl die äußeren wie die inneren Ursachen, unter
den letzteren die Erblichkeit und Disposition, unter den ersteren die
gesamte Lebensweise, jede Art äußerer Einflüsse, insbesondere auch
die sogenannten Miasmata und Kontagien als Verursacher der an-
steckenden Krankheiten. Vortrefflich ist auch die Symptomenlehre
abgehandelt; man spürt in ihr sichtlich den Einfluß Sydenhams
und der großen Wiener Kliniker.
Dieser Einheitlichkeit der Krankheitslehre stand nun als Schatten-
seite die mangelhafte Verknüpfung mit der normalen Physiologie
gegenüber; ein Fehler, der zwar bei Gaub nicht allzu schwer ins
Gewicht fällt, bei manchen seiner Anhänger aber entschieden Schaden
angerichtet hat. Gaubs Einfluß war im übrigen nicht gering ; nament-
lich fand sein oben erwähntes Werk weite Verbreitung und hat
zweifellos mit den Boden für die Aufnahme einer Lehre vorbereitet,
deren Grundgedanke sich auch bei ihm als einer der vielen Bau-
steine seines „Systems" findet, dessen Ausbau zu einer Schule aber
auf ganz anderem Boden stattfand: des Vitalismus.
Die Schule von Montpellier und der Vitalismus.
Die großen Schwierigkeiten, die der Begründung einer medi-
zinischen Theorie trotz der fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen
Kenntnisse immer noch entgegenstanden, fanden ihren Ausdruck in
den von den verschiedensten Forschern gemachten Versuchen, von
den mannigfachsten Standpunkten aus den Rätseln des gesunden
und kranken Lebens auf die Spur zu kommen. Ist auch bei fast
allen diesen Versuchen der Einfluß der HALLERschen Anschauungen
Die Schvile von Montpellier und der Vitalismus. 361
unverkennbar, so blieb es doch nicht aus, daß auch andere, ältere
Gedankengänge zu jenem Zwecke wieder hervorgeholt wurden. Zu
Montpellier hatte mehr als irgendwo sonst die alte hippokratische
Lehre von der Physis sich als Grundlage des ärztlichen Denkens
und Handelns erhalten. Daher vermochte die Theorie Stahls von
der Anima, die ja im Grunde nichts anderes war, als eine Erneuerung
der antiken Physiatrie, ohne Schwierigkeit dort Fuß zu fassen. In
der Tat hatte Fraxcois BoissiER DE LA Croix de Sauvages
(17 06 — 1767) bereits versucht, die einseitig mechanistischen Lehren durch
eine Verquickung mit dem SxAHLschen Animismus für die Schule
von Montpellier aufnahmefähig zu machen und so gleichzeitig den
SYDENHAMschen Hippokratismus in erweiterter Form fortzuführen.
Während aber bei ihm die Theorie mehr sekundär zur Erklärung
der beobachteten Erscheinungen herangezogen wurde, machte um-
gekehrt ein Zeitgenosse, Theophile Bordeu, seine Theorie zum
Ausgangspunkte einer Lehre, die, wenn auch mit manchen Wand-
lungen, sich bis auf unsere Zeit erhalten hat; er wnirde der Vor-
bereiter des „Vitalismus". Dieser Mann, der 1722 geboren war,
seine Ausbildung in Montpellier erhalten hatte und im Jahre 1776
nach einem Leben voller Kämpfe in Paris starb, machte seinen
Namen zuerst bekannt durch seine außerordentlich heftige Kritik
gegen die iatrochemische Schule und gegen Boerhave. Seine
Studien auf dem Gebiete der Chemie, der Physik, Anatomie usw.
führten ihn zu der Ueberzeugung, daß alles diesen Gebieten ent-
lehnte Wissen nicht imstande sei, eine wirkliche Erklärung der
Lebenserscheinungen zu geben. So glaubte er z. B. zu erkennen,
daß der Vorgang der Drüsenabsonderungen weder auf physikalischem
noch auf chemischem Wege zu erklären sei, sondern auf Gesetzen
höherer Ordnung beruhen müsse. Seine Beschäftigung mit der alten
Medizin brachte ihm vielmehr die Ansicht bei, daß der beste Aus-
gangspunkt für alle Erklärungsversuche noch immer die hippo-
kratische „Physis" in der durch Stahl begründeten Auffassung als
beseelendes Prinzip sei, die er mit „la nature" übersetzte. Diese dem
lebenden Organismus immanente Kraft hat nach ihm ihren Sitz in
jedem einzelnen Teile des Körpers und äußert sich in jedem der-
selben in einer eigentümlichen Art, die von dem Bau des betreffenden
Teiles abhängt. Die wichtigsten Organe sind Magen, Herz und
Gehirn, sie regulieren die F"unktionen aller anderen Teile; namentlich
sind von ihnen die zwei hauptsächlichsten Lebensäußerungen ab-
hängig: Gefühl und Bewegung. Diese im Grunde genommen nur
wenig von Stahl abweichende Theorie bildet die eigentliche Unter-
lage für die vitalistische Lehre, die ihre eigentliche Begründung
BüRDEUs Schüler Paul Joseph Barthez verdankt.
ß62 Die Schule von Montpellier und der Vitalismus.
Barthez stand unverkennbar unter dem Einfluß der Philosophie
CONDiLLACs (17 15— 1780), welcher für die Naturforschung nur die
vSinneserfahrung gelten ließ, die Auflösung der Sinneswahrnehmungen
in ihre einzelnen Grundbestandteile, und, darauf folgend, ihre Wieder-
zusammensetzung als den einzig wahren Weg wissenschafthcher
Untersuchungen ansah. In seinem 1778 erschienenen Werke „No-
veaux Clements de la science de l'homme" entwickelt er seine Ge-
danken : der letzte Grund aller Vorgänge im Organismus ist das
„vitale Prinzip", dessen eigentliches Wesen unbekannt und unbe-
gründbar ist. Es ist verschieden vom „denkenden Geist", es ist
aber mit Bewegung und Sensibilität begabt. Es ist zwar etwas
Abstraktes, hat aber doch auch wieder gewisse reale Eigenschaften.
Neben den iVeußerungen der Motilität und Sensibilität kommt ihm
das Vermögen zu, in allen Körperteilen die Form, Ausdehnung,
Lage, Spannung zu bewahren und Störungen hierin wieder aufzu-
heben. Auch die Beziehungen der einzelnen Teile des Körpers
untereinander unterliegen dem sie beherrschenden Lebensprinzip.
Krankheit ist nach Barthez' Auffassung eine Affektion der
Lebenskraft und äußert sich entsprechend den einzelnen Funktionen
je nachdem in einer Störung der Sensibilität, Motilität, der „force
de Situation fixe" u. a. m. Alle diese Störungen rufen dann aber
spontan eine Gegenwirkung der dem Organismus innewohnenden
Lebenskraft hervor.
Die therapeutischen Folgerungen aus diesen Vorstellungen er-
geben sich ohne weiteres: die Behandlung besteht in der Unter-
stützung oder Regelung des natürlichen Heilbestrebens und in einer
Beeinflussung der einzelnen Krankheitselemente. Eine Inkonsequenz
bedeutet ein drittes Heilprinzip, nach dem man gegen die Krank-
heiten mit solchen Mitteln vorgehen soll, die erfahrungsgemäß eine
spezifische Wirkung ausübten. Im übrigen war er der erste, der —
seit den Methodikern — der Indikationenlehre wieder einen bevor-
zugten Platz in seinem S3^stem einräumte.
Während Barthez und seine unmittelbaren Schüler und An-
hänger, wie vor allem Philippe Pinel (1755 — 1826), die kurz ge-
kennzeichneten vitalistischen Ideen als das auffaßten, was sie wirk-
lich waren, nämlich den Versuch, gewissen Erscheinungen des ge-
sunden und kranken Lebens einen Ausdruck zu verleihen, daneben
aber in durchaus rationeller Weise die praktische Medizin auszuge-
stalten suchten und durch bewußte Anwendung der „analytischen
Methode" den Boden für eine spätere, äußerst fruchtbare Richtung
vorbereiteten, wurde die Lehre in Deutschland weit stärker auf die
Die Schule von Montpellier und der Vitalismus. 363
Bahn der Spekulation geleitet. Ihr Schicksal auf deutschem Boden
verkörperte sich vor allem in dem Entwicklungsgange, den ihr be-
deutendster Vertreter in seinen Anschauungen selbst durchlief:
Johann Christian Reil (1759—1813). In seiner berühmten 1796
erschienen Abhandlung „Von der Lebenskraft" geht er davon aus,
daß der Grund aller Lebensäuüerungen in der eigentümlichen
Mischung und Form der Materie liege. Zu dieser rechnet er neben
den sinnlich wahrnehmbaren noch gewisse unsichtbare Stoffe, wie
Wärme, Elektrizität u. a. m. Das Verhältnis der Erscheinungen zu
den Eigenschaften der Materie, welche sie erzeugen, bezeichnet er
als Kraft. Eine besondere Form der Kraft ist die „Lebenskraft".
Sie ist nach seiner Auffassung der iVusdruck für das Verhältnis, in
dem die materiellen Eigenschaften der lebenden Teile zu denjenigen
von ihnen ausgehenden Erscheinungen stehen, durch die sich die
lebendige Natur von der toten unterscheidet. Ihr sind die physischen,
chemischen und mechanischen Kräfte im tierischen Körper unter-
geordnet und gleichsam durch sie gebunden, so daß sie durch den
Tod des Tieres von dieser Subordination befreit und wieder in ihre
Herrschaft eingesetzt werden. Der Organismus ist eine Art Republik,
in der alle Teile zur Erhaltung des Ganzen nach bestimmten Ge-
setzen zusammenwirken, wobei aber jeder einzelne Teil seine eigene
Existenz und seine eigenen Lebenserscheinungen besitzt. Krankheit
ist nach Reils Lehre auf der einen Seite Abweichung von Form
und Mischung, auf der anderen Seite das dem Körper innewohnende
Bestreben, jene wieder auszugleichen. Der Prototyp aller Krank-
heiten im engeren Sinne ist das Fieber, das besonders deutlich die
beiden Komponenten des Krankheitsbegriffs zeigt.
Da die Heilung in der Regel von selten des Organismus selbst
erfolgt, hat die Behandlung vor allem die Unterstützung der Kräfte
zum Ziele, deren sich jener bedient: so der organisierenden, der
reproduzierenden, der beseelenden Kraft usw. Demnach unterscheidet
Reil Heilmittel, welche zunächst dynamisch wirken (psychische),
aber sekundär auch stoffliche Veränderungen hervorrufen können;
femer chemische, d. h. unmittelbar auf die Plastizität wirkende, und
mechanische. Die starke Betonung der psychischen Heilmittel geht
bei ihm Hand in Hand mit dem Interesse, das er der Psychiatrie
entgegenbrachte, die in ihm seit langer Zeit wieder zum ersten Male
einen Förderer fand. Ueberhaupt war Reil trotz seiner Festlegung
auf den Vitalismus ein vielseitiger Arzt, der ebenso auf dem Gebiete
der Anatomie — insbesondere der des Gehirns — forschend tätig
war, wie als Kliniker. Trotzdem aber hat er in seinen späteren
Jahren sichtlich unter dem Einfluß der philosophischen Strömung
dieser Zeit sich weit in das Dickicht der Spekulationen verloren.
364 System Mesmers u. seine Nachfolger, Naturphilosophie Schellings
Aber seine Grundideen sind auch für solche Forscher anregend ge-
wesen, die sich im übrigen in ihren Anschauungen weit von ihm
entfernten. Sicher ist der große Einfluß, den der Vitalismus für
einige Jahrzehnte zu erringen vermochte, zu einem großen Teil auf
Reil zurückzuführen; und viele theoretische Systeme der Folgezeit
lassen mehr oder minder diesen Einfluß erkennen.
Das System Mesmers und seine Nachfolger,
die Naturphilosophie Schellings und ihr Einfluß auf
die Medizin. Die naturhistorische Schule.
Bei den mannigfachen Eindrücken, die, von ganz anderen
Grundlagen ausgehend, nicht minder stark auf die Medizin ein-
wirkten, bot diese in der Folgezeit ein Bild von einer Buntheit, wie
kaum vorher und nachher. Besonders von zwei entgegengesetzten
Seiten drangen neue Gedanken und Anschauungen auf die Heil-
kunde ein: von den realen Ergebnissen der im letzten Viertel des
18. Jahrhunderts in einem gewaltigen Umschwung befindlichen Natur-
wissenschaften und dem in Schellings Naturphilosophie Ausdruck
findenden Streben nach Vergeistigung aller Naturgesetze. Die großen
Fortschritte des 18. Jahrhunderts in der Physik, wie sie sich an die
Namen der Schweizer Gelehrtenfamilie Bernoulli, Leonard
Eulers, Newtons, Franklins, Galvanis, Voltas u. a. knüpfen,
blieben ebensowenig ohne starke Einwirkung auf die Heilkunde
wie die chemischen Entdeckungen von Leuten wie GeoffOY, Ca-
vendish, Priestley, Lavoisier u. a. m. So war es Galvani
selbst, der auf den Gedanken kam, seine Entdeckung auf dem Ge-
biete der Elektrizität für die Medizin fruchtbar zu machen, nament-
lich sie zu Erklärungen solcher Lebenserscheinungen zu benutzen,
denen man mit den bisherigen Erkenntnissen nicht beikommen
konnte. Er glaubte die Krankheiten, insbesondere die der Nerven,
auf qualitative oder quantitative Veränderungen des im gesunden
Organismus innerhalb eines gewissen Norm sich bewegenden elek-
trischen Fluidums zurückführen und daraus alle möglichen thera-
peutischen Folgerungen ableiten zu können. Hielt er sich dabei
aber wenigstens an naturwissenschaftliche Tatsachen, so wurden
diese von anderen Männern nur benutzt, um darauf rein spekulative
Gebäude zu errichten.
Zu diesen Leuten gehörte vor allem FRIEDRICH Anton Mesmer
(1734 — 1Ö15)» der bereits in seiner Doktorarbeit seine besondere
Geistesrichtung zu erkennen gab. In dieser Schrift, die den Titel
trug: „De influxu planetarum in corpus humanum" ging er im An-
und ihr Einfluß auf die ^Medizin. Die naturhistorische Schule. 36;
Schluß an die damals noch junge Lehre vom ^lagnetismus davon
aus, daß ein allgemein verbreitetes feines Fluidum mannigfaltige
Wirkungen ganzer Weltkörper untereinander, aber auch auf einzelne
Lebewesen vermittle. Dies führte ihn dann weiter zu der Annahme,
daß auch dem menschlichen Organismus ein solches Fluidum inne-
wohne, das er als „tierischen Magnetismus" bezeichnete. Dessen Ver-
halten glaubte er von außen her durch die Einwirkung von IMagneten
beeinflussen und auf diese Weise auch krankhafte Zustände des Körpers
umwandeln zu können. Sehr bald aber kam er bei seinen Versuchen
zu der Erkenntnis,
daß es des eigent-
lichen „^Magnetisie-
rens" gar nicht be-
dürfe, daß vielmehr
der Magnet nicht die
eigentliche Quelle,
vielmehr nur der ver-
mittelnde Körper der
vom ,.Magnetiseur"
ausgehenden Kraft
zu dem „Magneti-
sierten" sei. Er er-
setzte also die Kraft
des Magneten durch
die seiner Meinung
nach in ihm selbst
ruhende Kraft, die
er durch Berühren
oder Streichen des
anderenlndividuums
auf diesen überlei-
tete. Weitere Experi-
mente aber zeigten
ihm. daß selbst dieser Kontakt zwischen ihm und der Versuchs-
person nicht erforderlich sei, sondern daß eine Konzentrierung seines
Willens genüge, um sein magnetisches Fluidum auf den anderen
überströmen und wirken zu lassen.
Zwar bedeuteten diese Dinge in ihrem Ausgangspunkte nichts
Neues: hatten doch schon Paracklsus und seine Anhänger wie
auch andere Aerzte des 17. und 18. Jahrhunderts beiläufig einer thera-
peutischen Verwendung des Magneten das Wort geredet. Das Neue
bei Mesmer lag nur in der folgerichtigen Weiterführung der ur-
sprünglichen Idee, ihrer scheinbar klaren theoretischen Fundierung
Abb. 186. Anton Mesmer.
366 System Mesmers u. seine Nachfolger, Naturphilosophie Schellings
und ihrer Verknüpfung mit den uralten Versuchen, durch Handauf-
legen und ähnliche Maßnahmen einen psychischen Einfluß auf den
Kranken auszuüben.
Mesmers Ideen erregten ungeheures Aufsehen, und es ent-
brannte ein heftiger Streit zwischen denen, die sich dadurch über-
zeugen ließen, und solchen, die, von nüchternem Naturforschergeiste
beseelt, sie von Grund aus ablehnten. In Paris, wohin er 1777 über-
siedelte, prüfte eine eigens dazu eingesetzte Kommission seine Ver-
suche nach und erklärte sie aller Realität bar und für das Werk
einer aufgeregten Einbildungskraft, wenn nicht gar absichtlichen Be-
trugs. Trotzdem fanden sich auch in Frankreich Leute, die seiner
Lehre nicht nur folgten, sondern sie sogar weiterzubilden unter-
nahmen. So suchte der Marquis PuYSEGUR durch allerlei Maß-
nahmen den Kranken in einen ungewöhnlichen Sinneszustand zu
versetzen, den man als „clairvoyance" bezeichnete oder auch als
„Somnambulismus". In diesem sollte dann zwischen dem Magnetiseur
und der Versuchsperson ein „Rapport" entstehen, durch den eine Be-
einflussung dieser durch jenen in ausgiebigster Weise ermöglicht
werde, so daß Krankheiten verschiedenster Art durch bloße Willens-
beeinflussung geheilt werden könnten.
In Deutschland, wo der Mesmerismus durch La VATER 1787
eingeführt wurde, trafen diese Lehren auf eine bereits in manchen
Kreisen vorhandene ausgesprochene mystische Neigung und ver-
setzten sie in eine magische Atmosphäre, die selbst bei an sich
kritischen Denkern und hervorragenden Geistern eine vollkommene
Verwirrung erzeugte. Die Bremer Aerzte Olbers, Bicker und
Wienhold und nach ihnen viele andere gerieten vollkommen in
die Bande dieser in eine längst überwundene Epoche der Medizin
zurückweisenden Lehren. So entstanden in den verschiedenen Köpfen
die mannigfachsten Theorien: Johann Nepomuck von Ringseis
(1785 — 1880) leitete die Krankheit von der Sünde her, James Braid
(1795 — 1860) führte den Hypnotismus in die Medizin ein, Carl VON
Reichenbach begründete die Od lehre usw. Aber selbst solche
Aerzte, die allem Mystischen durchaus abhold waren, und, ohne sich
durch Mesmer beeinflussen zu lassen, nur eine nüchterne Erklärung
für seine in vielen Fällen unleugbaren Erfolge zu finden suchten,
fielen statt dessen dem Mysticismus der philosophischen Spekulation
in die Arme. So vor allem der Jenenser Naturforscher Dietrich
Georg Kieser (1779— 1862).
Die auf deutschem Boden erwachsene Naturphilosophie wurde
die Grundlage, auf der Aerzte wie KiESER, Gmelin, Kessler,
und ihr Einfluß auf die ^Medizin. Die naturhistorische Schule. 367
Treviranus u. a. von neuem eine wissenschaftliche Begründung der
Medizin versuchten. Insbesondere wirkten die Lehren Schellings
(1775 — 1854), wie sie vor allem in seinem 1799 erschienenen „Ent-
wurf eines Systems der Naturphilosophie" zum Ausdruck kamen, mit
einer geradezu unwiderstehlichen Anziehungskraft besonders auf alle
die Aerzte, die, unbefriedigt durch die rein naturwissenschaftlichen
Erklärungsversuche, die auf diesem Wege gewonnenen, eines inneren
Zusammenhangs entbehrenden Tatsachen durch eine philosophische
Betrachtung zu vertiefen hofften. Hierzu boten ihnen Gedanken-
gänge der ScHELLiNGschen Naturphilosophie scheinbar gute Hand-
haben: die Materie im gewöhnlichen Sinne war danach nicht das
Ursprüngliche, sondern erst das Resultat der Einbildung des Wesens
in bestimmte Form. Auch dann ist die Materie mit ihrer Schwere
nicht der allein zureichende Grund der Weiteren, sondern ihr gehen
Erscheinungen wie Licht, Bewegung oder dynamische Vorgänge
parallel. Grundprinzipien der Natur im allgemeinen sind Magnetis-
mus, Elektrizität und Chemismus. Ihnen entsprechen im tierischen
Organismus die drei Dimensionen : Sensibilität, Irritabilität und Re-
produktion. Hiervon besitzt das Pflanzenreich nur die dritte, bei
den Würmern aber besteht schon ein Zusammenarbeiten von Re-
produktion und Irritabilität, die Vögel nähern sich bereits der Sensi-
bilität, während schließlich die Säugetiere alle drei Dimensionen auf-
weisen. So ist im menschlichen Organismus die Sensibilität an die
Nerventätigkeit gebunden mit ihrem Zentralsitz im Gehirn, die Irrita-
bilität an die Muskeln und insbesondere an den Herzmuskel, die
Reproduktionskraft an die vegetativen Vorgänge in der Bauchhöhle.
Diese Anschauungen, in denen eine Vielheit älterer naturwissen-
schaftlicher und philosophischer Gedanken anklingt, stehen bei
SCHELLING in einem größeren Zusammenhange mit seiner Annahme
inniger Wechselbeziehungen zwischen Makrokosmus und Mikrokos-
mus, einer Art Einheit alles Naturlebens, die in der Identität der
größten und der kleinsten Dinge und Vorgänge ihren Ausdruck hat.
Gerade der ungehemmte Wagemut, mit dem Schelling es
unternahm, gleichsam die ganze Welt mit allen ihren Erscheinungen
unter Verachtung jeder bloßen Erfahrung aprioristisch aufzubauen,
schlug die zahlreichen Aerzte in seinen Bann, deren Neigung oder
Anlage auf Spekulation gerichtet war. Wenn einer seiner Anhänger
(Hermann Hörn) die Blutkörperchen des Menschen ihrer Form
und ihren Funktionen nach mit der Erde verglich, und zu dem
Schluß kam, daß alle Eigenschaften, die der Blutzelle zukämen, auch
der Erde beizulegen wären, wenn ein ander (Sal. Steinheim) von
der Cholera behauptete, sie sei, „was ihre negative Sphäre anlanget,
von einer outrierten Dekombustion der organischen Ursäfte, von
368 System Mesmers u. seine Nachfolger, Naturphilosophie Schellings
einer vollendeten Melanhämie mit allen ihren begleitenden, aus dieser
einzigen Quelle entspringenden pathologischen Affekten", — so
springt die Verwirrung, die durch die Naturphilosophie in den Köpfen
vieler Aerzte angerichtet wurde, ohne weiteres in die Augen, und
man begreift es nicht leicht, daß Leute wie Lorenz Oken {1779
bis 18,51), der Begründer der Naturforscherversammlungen und Her-
ausgeber der angesehenen Zeitschrift „Isis", ferner wie Friedrich
Kielmeyer (1765 — 1844), Ignaz Döllinger (1770— 1841) u.a.m.
sich von einer so weit ab von allem nüchternen Denken führenden
Philosophie gefangen nehmen ließen. Man versteht dies nur, wenn
man dagegen hält, daß auf der anderen Seite gerade die Auffassung
der Natur als eines geschlossenen Ganzen im Gegensatz zu der vor
allem Einzelresultate anstrebenden naturwissenschaftlichen Forschung
einen der größten und fruchtbringendsten Gedanken erzeugt hat:
den einer allmählichen Entwicklung alles organischen Lebens. Einen
Gedanken, der später in dem sogenannten biogenetischen Grund-
gesetz eine klare Fassung erhielt. Wie man denn überhaupt zugeben
muß, daß manche Gebiete der Medizin, vor allem die vergleichende
Anatomie, die Physiologie und Embryologie, dem philosophischen Ein-
schlag der Forscher dieser Zeit manche Anregung und Bereicherung
zu verdanken hatten.
Trotzdem war im großen und ganzen der Einfluß der Philosophie
auf die Heilkunde ein schädlicher, wie er es stets ist, wenn er zu
tief eindringt und neben den Forschern auch die im praktischen Be-
rufe stehenden Aerzte mitergreift. Das gesamte medizinische Denken
artete in ein Spielen mit Ideen und ein Sichberauschen an hoch-
tönenden, aber inhaltsleeren Phrasen aus, die den Arzt nicht nur im
Studierzimmer gefangen nahmen, sondern bis ans Krankenbett ver-
folgten. Besonders verderblich zeigten sich diese Erscheinungen in
der Krankheitslehre. Wie man alle Erscheinungen im normalen
Organismus mit einer Ausspinnung des Gedankens von der Bedeu-
tung der drei Dimensionen (s. oben S. 367) erklären zu können glaubte,
so vermeinte man auch das Wesen der Krankheit erfaßt zu haben,
wenn man sie auf das „Vorwalten eines Pols" zurückführte, wenn
man von Polaritätswirkung der einzelnen Körperteile und Organe
untereinander, von polaren Beziehungen zwischen Materie und Er-
regbarkeit, zwischen Ausdehnung und Zusammenziehung, Sensibilität
und Irritabilität redete. Natürlich färbten solche Ideen sehr stark
auf die Therapie ab: man nahm an, daß das gleiche Verhältnis wie
zwischen Organismus und Außenwelt auch zwischen Krankheiten
und Arzneien bestände. Jede Arznei wirke fördernd und verbessernd
auf das ihr Analoge im Körper, auf alles andere wirke sie feindlich.
Die Hauptaufgaben des Arztes wurden demnach in einer Einwirkung
und ihr Einfluß auf die Medizin. Die naturhistorische Schule. 369
auf die jeweilige Polarität des Kranken gesucht. Derartige Gedanken-
gänge, die in den einzelnen Köpfen die verschiedenartigsten Formen
annahmen, beherrschten für eine ^^^eile mit einer nur dem Ueber-
sinnlichen innewohnenden Kraft die Mehrheit der Aerzte Deutsch-
lands. Und ebenso wie Schelling selbst, anfangs immer noch durch
mannigfache Fäden mit dem Realen verbunden, schließlich doch voll-
kommen im Mystischen aufging, so verfielen auch zahlreiche Medi-
ziner einer Entwicklung, die sie über Mystik, Symbolismus und
Magie zu einer pietistischen Theurgie führte, deren Endglieder die
Krankheiten von dem Wirken von Geistern oder von der Sünde
ableiteten.
Hatte der unmittelbare Einfluß der Naturphilosophie auf die
Medizin sich auf der einen Seite in der Polaritätentheorie geäußert,
so erzeugte auf der anderen der von ihr ausgehende Entwicklungs-
gedanke eine Lehre, die geradezu wie ein Rückfall in ältere Zeiten
anmutete, indem sie vor allem gewisse Ideen des Paracelsus wieder
aufnahm, dabei aber doch in ihrer Grundidee den Keim einer ganz
modernen Anschauung trug. Den Ausgangspunkt bildete die An-
nahme, daß jede Form von Krankheiten eine gewisse Aehnlichkeit
mit niederen Lebensformen besitze. Von hier war es nur ein Schritt
zu der Verallgemeinerung, daß Krankheitserscheinungen dadurch
entständen, daß dieser oder jener Teil des Körpers auf einer niederen
Stufe der Entwicklung stehen bliebe, oder aber, wenn die normale
Höhe bereits erreicht sei, von ihr wieder herabsänke. Dadurch, daß
man bei dieser Theorie vorwiegend die Krankheiten im Auge hatte,
die man auf ein „Kontagium", d. h. einen übertragbaren Giftstoff
oder auf Parasiten zurückführte, daß man unter völligem Beiseite-
lassen der festliegenden naturwissenschaftlichen Tatsachen wieder
die Bildung niederer Lebewesen aus toter Substanz innerhalb des
Körpers für möglich hielt und diese parasitären Lebewesen nicht als
die Ursache des Krankseins, sondern als die Krankheit selbst auf-
faßte — durch diese ganze Kette von Irrtümern gelangte man zu einer
rein ontologischen Begreifung der Krankheit: man nahm an, daß
diese eine Art selbständiges Wesen sei, das ein Leben niederer Form
für sich führte, und gegenüber dem Körper als Parasit wirkte, daß
der kranke Körperteil eine Art von „Afterorganisation" sei, die nach
besonderen Gesetzen im Organismus eine Existenz führte.
Diese Ideen verleiteten dann weiter dazu, für die als selbständige
Wesen aufgefaßten Krankheiten in ähnlicher Weise eine Klassi-
fikation zu suchen, wie für andere naturwissenschaftliche Objekte.
Und so wurde der Jenenser Professor K. W. Starck (1787 — 1845)
Meyer-Steincf^ u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Medizin. 24
370 System Mesmers u. seine Nachfolger, Naturphilosophie Schellings
der Begründer einer Schule, der er den Namen „naturhistorische
beilegte. Bis zu welchen Folgerungen Starck in seiner Para-
sitenlehre ging, erhellt am besten daraus, daß nach ihm die
Krankheiten bis zu solchem Grade Individuen darstellten, daß sie
sogar für sich selbst wieder erkranken können, z. B. wenn zu einem
Tuberkel Geschwürsbildung, zu einer Allgemeinerkrankung eine
Blutung hinzukomme. Das eigentliche Haupt der naturhistorischen
Schule ist Lucas Johann Schönlein (1793 — 1865). Er läßt in
seinen Anschauungen am deutlichsten deren Gang erfolgen. Aus-
gehend von der parasitären Theorie gelangte er von ihr zunächst
zu einer nosologischen Klassifizierung und schließlich zu einer stark
klinisch gefärbten diagnostisch-naturwissenschaftlichen Betrachtung,
mit der er dann,
genau genommen,
wieder aus dem
eigentlichen Rah-
men der Schule her-
austrat. Zu einer der-
artigen Entwicklung
befähigte ihn eine
seltene geistige An-
lage, in der eine ge-
wisse Neigung zur
Spekulation und
Schematisierung in
glücklicher Weise
mit einer Begabung
für das Praktische,
für Diagnose und
Therapie und mit
einem glänzenden
Lehrtalent vereinigt war. Sein literarischer Einfluß beruhte haupt-
sächlich auf seiner Krankheitslehre. Er war der Meinung, daß
zwischen dem Organismus des einzelnen und der allgemeinen Natur
ein fortwährender Kampf bestehe. Wenn in diesem die beiden Teile
sich gegenseitig die Wage halten, oder gar der erstere das Ueber-
gewicht hat, so besteht Gesundheit, im umgekehrten Falle Krank-
heit. Ohne rechte innerliche Verbindung mit dieser Anschauung
erscheinen Schönleest die Krankheiten im übrigen als eine Art
parasitärer Lebewesen, die zum Teil — wie bei den kontagiösen
Leiden — durch einen der geschlechtlichen Zeugung zu ver-
gleichenden Vorgang, zum anderen Teil ähnlich der spontanen
Entstehung von Infusorien sich entwickelten. Die mit den Krank-
Abb. 187. Lucas Joh. Schönlein.
und ihr Einfluß auf die Medizin. Die natVMrhistorische Schule. 371
heiten verbundenen funktionellen Störungen wurden von ihm auf
der einen Seite als Beeinträchtigung des Mutterorganismus durch
den Krankheitsparasiten, zumeist aber als eine Reaktion des ersteren
gegen den letzteren betrachtet. Die wichtigste Reaktion sei das
Fieber.
Das nosologische System Schönleins teilt die Krankheiten in:
Morphen, d. h. Abweichungen in der ursprüngHchen Anlage und
Ernährung sow^ie Verlagerungen und Verletzungen, ferner Häma-
tosen, d. h. Krankheiten des Blutes und deren Folgen wie Blut-
flüsse, Entzündungen, Katarrhe, Krebs, Tuberkeln usw.; schließlich
Neurosen, darunter vor allem die Intermittens, Als eine Gruppe
für sich dann schließlich noch die Syphiliden. Es ist dies also ein
reichlich willkürliches System; und SCHÖNLEIN selbst scheint auf
seine Durchführung nicht aUzu großen Wert gelegt zu haben.
Namentlich in den letzten Jahrzehnten begab er sich in immer zu-
nehmendem Umfange auf das Gebiet pathologiseh-anatomischer
Forschung und sorgfältiger klinischer Betrachtung und benutzte so-
wohl bei der letzteren als auch bei der Diagnostik alle Hilfsmittel,
die ihm die Physik und Chemie an die Hand gaben. Während die
Mehrzahl seiner Schüler und Anhänger auf dem Wege einer prak-
tischen Weiterbildung der kUnischen Medizin und ihrer Hilfsfächer
folgten und damit sich von der naturhistorischen Schule abwandten,
suchten doch auch mehrere, wie Carl Cannstatt, Rich. Hoff-
mann u. a. seine theoretischen Lehren fortzubilden, ohne indessen
einen nachhaltigen Einfluß auf die übrige Aerzteschaft gewinnen zu
können.
Die Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheil-
lehre. Die Kuhpockenimpfung.
Eine weit stärkere Wirkung war einer Lehre beschieden, deren
Keime ebenso wie die der Parasitentheorie schon bei Paracelsus
sichtbar sind, einer Lehre, die aus dem Zuspruch, den sie unter den
Aerzten fand, besonders deutlich den schwankenden Grund erkennen
läßt, auf dem die Medizin um die Wende des 18. zum 19. Jahr-
hunderts noch immer nach einem endlichen Ruhepunkte tastete: der
Homöopathie. Der Arzt suchte in seinem praktischen Berufe vor
allem eine zuverlässige und stetige Unterlage für seine Kranken-
behandlung. An einer solchen aber fehlte es vollkommen : die zahl-
reichen medizinischen Systeme, von denen ein jedes auf einem anderen
Gedankengange aufgebaut war, bedingten einen fortwährenden
Wechsel der Therapie. Da aber durchaus nicht ein jeder Arzt einer
24*
37 2 Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheillehre. Kuhpockenimpfung.
bestimmten Schule angehörte, die Mehrzahl vielmehr spätestens in
der Praxis zu einem mehr oder minder kritischen Eklektizismus ge-
langt war, bestand eine Buntheit und Unsicherheit in der Kranken-
behandlung, wie wohl nur in der Zeit der ärztlichen Sektenkämpfe
der alexandrinisch-römischen Zeit. Aehnlich wie damals, war denn
auch eine Polypragmasie eingerissen, die sich in der Verordnung
zahlreicher (meist mehrere an einem Tage) und oft ellenlanger Re-
zepte u. ä. äußerte. Nur wenn man diese Tatsachen in Betracht
zieht, versteht man den außerordentlichen Erfolg, den die Homöo-
pathie zu verzeichnen hatte, obgleich doch auch sie nichts anderes
als ein auf Theorie aufgebautes therapeutisches System \var.
Ihr Begründer ist Samuel Hahnemann, der, 1755 zu Meißen
geboren, zunächst nach Erledigung seines Studiums der Reihe nach
an verschiedenen
Orten seiner Heimat
ohne rechten Erfolg
zu praktizieren ver-
suchte, zum Teil wohl
infolge einer Art inne-
rer Zerrissenheit, die
ihn unfähig machte,
das Gelernte praktisch
zu verwenden. Er
wandte sich dann wis-
senschaftlichen Arbei-
ten, namentlich auf
dem Gebiete der Che-
mie, zu und betrieb
allerhand pharmazeu-
tisch-chemische Stu-
dien. Bei der Lektüre
CuLLENs stieß er auf
eine Bemerkung dieses Forschers, daß die Chinarinde im gesunden
Körper Erscheinungen hervorbringe, die denen der Malaria sehr ähn-
lich sähen ; eine Behauptung, die er dann durch Versuche an sich selbst
unzweifelhaft bestätigt zu sehen glaubte. Das veranlaßte ihn, mit
anderen Mitteln ähnliche Versuche anzustellen, die er zunächst in
den gebräuchlichen Dosen verwandte. Allmählich aber gelangte er
zu der Ueberzeugung, daß diese zunächst immer eine Verschlimme-
rung des krankhaften Zustandes hervorriefen, bevor sie ihre eigent-
lichen Heilwirkungen entfalteten. Dadurch kam er darauf, die Dosen
immer mehr zu verkleinern. In diesem Entwicklungsgange sind die
Hauptideen seiner Tehre begründet, die er zum ersten Male (nach
Abb. 188. Sam. Hahnemann.
Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheillehre. Kuhpockenimpfung. 373
einer bereits 1797 in der HuFELAXDschen Zeitschrift und einer
selbständigen 1805 erfolgten Veröffentlichung) in seinem 18 10 er-
schienenen „Organen der rationellen Heilkunde' bekannt gab. Durch
dieses Werk, in dem er auf das entschiedenste seine bis dahin ent-
weder unbeachteten oder mit Widerspruch aufgenommenen Lehren
vertrat, rief er eine äußerst heftige Polemik für und wider sich her-
vor. Er übte dann in den folgenden Jahren in Leipzig seine Praxis
unter ständig zunehmendem Andrang von Kranken und Aerzten aus,
während er gleichzeitig (von 181 1 — 1820) seine „Reine Arzneimittel-
lehre in sechs Teilen" herausgab. 1821 sah er sich veranlaßt, nach
Cöthen überzusiedeln, wo er an seinem zweiten Hauptwerk, dem
1828 erschienenen Buche „Die chronischen Krankheiten, ihre eigen-
tümliche Natur und homöopathische Heilung" arbeitete, 1834 ging
er dann mit seiner zweiten Frau, einer französischen Marquise, nach
Paris und starb dort im Jahre 1843.
Die Grundgedanken seiner Lehre sind nun folgende: der Haupt-
fehler der ganzen Medizin bestehe darin, daß durch alle ihre bis-
herigen Verfahren, die ja, indem sie die Krankheiten zu bekämpfen
suchten, entweder antipathisch, d. h. nach dem Grundsatze „contraria
contrariis" oder allöopathisch verführen, in jedem Falle zu der be-
stehenden Krankheit eine anders geartete neue gesetzt werde. Die
Krankheit sei in Wirklichkeit eine Art Verstümmelung der Lebens-
kraft. Wie diese aber zustande komme, und worin sie bestehe, sei
für den Arzt gleichgültig, da er doch die letzten Ursachen nicht er-
forschen könne. Seine eigentliche Aufgabe sei vielmehr das Heilen.
Hierzu sei aber nur eine Kenntnis der Krankheitssymptome not-
wendig; also anatomisch-physiologische Kenntnisse soweit entbehr-
lich, als sie nicht zur Feststellung der Symptome unbedingt er-
forderlich seien.
Der Grund, auf dem sich die wahre, homöopathische Heilkunde
aufbauen sollte, waren also Experimente mit Arzeneien an Ge-
sunden. Diese sollten den Zweck hab^n. die Erscheinungen fest-
zustellen, die durch die verschiedenen Mittel im gesunden Organis-
mus hervorgerufen würden und auf diese Weise möglichst viele
solche Symptomenkomplexe zu erzeugen, die die meiste Aehnlich-
keit mit wirklichen Krankheitsbildern hätten.
Einen derartigen Symptomenkomplex im einzelnen Krankheits-
falle zu schaffen, sei die eigentliche und einzige Aufgabe des
Arztes. Man habe also bei jedem Kranken die Mittel anzuwenden,
welche möglichst ähnliche Symptome am Gesunden hervorriefen,
wie sie die betreffende Krankheit, gegen die man sie anwenden
wolle, darbiete. Er faßte dieses Prinzip in die Worte: similia simi-
libus curantur", nach denen dann für die ganze Heilmethode aus
374 Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheillehre. Kuhpockenimpfung.
dem Griechischen das Wort „Homöopathie" von ihm gebildet
wurde.
Die Anschauung, daß die erforderliche Umstimmung der Lebens-
kraft nur durch kleine Dosen der Arzneimittel bewirkt werden
könne, während größere Dosen geradezu schädigend auf sie ein-
zuwirken pflegten, daß überhaupt nicht die grobe Materie der
Arznei an sich, sondern nur durch die auch in den kleinsten Mengen
enthaltene „Dynamis" (eine Art geistigen Prinzips) die Heilwirkung
erzeuge — diese Anschauung veranlaßte ihn, in einer ganz be-
stimmten Weise die Heilmittel zu verdünnen, oder sie, wie er es
ausdrückte, zu „potenzieren". Dies geschah, indem zunächst beispiels-
weise bei flüssigen Darreichungen eine Urtinktur, d. h. ein kräftiger
spirituöser Auszug der Drogue hergestellt wurde. Hiervon wurden
2 Tropfen mit 98 Tropfen Spiritus verdünnt und kräftig geschüttelt,
hiervon wieder i Tropfen entnommen und mit 99 Tropfen Spiritus
gemischt, und dieser Vorgang bis zu 3omal wiederholt. Bei festen
Substanzen trat an die Stelle des Spiritus der Milchzucker. Um
nun bei dieser Sublimität den homöopathischen Gaben ihre Wirkung
möglichst frei von allen Störungen von selten des Körpers zu
halten, schrieb Hahnemann eine äußerst strenge Diät und nament-
lich völlige Enthaltsamkeit gegenüber allen irgendwie differenten
Einflüssen vor.
Hiermit erschöpfen sich keineswegs die von Hahnemann in
die Medizin hineingetragenen neuen oder doch von neuem auf-
genommenen Gedanken. Eine wichtige Rolle spielte vielmehr die
Annahme, daß die mannigfachen Krankheiten bei den verschiedenen
Individuen, sei es auf Grund einer besonderen Konstitution oder in-
folge von vorhandenen Grundübeln sich in verschiedener Art modi-
fizieren. Dieser an sich ganz rationelle Gedanke wuchs sich aber
bei Hahnemann zu einem ausgesprochenen Dogma aus, daß
nämlich z. B. allen chronischen Krankheiten und einem erheblichen
Teil der akuten die Prozesse der drei sogenannten miasmatischen
Urübel zugrunde liegen: der Syphilis, der Sykosis oder der Psora.
In den therapeutischen Folgerungen, die er aus dieser Annahme
zog, liegt die größte Inkonsequenz, die er selbst seinem System
antut; denn da nach seiner Meinung diesen Grundübeln besondere
Arzneien entsprechen sollten, für deren Anwendung nicht der
Komplex der den Arzneisymptomen entsprechenden Krankheits-
erscheinungen maßgebend war, so war das wichtigste Ausgangs-
prinzip durchbrochen.
Alles in allem genommen aber haben die Lehren Hahnemanns
im Rahmen seiner Zeit betrachtet, ganz zweifellos mancherlei Vor-
züge gegenüber denen anderer: die stärkere Betonung des Indi-
Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheillehre. Kuhpockenimpfung. 375
vidualisierens in der Krankenbehandlung, die Zurückweisung der
auf fortwährend wechselnden, unsicheren, pathologischen Theorien
begründeten Heilmethoden, die Betonung der Wichtigkeit von phar-
makologischen Untersuchungen am Gesunden sind immerhin be-
achtenswert. Und die Vorwürfe, die man gegen den wissenschaft-
lichen Wert und Charakter der Homöopathie mit Recht erheben
kann, treffen die ganze übrige zeitgenössische ^ledizin in demselben
^laße. Keinesfalls darf man auch den weiteren Entwicklungsgang,
den die homöopathische Lehre genommen hat, ihrem Begründer zur
Last legen. Er teilte in dieser Hinsicht durchaus das Schicksal
anderer Reformatoren: seine Ideen wurden vielfach mißverstanden,
vielfach einseitig übertrieben. Vor allem kann man es nicht Hähxe-
MANN als Schuld anrechnen, wenn seine Lehren in höherem Maße,
als dies bei den meisten anderen der Fall war, von unlauteren Ele-
menten als Aushängeschild für allerlei pseudoärztliche Machenschaften
benutzt wurden.
Die stärkste und einseitigste Uebertreibung, die aus der Ho-
möopathie unmittelbar erwuchs, war die sogenannte „Isopathie".
Dies war die vor allem von Lux und G. Fr. Müller vertretene
Lehre, daß nicht „Aehnliches durch Aehnliches" zu bekämpfen
sei, sondern „Gleiches durch Gleiches" (aequalia aequalibus). So
wurde allen Ernstes gegen Krätze innerlich Krätzestoff, gegen Band-
würmer aus den gleichen Parasiten gewonnene Substanz, gegen
Phthisis der Auswurf Phthisischer innerlich dargereicht usw. — wobei
im übrigen daran erinnert werden darf, daß auch in diesem Ge-
danken ein richtiger Keim enthalten ist.
Unter ähnHchen psychologischen Bedingungen wie die Homöo-
pathie entwickelte sich fast gleichzeitig eine andere Lehre, deren
Grundgedanken ebenfalls eine energische Abkehr von den herrschen-
den Meinungen und eine Reaktion gegen die stark theoretichen
Neigungen der zeitgenössischen Medizin bedeuten. Im Jahre 1843
erschien ein umfangreiches Buch, daß schon durch seine ganze Form
sich von der übrigen Literatur abhob : „Rechtfertigung der von den
Gelehrten mißkannten verstandesrechten Erfahrungsheillehre
der alten scheidekünstigen Geheimärzte und treue Mitteilung des
Ergebnisses einer fünfundzwanzigjährigen Erprobung dieser Lehre
am Krankenbette". Der Verfasser war JoH. Gottfried Rade-
macher (1772 — 1850), ein feingebildeter Arzt, der zu Loch am Rhein
seinen Beruf ausübte. Unverkennbar tritt auch in seinen An-
schauungen — ähnlich wie bei Hahnemann — der noch immer
wirkende Einfluß paracelsistischer Ideen zutage. Auch er verwirft
3/6 Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheillehre. Kuhpockenimpfung.
die ganze naturwissenschaftliche Richtung der Medizin und will
allein den Erfahrungsstandpunkt gelten lassen. Nicht einmal eine
Einsicht in die krankhaften Vorgänge scheint ihm erforderlich,
sondern ganz ausschließlich eine Betrachtung der Arzneiwirkung
auf den einzelnen Organismus. Er klassifiziert demnach auch die
Krankheiten nicht nach ihren primären Erscheinungen, sondern nach
den Mitteln, welche sie günstig zu beeinflussen imstande sind. Da
es nun nach seinen Erfahrungen drei Universalheilmittel gab:
den Würfelsalpeter, das Kupfer und das Eisen , gibt es dement-
sprechend drei Grundleiden des Gesamtkörpers, die er, weil sie ihrem
Wesen nach zwar unbekannt, aber durch jene drei Stoffe heilbar
wären, als Würfelsalpeterkrankheit, als Kupferkrankheit und als
Eisenkrankheit bezeichnete. Diese Allgemeinleiden aber ziehen fast
immer ein bestimmtes Organ in Mitleidenschaft ; und so gibt es
neben ihnen auch Organkrankheiten, die aber auch wieder erst aus
der Wirksamkeit bestimmter Organheilmittel festgestellt und nach
ihnen benannt werden.
Wie wenig es aber auch Rademacher gelang, sich von der
Neigung zum Theoretisieren freizumachen, die er bei allen anderen
so scharf bemängelte, das geht aus seinen Erörterungen über Kunst-
und Naturheilung hervor, bei denen er g-anz vergaß, daß es sich um
Dinge und Fragen handelte, die nach seiner eigenen Meinung gar
nicht lösbar waren und jedenfalls nicht in die Medizin hineingehörten.
Trotz dieser und mehrfacher anderer schwerer Mängel hat sein
Buch und damit seine Lehre weite Verbreitung, ja sogar in dem
Tübinger Georg Rapp eine akademische Vertretung gefunden.
Trotz des unruhigen Auf- und Abwogens der medizinischen
Theorien gelangen in der Praxis mancherlei Fortschritte und neue
Entdeckungen. Zu diesen Neuerungen, die ohne eigentlichen Zu-
sammenhang mit der übrigen Medizin doch von großer Bedeutung und
nachwirkendem Einfluß wurden, gehört vor allem die Einführung
der Kuhpockenimpfung. Der Gedanke, durch künstliche Er-
zeugung der natürlichen Blattern eine Immunität gegen die echte
Pockenerkrankung zu erzeugen, ist sehr alt. Die Chinesen bewirkten
die „Impfung" schon lange vor Christi Geburt, indem sie den Kindern
mit Pockeneiter getränkte Wattebäusche in die Nase steckten. Die
Inder übten ebenfalls in alter Zeit schon eine Methode der Impfung,
indem sie die Haut des Armes ritzten und mit Pockeneiter be-
feuchtete Bäusche auflegten. Auch von einigen Naturvölkern ist
eine Art der Pockenimpfung bekannt. Von großer Bedeutung aber
war vor allem die von dem griechischen Arzte Emanuele TiMONi
Homöopathie, Rademachers Erfahrungsheillehre. Kuhpockenimpfung. 377
Abb. 189. Edward Jenner.
1713 bekannt gegebene Tatsache, daß bei den Georgiern und Zir-
kassiern durch künstliches Ritzen der Haut mit in Pockeneiter ge-
tauchten Xadeln eine gelinde
P'orm der Blattern hervorgerufen
werde, die vor der wirklichen
Infektion schütze. Diese Methode
fand dann durch die Vermitte-
lung der Frau des damaligen
englischen Gesandten in Kon-
stantinopel Lady Worthley-Mon-
tague Eingang auch in Europa,
doch nicht ohne mannigfache
Widerstände. Diese waren darin
begründet, daß schwere Erkran-
kungen, ja Todesfälle nicht ganz
selten auftraten.
So bedeutete die Beobach-
tung, daß das Ueberstehen der.
harmlosen Kuh pocken durch
den Menschen diesen vor der Er-
krankung mit menschlichen Blattern schützte, einen ungeheuren
Fortschritt. Es war der englische Arzt EDWARD Jenner (1749 — 1823)
der zum ersten Male der Tatsache, daß bei Pockenepidemien in auf-
fallender Weise Kuhmägde
verschont blieben, näher auf
den Grund ging und sie ganz
richtig damit in Zusammen-
hang brachte, daß jene meist
eine Kuhpockenerkrankung
durchgemacht hatten. Nach-
dem er diesem Gedanken
20 Jahre lang nachgegangen
war, entschloß er sich 1796
zu dem Versuch, von einer
an Kuhpocken erkrankten
Magd entnommenen Pocken-
inhalt auf einen Knaben zu
übertragen, und nachdem
dieser die Kuhpockenkrank-
heit überstanden hatte, ihn
mit echten Menschenblattem
zu impfen. Der Knabe er-
krankte nicht an den letz- Abb. 190. Chr. Wilh. Hufeland.
378 Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im 18. Jahrhundert.
teren, und der Beweis war erbracht, daß in der Tat das Ueber-
stehen von Kuhpocken gegen die Erkrankung an echten Blattern
schütze. 1798 veröffentlichte Jenner dann seine Entdeckung, stieß
aber damit, wie fast alle Entdecker — auf Unverständnis und
Widerstand; einen Widerstand, der dann ganz allmählich erst —
nicht zum wenigsten durch das Verdienst der deutschen Aerzte
HUFELÄND und Stromeyer gebrochen wurde, ohne indessen bis
heute gänzlich zum Stillschweigen gebracht worden zu sein.
Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im
18. Jahrhundert.
So sehr alle diese mannigfaltigen Bewegungen in der Medizin
in der auf Haller folgenden Zeit die Aerzteschaft in Mitleiden-
schaft zogen, so blieben doch manche Sondergebiete in ihrer Ent-
wicklung von ihnen ziemlich unberührt. Vor allem die Chirurgie.
Während namentlich in Deutschland ein fortwährender Wechsel der
Systeme die Heilkunde nicht zur Ruhe kommen ließ, nahm die
Chirurgie auf französischem Boden einen langsamen, aber stetigen
Aufstieg und erkämpfte sich allmählich immer mehr die volle Gleich-
berechtigung mit der inneren Medizin, die zwar theoretisch schon
anerkannt, aber noch nicht restlos in die Praxis umgesetzt worden
war. Seinen ganzen Einfluß und einen großen Teil seines Vermögens
setzte für diesen Zweck ein Francois Gigüt de LA Peyronie
(1678 — 1747), der als Direktor der Akademie für Chirurgie zu Paris
die Einrichtung einer ganzen Reihe von Lehrstühlen und eine scharfe
Trennung der Barbiere von den eigentlichen Chirurgen durchsetzte.
Seine wissenschaftlichen Leistungen waren nicht so bedeutend wie
die seines Zeitgenossen und Kollegen Jean Louis Petit (1674—1750),
der, ebenso wie ehemals Pare, aus dem Barbierstande hervor-
gegangen war, es bis zum Professor der Chirurgie und Direktor an
der obengenannten Akademie gebracht hatte. Sein Verdienst war
es besonders, daß er mehr als die meisten anderen Chirurgen seiner
Zeit auf eine sorgfältige und wahrhaft wissenschaftlich-anatomische
Vorbildung Wert legte. Vortrefflich sind seine Arbeiten über chi-
rurgische Krankheiten und Operationen ; erwähnenswert sein Schrauben-
tourniquet, die von ihm angegebene zweizeitige Amputation und der
Bruchschnitt ohne Eröffnung des Bruchsackes.
Von den sehr zahlreichen anderen französischen Chirurgen ragen
ferner über das Mittelmaß hinaus Raph. Bienvenu Sabatier
{1732 — 1811), der sich viel mit Anatomie und Augenheilkunde be-
schäftigte, sowie vor allem Pierre Jos. Desault (1744 — 1795).
Chinngie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im i8. Jahrhundert. 37g
Dieser Mann, der zunächst von sdbaen einfachen Eltern zum Geist-
lichen bestimmt war, dann aber unter großen Schwierigkeiten seinen
Weg zum Chirurgen fand und schließlich Chef-Chirurg am Hotel
Dieu zu Paris wurde, war der erste, der eine wirkliche chirurgische
Klinik begründete und nach Grundsätzen einrichtete, die im Rahmen
der damaligen hygienischen Anschauungen als recht fortschritthch
zu bezeichnen sind. Durch starke Betonung der chirurgischen Ana-
tomie, Verbesserung von Operationsmethoden, Gründung einer Fach-
zeitschrift und Ausbildung zahlreicher tüchtiger Schüler hat er sich
ein großes Verdienst um sein
Fach erworben.
Wenn Deutschland auch
Frankreich in der Entwick-
lung der Chirurgie bedeutend
nachstand, so hat es doch
auch nicht nur einige be-
deutende Vertreter, sondern
auch einen entschiedenen
allgemeinen Aufschwung
dieses Faches gezeitigt und
so eine Bewegung weiter-
geführt, die, wenn auch in
bescheidenem Umfange, mit
Wilhelm Fabry v. Hilden
begonnen hatte. Der haupt-
sächlichste Uebelstand, unter
dem die Chirurgie — insbe-
sondere auch in Deutschland
— immer noch litt, war der,
daß die Stellung des Chir-
urgen gegenüber der des
Medicus eine minder geach-
tete geblieben war, so daß wirkHch wissenschaftlich gebildete Medi-
ziner sich nicht leicht zur Ergreifung dieses Berufes entschlossen. Sich
über dieses Vorurteil hinweggesetzt zu haben, ist das Verdienst eines
Mannes, dessen Namen noch heute einen guten Klang in der Chirurgie
hat: Lorenz Heister. 1683 zu Frankfurt a. M. geboren, studierte er
zunächst in Gießen allgemeine Medizin, ging dann aber, da es an Ge-
legenheit zu wirklich chirurgischer Ausbildung in Deutschland fehlte,
nach Leyden und Amsterdam. Nachdem er längere Zeit in holländischen
Diensten gestanden hatte, wurde er als erster an eine deutsche Uni-
versität nach Altdorf berufen, wo er dann eine umfassende praktische
und Lehrtätigkeit entfaltete. Er starb 1758. Sein Hauptverdienst
Abb. 191. Lorenz Heister.
380 Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im 18. Jahrhundert.
ist die Verfassung des ersten brauchbaren Lehrbuches der Chirurgie,
das 17 18 zu Nürnberg erschienen, zwar keine hervorragende wissen-
schaftHche Leistung darstellte, aber doch mit seiner guten ana-
tomischen Grundlage, seiner gründlichen Bearbeitung des ganzen
Gebietes von der einfachen Wundbehandlung bis zu den größten
Operationen, und der sorgfältigen Darstellung des gesamten Instru-
mentariums einen entschiedenen Fortschritt bedeutet.
Abb. 192. Darstellung der Blasenstein-Operation aus Lorenz Heisters „Institutiones
chirurgicae".
Heister blieb indessen durchaus nicht der einzige deutsche
Arzt, der sich der Chirurgie widmete. So leistete auch der Leipziger
Professor Zacharias Platner (1694— 1747) hierin recht Gutes;
namentlich erfreuten sich seine 1745 erschienenen „Institutiones chi-
rurgiae rationalis" großer Verbreitung und Beliebtheit. Daneben gab
es eine ganze Reihe von Männern, die ohne eigentliche wissenschaft-
liche Bedeutung, sich doch um die chirurgische Praxis namhafte
Verdienste erwarben: wie der Jeaner Professor Karl Friedrich
Kaltschmidt (1706—1769), der Mitbegründer der Charite Johann
Theodor Eller (1689 — 1750), der preußische Generalchirurgus
Chr. Anton Theden (1714— 1797) u. a. m.
Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im i8. Jahrhundert. 381
Alle diese Männer aber wurden erheblich überragt von zwei in
der zweiten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts wirkenden Chirurgen: Siebold
und Richter. Der erstere von ihnen, Carl Kaspar Siebold
(1736 — 1807), zeichnete sich nicht nur durch hervorragende praktische
Leistungen in der Chirurgie sowie durch Angaben neuer Operations-
methoden (vor allem der Symphyseotomie) aus, sondern er wurde
auch nach seiner Berufung auf einen Lehrstuhl für Anatomie, Chi-
rurgie und Geburtshilfe in Würzburg der geistige Vater einer ganzen
Generation von tüchtigen Chirurgen. Die Bedeutung August Gott-
LIEB Richters (1742 — 1812) dagegen lag in erster Linie in der
Bearbeitung eines .vortrefflichen Lehrbuches der Chirurgie, das, in
7 Bänden von 1782 — 1804 erschienen, große Verbreitung fand. Da-
neben war er der erste, der konsequent auf eine Vereinigung der
inneren Medizin und Chirurgie hinarbeitete.
x\uch England hat im 18. Jahrhundert eine Reihe tüchtiger
Chirurgen hervorgebracht Sie zeichnen sich größtenteils dadurch
aus, daß sie eine sorgfältige anatomische Vorbildung mit einer
nüchternen Beobachtung, dabei aber kühnem Vorgehen und einer
gewissen Vielseitigkeit verbinden. Diese Eigenschaften zeigt einer
der ersten Chirurgen jener Zeit WlLLL\M Cheselden (1^88 — 1752),
der vor allem auf dem Gebiete der Blasensteinoperation Hervorragendes
leistete (er führte den Seiten-Steinschnitt in wenigen Minuten aus)
und eine einfache Form von künstlicher Pupillenbildung durch
Irisschnitt angab. Andere nennenswerte englische Chirurgen waren
Alex„\xder Münro (1697 — 1767), Percival Pott (1713 — 1788),
dessen Name in dem nach ihm benannten „Malum Pottii" fortlebt,
und die beiden Brüder Hunter, deren älterer Willl\m Huxter
(1717 — 1783) als Leibarzt der Königin großes Ansehen genoß, ein
tüchtiger Operateur und Geburtshelfer war und die Chirurgie um
neue Methoden bereicherte (HuNTERsche Aneur\'smen - Operation).
Der jüngere JOHN Hunter (1728 — 1793) bezeugte seine Vielseitig-
keit durch ausgezeichnete Leistungen in der pathologischen Anatomie,
Syphilisforschungen und Zahnheilkunde. Andere europäische Staaten,
wie Dänemark, Holland und Schweden, nahmen auch an dem Auf-
schwung der Chirurgie teil.
Obgleich eine große 2^hl von Chirurgen die Augenheil-
kunde mit in den Bereich ihrer Tätigkeit einbezog und auch
mancherlei Einzelfortschritte erzielte, so fehlte es doch seit Georg
Bartisch bis zum Beginn des 1 8. Jahrhunderts an einer zusammen-
fassenden Bearbeitung dieses Gebietes. Auch hier wurde die Führung
von den Franzosen übernommen. Das „Traite des maladies de reell"
benannte, 1707 erschienene Werk des AntüINE Maitre Jan (1650
bis 1730), der wohl als erster den wahren Sitz des grauen Stars in
382 Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im 18. Jahrhundert.
der Linse erkannte, leitete in glücklicher Weise eine Bewegung ein,
die allmählich zur Löslösung der Augenheilkunde von der Chirurgie
hinführte. Wichtige Etappen auf diesem Wege bezeichnen Namen
wie Jaques Da viel (1696 — 1762), der aus der genauen Kenntnis
des grauen Stars die seit dem Altertum (seit Antyllos, s. S. 131)
fast völlig in Vergessenheit geratene Extraktion der Linse ableitete
und endgültig wieder einführte. Ferner die durch Abfassung brauch-
barer augenärztlicher Werke bekannt gewordenen Charles de St.
IVES (1667 — 1736) und GUILLAUME PELLIER DE QUENGSY U. a. m.
Unter den deutschen Chirurgen gab es auch nicht wenige, die in
der Augenheilkunde Vortreffliches leisteten: so der oben erwähnte
Aug. Gottlieb Richter, Just. Gottfried Günz (17 14 — 1754),
Heinrich Jung-Stilling (1740 — 18 17) u. a. m. Ihre Bedeutung
steigerte sich zusehends in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und
fand ihren Höhepunkt in GEORG Joseph Beer (1762— 182 1), der die
Ophthalmologie an der Wiener Universität zu großem Ansehen
brachte. Seine hauptsächlichsten Arbeiten galten der Lehre vom
Star, die er in theoretischer wie praktischer Hinsicht außerordentlich
gefördert hat (Verbesserung des Instrumentariums !) ; ferner der künst-
lichen Pupillenbildung. Aber er hat sich außerdem um das gesamte
Gebiet der Augenheilkunde verdient gemacht.
Auch in England befaßten sich fast alle Chirurgen mit Augen-
heilkunde ; doch brachten es nur verhältnismäßig wenige zu wirklicher
Bedeutung. Unter diesen stehen an erster Stelle James Ware (17 17
bis 1802), der die Blennorrhoea neonatorum genau beschrieb,
Benediktus Duddel, dessen 1729 erschienene Schrift über Krank-
heiten und verschiedene Arten von Star einige Beachtung be-
ansprucht.
Einen gewaltigen Schritt voran tat trotz mannigfacher zu über-
windender Widerstände (s. oben S. 341) die Geburtshilfe. Die durch
die hervorragenden französischen Geburtshelfer eingeleitete Bewegung,
die vor allem eine den damaligen Anschauungen entsprechende
wissenschaftliche Begründung ihres Faches zum Ziel hatte, erlitt
keine Unterbrechung. So bedeutete es einen großen Erfolg, daß
der Holländer Hendrik van Deventer (1651 — 1724) zum ersten
Male die Wichtigkeit des knöchernen Beckens, insbesondere der
Beckenachse für den Geburtsvorgang in ihrem vollen Umfange
würdigte und eine richtige „Lehre vom Becken" begründete. Sein
1701 erschienenes bedeutendes Werk „Operationes chirurgicae novum
lumen exhibentes obstetricantibus" mit seinen guten Abbildungen
läßt den Fortschritt besonders deutlich erkennen. Namentlich er-
scheint die Diagnostik der abnormalen Kindeslagen bei ihm er-
heblich verfeinert; nicht minder seine Technik der geburtshilflichen
Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im i8. Jahrhundert 383
Eingriffe, bei denen er dem manuellen Verfahren gegenüber dem
instrumentellen bis zur äußersten Grenze den Vorzug gab.
Das letztere erhielt eine seiner wichtigsten Bereicherungen durch
eine Erfindung, die sich auf die Dauer als eine der wirksamsten
und segensreichsten in der Geburtshilfe überhaupt erwies: die Ge-
burtszange Wenn man sich vor Augen hält, daß schon im Alter-
tum (s. oben S. 124) zangenartige Instrumente zur Zerkleinerung
und auch zur Herausbeförderung des abgetöteten Embryos Ver-
wendung fanden, so ist man verwundert, daß der Gebrauch eines
ähnhch gebauten Werkzeugs zur Entwicklung eines lebenden Kindes
erst so spät in Aufnahme kam. Die Idee, mit einem einem Spekulum
ähnlichen Instrumente den Kopf des Kindes zu entwickeln, scheint
bereits im 16. Jahrhundert von Pierre Franco geäußert zu sein.
In die Tat umgesetzt wurde sie etwa 100 Jahre §päter, indem die
Londoner Familie Chamberlex eine von einem ihrer Mitgheder er-
fundene Zange unter ängstlicher Wahrung ihres Geheimnisses mit
gutem Erfolg bei schwierigen Geburtsfällen verwandte. Aber erst
durch den flandrischen Chirurgen JOHX Palfyn (1650— 1730) wurde
die Entdeckung Gemeingut aller. Dieser legte im Jahre 1721 der
Pariser Akademie ein von ihm selbst auf Grund langer En;\'ägungen
und Proben hergestelltes Werkzeug vor, das aus zwei nicht mit-
einander verbundenen großen, tief ausgehöhlten Löffeln bestand. Das
in dieser Form noch recht unhandliche und unzweckmäßige Instru-
ment wurde dann von anderen Geburtshelfern immer weiter ver-
bessert. Der wichtigste Fortschritt bestand darin, daß der Franzose
DüSSfe und die beiden Gregoire zu einer Kreuzung und Ver-
längerung der beiden Zangenarme sowie zur Anbringung von
Fenstern und eines einfachen „Schlosses" übergingen. Daraus, daß
auch diese wichtige Entdeckung in erster Linie wieder in Frank-
reich zur Verbreitung kam, wird ersichtlich, daß dieses I^nd noch
immer eine führende Rolle nicht nur auf dem Gebiete der allge-
meinen Medizin, sondern namentlich auch in der Geburtshilfe spielte.
So war es auch ein Franzose, der die durch Deventer geschaffene
Beckenlehre weiter ausbaute : Jean Louis Baudelocque ( 1 746 — 1 8 10),
indem er vor allem die Beckenmessung verfeinerte. Andere, wie DE
Puzos, Levret, Deleurye usw. vervollkommneten die Wendung.
Wieder andere wandten ihre Aufmerksamkeit dem Kaiserschnitt zu.
Aber auch Deutschland blieb in der Geburtshilfe nicht weit
zurück. War es doch Lorenz Heister, der die Anwendung der
Zange unmittelbar nach ihrer Bekanntgabe durch Palfyn unter
seinen Landsleuten durch Wort und Schrift verbreitete, das all-
gemeine Interesse für die Geburtshilfe entschieden stärkte und
damit, zum mindestens mittelbar, den Anstoß zur Schaffung der
384 Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe im 18. Jahrhundert.
ersten deutschen Professur für dieses Fach gab. Diese wurde be-
kleidet von Johann Georg Roederer (1726 — 1763), der, auf
Hallers Veranlassung nach Göttingen berufen, dort der Geburts-
hilfe eine vorbildliche Pflegestätte bereitete, aus der eine ganze
Reihe bedeutender Geburtshelfer hervorging. Durch seinen vor-
trefflichen Grundriß der Geburtshilfe, den er 1753 in Göttingen er-
scheinen ließ, hat er einen weitgehenden und nachhaltigen Einfluß
auf viele Aerztegenerationen ausgeübt.
Die Engländer sind in dieser Zeit trotz des französischen Vor-
bildes doch ihre eigenen Wege auf dem Gebiete der Geburtshilfe
gegangen und haben ihrerseits, namentlich gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts, einen entschiedenen Einfluß auf andere Länder, besonders
auch auf Deutschland, ausgeübt. Der bereits erwähnte Chirurg
William Hunter (s. oben S. 381) wirkte im allgemeinen eher zu-
rückhaltend gegenüber den neu aufkommenden eingreifenderen
Methoden und war vor allem ein entschiedener Gegner der Zange.
Umgekehrt lag die Wirksamkeit des berühmten Londoner Geburts-
helfers William Smellie (1680— 1763) gerade in seiner Bevor-
zugung instrum enteilen Vorgehens, das ihn auch zur Erfindung oder
teilweise Neueinführung verschiedener geburtshilflicher Werkzeuge
führte. Das größte Ansehen aber genoß wohl Thomas Denman
(1733 — 181 5), der eine vermittelnde Richtung einschlug, indem er,
ohne grundsätzlich die Anwendung der neu erfundenen Instrumente
abzulehnen, doch das konservativ abwartende Verfahren bevorzugte.
Er hat die Lehre von der naturgemäßen Geburt entschieden ge-
fördert, er hat den Vorgang der Selbstwendung bei vorliegendem
Arme zum ersten Male genau beobachtet und beschrieben (daher
DENMANsche Wendung!), er empfahl die künstliche P>ühgeburt bei
sehr engem Becken. Auch war er der erste, der die Tatsache der
Uebertragbarkeit des Wochenbettfiebers durch dritte Personen (Aerzte
und Hebammen), wenn auch nicht in ihrer Bedeutung völlig er-
kannte, so doch beobachtete. Unter den Holländern ist als hervor-
ragende Persönlichkeit PiETER Camper (1722 — 1789) zu erwähnen,
der wohl die erste Anregung zur Symphyseotomie (s. oben S. 381)
gegeben hat und im übrigen in den Geleisen Deventers wandelte.
Zwei wichtige Errungenschaften des Altertums vermißt man in
dieser doch in mancher Hinsicht fortgeschrittenen Zeit auf allen Ge-
bieten der chirurgischen Betätigung: die Asepsis und die Narkose.
Was die erstere anbetrifft, so braucht man nur das möglichst nur
aus einem einzigen Stück Metall gearbeitete Instrumentarium der
alten Griechen mit den komplizierten mit Hörn, Holz, Elfenbein,
Perlmutter, Schildpatt usw. verzierten Instrumenten des 18. Jahr-
hunderts zu vergleichen, um zu erkennen, daß die Notwendigkeit
Das Aerztewesen im i8. Jahrhundert. 385
einer vollkommenen Reinhaltung als obersten Grundsatzes in der
Wundbehandlung noch nicht wieder erkannt wurde. Auch sonst
fehlt es in den chirurgischen Lehrbüchern dieser Zeit an jedem wirk-
lichen Verständnis für die Wichtigkeit einer peinlichsten Sauber-
haltung aller mit der Wunde in Berührung kommenden Dinge. Und
es nimmt nicht wunder, wenn man in zeitgenössischen Nachrichten
immer wieder die beweglichen Ivlagen darüber vernimmt, daß trotz
besten Gelingens der Operationen so unendlich viele Kranke dem
„Hospitalbrand" und anderen Folgekrankheiten erlagen. Auch von
erfolgreichen Versuchen, bei den Kranken durch Betäubungsmittel
Empfindungslosigkeit herbeizuführen, erfährt man nichts. Und es
ist kaum zu verstehen, wie die in dieser Richtung gemachten An-
sätze des Altertums, die in den mittelalterlichen Schlafschwämmen
ihre Fortsetzung gefunden hatten, so vollkommen in Vergessenheit
geraten konnten.
Das Aerztewesen im 18. Jahrhundert.
Der neue Geist, der mit den großen Aerzten wie BoERHAVE,
VAN SwiETEX, Haller u. a. in die Heilkunde eingezogen war, hatte
seinen Einfluß nicht nur auf das gesamte medizinische Denken aus-
geübt, sondern gleichzeitig auch auf die äußeren ärztlichen Verhältnisse
umbildend gewirkt. Wenn auch die Neigung zum Theoretisieren
weite Kreise unter den Aerzten in ihren Bann geschlagen hatte, so
vermochten sich doch die selbständig Denkenden bei der praktischen
Ausübung ihres Berufes zumeist von solch einengenden Beeinflus-
sungen frei zu machen. Und so hat die Epoche, die als die Bringerin
wichtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Medizingeschichte
dasteht, zugleich eine erhebliche Förderung des Aerztewesens ge-
zeitigt, eine Tatsache, die in der Bezeichnung als „das goldene Zeit-
alter des ärztlichen Standes" ihren Ausdruck gefunden hat.
. Die ganze Auffassung des ärztlichen Berufes erreichte eine Höhe,
wie sie seit den unter dem Zeichen des Hippokratismus stehenden
Zeiten nie wieder erlangt worden war. Der Grund mag zum Teil
in der allgemeinen idealistischen Grundstimmung der Zeit gelegen
haben. Sicher aber war von großem Einfluß auch der hohe Begriff,
den viele der bedeutendsten und einflußreichsten Aerzte nicht nur
von ihrer Kunst selbst hatten, sondern auch anderen. Aerzten wie
Laien, beizubringen verstanden. Die ärztliche Berufswahl wurde
wieder in viel höherem Maße als vorher als eine Sache der inneren
Neigung betrachtet und nicht nur von dem Standpunkte des reinen
Broterwerbs behandelt. Und so sah auch das Publikum im Arzte
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschichte der Mediiin. 25
•2 86 Das Aerztewesen im i8. Jahrhundert.
nicht bloß einen Geschäftsmann, sondern einen zuverlässigen und
treuen Berater in gesunden und kranken Tagen. Daher kam es,
daß sich die Einrichtung des Hausarztes als die regelmäßige Form
der Beziehungen zwischen dem Arzte und seinen Klienten heraus-
bildete; eine Einrichtung, die für die Allgemeinheit außerordentlich
segensreich war, für die Gesamtheit der Aerzte aber neben der guten
Seite doch auch eine weniger günstige hatte: denn wenn auch die
in der Praxis festgewurzelten Aerzte damit eine angenehme und
sorgenfreie Stellung hatten, so war doch für den jungen Anfänger
der Erwerb einer Patientenschaft sehr erschwert.
Auch der Staat hob und unterstützte die Stellung des Arztes
namentlich dadurch, daß er ihn durch strenge gesetzliche Bestim-
mungen und ihre nachdrückliche Durchführung scharf von allen
nicht rechtmäßigen Aerzten sonderte. An die Stelle der in einzelnen
Fällen immer noch auftretenden geistlichen Aerzte , einer Ueber-
kommenschaft des Mittelalters, traten nunmehr zahlreiche jüdische
Aerzte als völlig gleichberechtigte Berufsgenossen. Einen erheb-
lichen Fortschritt für den ärztlichen Stand bedeutete die endliche
formale Aufhebung der seit dem Mittelalter nicht beseitigten Tren-
nung der Chirurgen von den eigentlichen Aerzten. In Paris blieb
allerdings der Unterschied noch insofern bestehen, als die Befugnisse
der „medici puri" und der „chirurgi" nach wie vor verschieden waren.
Erst gegen Ende des i8. Jahrhunderts begann der Unterschied sich
immer mehr zu verwischen. Viele der bedeutenderen Aerzte, nament-
lich der Professoren der Medizin, befanden sich in hochangesehenen
Stellungen als Leibärzte, deren einen sich jeder einigermaßen ver-
mögende Fürst zu halten pflegte. Unter diesen Leibärzten standen
dann die sogenannten Hofmedici. Ihre Wirksamkeit war nicht nur
eine rein persönliche, sondern hatte auch ihre sachliche Seite: sie
nahmen vielfach eine vorherrschende Stellung in den Medizinal-
kollegien ein und übten einen ausschlaggebenden Einfluß auf die
Medizinalgesetzgebung aus. In dieser Hinsicht hatte Preußen eine
führende Rolle: es schuf 1725 anstelle der alten kurbrandenburgischen
(s. oben S. 338) die erste moderne Medizinalordnung, die unter anderem
das Staatsexamen einführte. Ihr folgten dann andere deutsche
Staaten, Dänemark, Ungarn, Schweden usw. Die preußische Ord-
nung blieb bestehen, freilich nicht ohne Widerspruch, trug aber im
allgemeinen in glücklichster Weise den veränderten Verhältnissen
Rechnung. Sie handelt im ersten Abschnitt von der Zusammen-
setzung und den Befugnissen der Collegia medicorum, die in
jeder Provinz eingerichtet und insgesamt dem Oberkollegium in
Berlin unterstellt wurden. In dem zweiten Abschnitt ist von den
medici, den eigentlichen Aerzten, die Rede, ihren Pflichten unter-
Das Aerztewesen im i8. Jahrhundert. 387
einander und gegenüber der Allgemeinheit. Sie durften allein das
„innere Curieren" betreiben, hatten das Privileg, vor allen anderen
Gläubigern die Zahlung ihres Honorars zu verlangen. Die Chirurgen,
die im nächsten Abschnitt behandelt werden, stehen unter dem
Aerztekollegium und haben ihre besondere Ausbildung. Es folgen
Vorschriften über die Apotheker, Materialisten, Bader, Hebammen,
Marktschreier, Zahnärzte usw.
Die ärztliche Ausbildung erfuhr auch manche Veränderung. Nach
einer Vorbildung auf den sogenannten akademischen Gymnasien,
die zwischen dem heutigen Gymnasium und der Universität standen,
begann das eigentliche Hochschulstudium, für das weder ein fester
Plan noch eine bestimmte Dauer vorgeschrieben war. Der Studie-
rende hatte, bevor er zur Praxis zugelassen wurde, zunächst eine
„Disputation" einzureichen, dann wurde er zum „cursus anatomicus"
zugelassen, wo er 6 Präparate zu demonstrieren hatte, mußte darauf
einen praktischen Fall ^lateinisch) bearbeiten und erhielt darauf die
Genehmigung zum Praktizieren.
Die Grundlage des Studiums bildete in allen europäischen Län-
dern die Anatomie, deren Betreiben aber wegen Mangels an mensch-
hchen Leichen noch immer mit großen Schwierigkeiten verbunden
war. Das Berliner Theatrum anatomicum war im letzten Viertel
des 18. Jahrhunderts reichlicher mit Leichenmaterial versehen und
daher von Studierenden aus allen Teilen Deutschlands stark besucht.
Im übrigen behalf man sich mit Wachsnachbildungen, wie sie vor
allem der Italiener FONTANA in unübertrefflicher Weise für den
Unterricht hergestellt hatte.
Die Naturwissenschaften wurden dabei keineswegs versäumt.
Für ihr Studium waren Sammlungen, botanische Gärten, I^boratorien
usw. vorhanden, deren Betrieb zumeist von Professoren der Medizin
geleitet wurde.
Da aber keinerlei Zwang zu ihnen bestand, so beschäftigte sich
der eine mehr mit Botanik, der andere mehr mit Zoologie, mit
Chemie oder Physik. Der Unterricht in den beiden wichtigsten
Fächern, der Pathologie und Therapie, war in der ersten Hälfts des
18. Jahrhunderts, mit Ausnahme von Leyden, noch überall recht im
argen. E^ war eine Ausnahme, daß der Studierende selbst an den
Kranken herankam, er lernte vielmehr sowohl die Krankheitsbilder
als auch das Diagnostizieren und die Behandlung nur aus theoreti-
schen Vorträgen und Büchern kennen. Erst als nach dem Vor-
gange von Leyden unter dem Einfluß BOERHAVEs und seiner Schüler
ein wirklicher klinischer Unterricht in Deutschland, Frankreich und
allmählich auch in anderen Ländern eingerichtet worden war, änderte
sich dieser Zustand, und das medizinische Studium nahm einen, ge-
25* ^
388
Das Aerztewesen im i8. Jahrhundert.
0
waltigen Aufschwung. Sehr hinderlich standen dabei im Wege die
traurigen Verhältnisse der Krankenhäuser. Wenn man bedenkt, daß
selbst in einer so großen und den Zeitgenossen als mustergültig er-
scheinenden Anstalt wie das Hotel Dieu in Paris oft noch mehrere
Kranke ein Bett teilen mußten, daß das Hospitalfieber (d. h. Infek-
tionen aller Art) ein scheinbar unumgängliches Zubehör der Kranken-
anstalten war, versteht man, wie schwer es vielfach wurde, die für einen
geordneten klinischen
Unterricht erforder-
lichen Voraussetz-
ungen zu schaffen.'
Die Versorgung
mit Aerzten war in
den Städten zumeist
ausreichend, doch in
den einzelnen Län-
dern sehr verschieden,
ein Ausgleich war da-
durch erschwert, daß
selbst in den einzelnen
deutschen Staaten
nicht ohne weiteres
jeder in einem anderen
Staate approbierte
Arzt seinen Beruf trei-
ben konnte, vielmehr
zumeist erst ein neues
Landesexamen zu be-
stehen hatte. Auf dem
Lande war fast durch-
weg die Anzahl der
Aerzte viel zu gering,
um in genügendem
Umfange Hilfe leisten
zu können. Deshalb
herrschte dort auch zumeist ein blühendes Kurpfusch er wesen. das
von der Behörde stillschweigend geduldet werden mußte.
Dagegen wurde die Regelung des öffentlichen Gesundheits-
dienstes durch die Schaffung zahlreicher staatlich angestellter Aerzte
gefördert. Auch hier ging Preußen führend voran, indem es statt
der bis dahin zumeist in den Diensten einzelner Gemeinden stehenden
und in ihren Rechten und Pflichten ganz verschieden gestellten
Stadtärzte die „Physici" (s. oben S. 338) zu staatlichen Beamten
gwwmcffiliwffimtty.i
Abb. 193. Das „Königliche Spital zu Haslar", aus
J. Howard, „Krankenhäuser und Pesthäuser in Europa",
Leipzig 1791.
Das Aerztewesen im i8. Jahrhundert. 389
machte, und. nach einem ganz bestimmten einheitlichen Plane mit
gleichen Befugnissen ausgestattet, über das Staatsgebiet verteilte.
Erst hierdurch wurde ein wohlgeregelter Gesundheitsdienst ermög-
licht. Diesem Vorgehen Preußens folgte dann Rußland bald nach.
In den vielen freien Städten blieb das Stadtphysikat bestehen. Die
Gesamtheit der Physici eines solchen Gemeinwesens bildete eine
kollegiale Behörde, an deren Spitze der „Ph3-sicus primarius" stand.
Infolge der Vereinigung der inneren ^Medizin und der Wund-
heilkunde zu einer Gesamtdisziplin, wie sie durch das Vorgehen
Frankreichs 1792 zu einem endgültigen Zustande gemacht wurde,
hob sich auch die Stellung der Chirurgen um ein bedeutendes. Der
Unterricht in der Chirurgie wurde zum Teil auf den Universitäten,
zum Teil an besonderen Lehranstalten erteilt. In Frankreich waren
schon im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts Lehrstühle für Chi-
rurgie mehrfach errichtet. Die 173 1 erfolgte Stiftung der „Academie
de Chirurgie" und die 20 Jahre später geschaffene ergänzende Ein-
richtung einer „Ecole pratique" gaben Frankreich einen großen Vor-
rang auf dem Gebiete des chirurgischen Unterrichts. In Deutschland
hatten die Bemühungen in dieser Hinsicht trotz des Wirkens von
Leuten wie Heister nur vereinzelte Erfolge. So wurde 1748 in
Dresden die erste staatliche chirurgische Klinik eingerichtet. In
Oesterreich stiftete die 1785 errichtete medizinisch-chirurgische Joseph-
Akademie viel Nützliches, wenngleich ihre Hauptaufgabe, wenigstens
zunächst, in der Erziehung tüchtiger Wundärzte für das Heer be-
stand. In anderen Ländern, wie Rußland, Dänemark, Holland, Eng-
land u. a. m., hatte die Chirurgie immer noch mit großen Wider-
ständen zu kämpfen. So wurde in letztgenanntem Lande erst 1800
eine Trennung der Barbiere von den wirklichen Wundärzten durch-
geführt. Eine uns heute sonderbar anmutende Sitte war es, daß die
Chirurgen in vielen Ländern bei ihren Operationen einen „medicus
purus" hinzuziehen mußten, der zwar in der Regel nicht das min-
deste von Wundbehandlung verstand, aber auch als bloßer Zu-
schauer das ihm zustehende Honorar einstrich. Wie denn immer
noch trotz aller äußeren und inneren Fortschritte der Chirurgie ihren
Vertretern etwas von dem alten Makel ihres Handwerks anhaften
blieb. Dazu trugen besonders die zahlreichen Chirurgen bei, die,
obgleich vollkommen rite ausgebildet und approbiert, es nicht ver-
schmähten, wie fahrende Leute von Stadt zu Stadt zu ziehen und
im Verein mit Possenreißern und Seiltänzern selbst in markschreie-
rischer Weise ihr Gewerbe durch die Welt zu schleppen.
Aehnlich wie der Chirurgie erging es der Geburtshilfe des
18. Jahrhunderts in mancher Hinsicht. Von altersher mit jener ver-
knüpft, hatte sie fast noch mehr unter den festeingewurzelten Vor-
390 Das Aerztewesen im i8. Jahrhundert.
urteilen zu leiden. So wußten noch bis über die Mitte des 18. Jahr-
hunderts hinaus die Pariser Hebammen, die im Hotel Dieu ihre
eigene Unterrichtsanstalt besaßen, diese den Aerzten vollkommen zu
verschließen. Mit großer Mühe und vielem Aufwand konnten sich
die Aerzte praktische geburtshilfliche Kenntnisse verschaffen. Zwar
wurde theoretischer Unterricht in diesem Fache von vielen Lehrern
der Chirurgie und vereinzelt der Medizin erteilt, aber im übrigen
blieben die Aerzte auf die Benutzung kleiner, privater Anstalten an-
gewiesen und mußten erst in der eigenen Praxis sich die praktischen
Fähigkeiten aneignen. In Deutschland wurde die erste Lehranstalt,
an der Aerzte sich in der Geburtshilfe theoretisch ausbilden konnten,
zu Straßburg 1728 errichtet. Ihr folgten erst in ziemlichen Zwischen-
räumen die Anstalten in Dresden (1751), Kassel, Jena, Marburg u. a. m.
Von großer Bedeutung für den geburtshilfhchen Unterricht wurde
die Berufung Roederers (s. oben S. 384) nach Göttingen, der dort
die erste wirklich wissenschaftlich geleitete geburtshilfliche Klinik
abhielt. In England begann man ebenfalls erst 1765 mit wirklichem
geburtshilflichen Unterricht; in Dänemark etwa um die gleiche Zeit.
In Holland blieb trotz des Wirkens des hervorragenden Deventer
die Geburtshilfe noch zum größten Teile in den Händen der Heb-
ammen; soweit aber männliche Geburtshelfer vorhanden waren, er-
freuten sie sich hoher Achtung.
Der Stand der Hebammen hob sich durch den verbesserten
Unterricht und die größere öffentliche Fürsorge ganz erheblich.
Man verlangte von ihnen nicht nur eine einfache praktisch-mecha-
nische Ausbildung, sondern in fast allen europäischen Hebammen-
schulen hatte man einen ziemlich anspruchsvollen Lehrplan einge-
richtet, und das vor dem ärztlichen Oberkollegium stattfindende
Examen stellte ziemlich weitgehende Ansprüche auch an das theore-
tische Wissen. Hierdurch wurden ungebildete Frauen von vorn-
herein aus dem Berufe ausgeschaltet.
Das Honorarwesen der Aerzte, Geburtshelfer, Chirurgen und
Hebammen wurde fast überall durch besondere Taxordnungen ge-
regelt. Im allgemeinen machte sich in diesen bereits eine gewisse
Abnahme der Schätzung ärztlicher Leistungen insofern geltend, als
zwar, absolut betrachtet, die einzelnen Leistungen etwas höher be-
wertet wurden als vorher, im Verhältnis zum gesunkenen Geldwerte
aber hinter früheren Taxen zurückblieben. Da aber, wie es z, B. in
der preußischen „Taxa vor denen medicos" von 1725 heißt, „denen
Vornehmen und Wohlbemittelten ihre Discretion und ihre LiberaHtät
nicht gebunden" wurde, also im Grunde nur die Mindestsätze an-
gegeben waren, da ferner das Hausarztwesen in vollster Blüte stand,
so kann man auch die materielle Seite des ärztlichen Berufes in
Entwicklung der pathol. Anatomie. Pinel. Morgagni. Bichat. 391
dieser Zeit als durchaus dem ideellen Ansehen entsprechend gestaltet
bezeichnen.
Die militärärztlichen Einrichtungen, die noch zu Anfang des
18. Jahrhunderts außerordentlich rückständig waren, entwickelten sich
nach dem Vorbilde Preußens entsprechend den Fortschritten der
Chirurgie und der besseren Ausbildung der Wundärzte sowohl
ihrem Umfange als ihrer Bedeutung nach. Dies fand vor allem
seinen Ausdruck darin, daß die noch 17 10 den Offizieren unter-
stellten Feldwundärzte in eine eigene Rangordnung gebracht wurden
in der Weise, daß über den einfachen Feldscherern der Kompanie-
feldscherer und über diesem der Regimentsfeldscherer stand. Bei
der Garde führte der letztere die Rangbezeichnung „Generalchirurgus",
Die Befugnisse dieser drei Gruppen waren streng voneinander ge-
schieden : die ersteren hatten nur die niederen Hilfeleistungen, waren
also mehr eine Art von Krankenwärtern; den zweiten lag neben
dem Rasieren nur die Ueberwachung der Kranken und Verwun-
deten ob. Die eigentliche Behandlung lag ausschließlich in den
Händen der Regimentsfeldscherer. Da nun dieses Personal keines-
wegs ausreichte, so trat ihm zur Seite ein ausschließlich aus Aerzten
gebildetes Personal, die sämtlich im Range von Regimentsmedicis
standen und zumeist nur eine konsultierende Tätigkeit hatten. Ihnen
war ein Generalstabs-Medicus übergeordnet. Dort, wo in den Garni-
sonen eigene Militärspitäler bestanden, wurden sie von Gamison-
Medici geleitet. Also Verhältnisse, die denen der römischen Kaiser-
zeit ganz außerordentlich ähnelten (s. oben S. 146 ff.). Auch hinsicht-
lich der sozialen Stellung trifft dies zu; unterlagen die Feldscherer
doch noch der Prügelstrafe. In anderen Staaten, wie z. B. Frank-
reich, blieb die Entwicklung des Militärsanitätswesens noch lange
erheblich hinter demjenigen Preußens zurück.
Die Entwicklung der pathologischen Anatomie.
Pinel. Morgagni. Bichat.
Die Entwicklung, welche die Medizin in der Zeit nach HALI.ER
genommen hatte, war, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde, durch-
aus nicht eine gleichmäßig zu einem bestimmten Ziele aufsteigende.
Die Heilkunde blieb, was sie immer gewesen war, das Kampf feld
auf- und abwogender Meinungen. Und das, was in dem einen
Augenblick als neue und feststehende Tatsache in den Vordergrund
geschoben war, wurde im nächsten oft schon wieder verworfen, um
bald darauf, meist in etwas veränderter Form, wieder aufzutauchen.
Wie groß und mitbestimmend immer noch der Einfluß der Philo-
sophie auf viele ärztliche Forscher war, hatte die naturphilosophische
Schule wieder deutlich gezeigt. Aber ebenso sichtbar war auf der
anderen Seite bei einer ganzen Reihe von Aerzten das Bestreben,
die philosophische Spekulation endgültig aus der ärztlichen Forschung
auszuschalten und an ihre Stelle ein nüchtern-naturwissenschaftliches
Denken zu setzen.
Die bei Barthez zum ersten Male deutlich zutage getretenen
Ideen hatten, wie oben (s. S. 362 f.) bereits kurz angedeutet wurde, in
Pinel eine Nachfolge gefunden, der sie seinerseits weiter ausgeführt
und — in gewissem Sinne — modifiziert hatte. Sein Bestreben war
vor allem darauf gerichtet, die Krankheitserscheinungen in ihre
Grundbestandteile aufzulösen, sie unter Zugrundelegung anatomischer
Kenntnisse und der Annahme, daß einem analogen anatomischen
Bau auch analoge Lebenserscheinungen entsprechen müßten, mit der
Beschaffenheit und dem Verhalten der betreffenden Körperteile und
Organe in Beziehungen zu bringen, mit anderen Worten eine ana-
tomische Lokalisation der Krankheitsvorgänge zu erreichen und
darauf ein natürliches nosologisches System aufzubauen.
Dieser Gedanke war zweifellos beeinflußt von den Fortschritten,
die inzwischen bereits die Kenntnis von den anatomischen Grund-
lagen der Krankheitsveränderungen gemacht hatte. Sie knüpfen sich
vor allem an den Namen eines Mannes, dessen Hauptverdienst in
der erstmaligen Selbständigmachung der pathologischen Anatomie
als besonderen Wissenszweiges liegt: GlOVANNi Battista MOR-
GAGNI (1682 — 177 1). Aus einer Richtung hervorgegangen, die
Entwicklung der pathol. Anatomie. Pixel. Morgagni. Bichat. 39^
von dem berühmten Marcello Malpighi (1628 — 1694) ihren
Ausgang nehmend, über dessen Schüler Antonio Maria Val-
SALVA (1666 — 1723) führte, den wiederum Morgagni zum Lehrer
hatte, beschäftigte auch er sich zunächst eingehendst mit normaler Ana-
tomie, wobei er, wie schon manche Anatomen vor ihm, gleichzeitig ge-
legentliche seltenere krankhafte Strukturveränderungen mit regi-
strierte. Allmählich aber ging er zu einer systematischen Beobach-
tung aller pathologischen Veränderungen über, die er dann schließ-
lich — erst im hohen Alter — im Jahre 1761 in einem grundlegenden
Werke „De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis
libri quinque" zusammenfaßte ; einem Werke, das in der Vielseitigkeit
seiner Anlage freilich erheb-
lich über ein bloßes patho-
logisch - anatomisches Buch
hinausging. War auch der
Hauptzweck, den Morgagni
in seinem Werke verfolgte,
eine zuverlässigere Unterlage
für eine sichere Diagnostik
und damit auch für die Thera-
pie zu schaffen, so trat, darüber
hinausgehend, doch auch der
rein wissenschaftliche Ge-
sichtspunkt, eine festere Ver-
bindung der normalen Ana-
tomie und Physiologie mit der
Pathologie herzustellen, stark
hervor. Trotz der großen
Mängel, die dem Werke bei
allen seinen bedeutenden Vor-
zügen anhafteten und — bei
dem damaligen Stande der
Forschung — anhaften mußten, trotzdem Morgagni beispielsweise die
Krankheitsprodukte gleichzeitig auch als die Ursachen der Krankheit
betrachtete, lag doch hier zum ersten Male eine Leistung vor, die,
durch das Schaffen anderer Leute, wie Jos. LlEUTAUD (1703 — 1780),
John Hunter (s. oben S. 381) u. a. m. ergänzt und er\veitert, eine
bis dahin nicht erreichte Unterlage für weitere Fortschritte abgab.
So steht auch der Mann auf den Schultern seiner Vorgänger,
der in seiner ganzen Auffassung uns heute als der erste Vertreter
„moderner" Medizin erscheint: Fran(;ois Xavier Bichat. Im
Jahre 1771 als Sohn eines Arztes zu Thoi rette geboren, erhielt
er in Nantes, Paris, Lyon und Montpellier seine Ausbildung.
Abb. 194. Marc. Mali'ighi.
394 Entwicklung der pathol. Anatomie. Pinel. Morgagni. Bichat.
In Paris wurde er Lieblingsschüler und Gehilfe Desaults, unter
dem er sich vor allem mit Chirurgie beschäftigte. Nach dem Tode
seines Meisters wandte er sich hauptsächlich der Anatomie und
Physiologie zu, die er. in Privatkursen seit 1796 lehrte. 1801 wurde
er am Hotel Dieu angestellt, starb aber bereits 1 802 an einer Tuber-
kulose, die er sich durch ungeheuere Ueberarbeitung zugezogen
hatte. Seine wichtigsten Werke, die sich alle durch einen ungewöhn-
lichen Wirklichkeitssinn und Schärfe der Auffassung auszeichnen,
sind „Anatomie generale appliquee ä la physiologie et la medecine"
und „Recherches physiologiques sur la vie et la mort" (beide 1801
erschienen).
Wie bei allen großen Neuerern, so ist auch bei BiCHAT eine
gewisse Einseitigkeit in der Verfolgung seiner Ideen nicht zu über-
sehen. Sie besteht darin, daß bei ihm die chemische und physi-
kalische Seite der Lebensvorgänge über Gebühr in den Hintergrund
gedrängt werden zugunsten einer — dadurch freilich um so ein-
heitlicher — geschlossenen anatomischen Betrachtungsweise. Wie-
weit er hierin ging, ersieht man schon allein aus einem einzigen
Ausspruch : „Man nehme einige fieberhafte und nervöse Leiden fort,
und alles andere gehört in den Bereich der pathologischen Ana-
tomie". Mit dieser Anschauung kam er zum ersten Male wieder in
klar ciusgesprochener Weise auf Gedanken zurück, die in der Lehre
Galens von der Bedeutung der gleichartigen und ungleichartigen
Teile bereits angedeutet waren. Die Grundlage bildet bei ihm die
allgemein-anatomische Betrachtung, daß der Körper zusammengesetzt
sei aus „allgemeinen Gewebssystemen", d. h. solchen, die überall im
Körper vorkommen (wie das Zellgewebe, Nervengewebe, Ader- und
Lymphsystem), und „besonderen Gewebssystemen", d. h. solchen, die
gewissen Teilen des Körpers eigentümlich sind (wie Muskeln,
Knochen und Knochenmarksystem, seröse und Schleimhäute, Drüsen-
system usw.). Die Gesamtheit dieser Gewebe faßte er unter der
Bezeichnung „einfache" zusammen und stellte ihnen die „zusammen-
gesetzten" gegenüber, unter denen er die aus verschiedenen ein-
fachen Geweben bestehenden Häute (fibromuköse, fibroseröse) sowie
die Organe begreift. Diese Betrachtungsweise gestattete ihm, als
erstem, die Lokalisierung der Krankheitsprozesse nicht bloß in die
einzelnen Körperteile und Organe zu verlegen, sondern sie weiter
darüber hinaus bis in die einzelnen Gewebe zu verfolgen. Auf
diesem Wege gelangt er zu einer doppelten wichtigen Erkenntnis:
einmal, daß jedes Gewebe, da es, gleichgültig in welchem Körper-
teile gelegen, stets die gleiche Struktur, dieselben Eigenschaften und
die nämliche Disposition habe, also auch überall die gleichen Formen
von krankhaften Veränderungen aufweise; sodann aber, daß ein Teil
Entwicklung der pathol. Anatomie. Pixel. Morgagni. Bichat. 395
oder Organ durchaus nicht immer als Ganzes zu erkranken brauche,
daß vieknehr auch eine einzelne Gewebsart von krankhaften Ver-
änderungen befallen sein könne. Diese Ideen haben sich in der
Folgezeit als ganz außerordentlich fruchtbar erwiesen vor allem da-
durch, daß sie die Krankheitslehre wenigstens nach dieser einen
Seite hin von den mannigfachen Spekulationen abgezogen haben
und auf den Boden einer reinen Tatsachenbetrachtung stellten.
Auf der anderen Seite freilich war Bichat nicht anders wie
viele seiner Vorgänger und Zeitgenossen vollkommen von vitaUstischen
Gedanken befangen; er verstand es eben — was uns heute unmög-
lich dünkt — den Krankheitsvorgang selbst von seinen Ursachen
gedanklich so weit auseinanderzuhalten, daß er an die Erklärung
der letzteren von einem ganz anderen Standpunkte heranzutreten
vermochte. So erschien ihm das Krankwerden als eine Störung der
„vitalen Eigentümlichkeiten", nämlich der „Sensibilität" und „Kon-
traktilität". Da nach seiner Annahme das Leben in zwei Arten
sich äußert, als „organisches", d. h. Tieren und Pflanzen gemein-
sames, und „animalisches", das nur den Tieren zukommt, so teilt er
auch die beiden vitalen Eigentümlichkeiten in organische oder un-
bewußte und animale oder bewußte Sensibilität bzw. Kontraktilität.
Jedes Gewebe aber hat seine eigene Art von Sensibilität und Kon-
traktilität. Seinen ganzen Grundanschauungen nach erscheint Bichat
somit als ausgesprochener Solidarpathologe. Aber diese vollständige
Einseitigkeit vermied er dadurch, daß er auch den Säften, nament-
lich dem Blute, eine Rolle in der Krankheitslehre zuwies und ihr
damit einen humoralpathologischen Einschlag gab. Er tat dies, in-
dem er — in etwas dunkler Weise — von einer besonderen „Vitalität
der Säfte" sprach.
Alles in allem genommen lassen die Anschauungen BiCHATs
die Gedankenarbeit eines bedeutenden Arztes erkennen, der, in der
vollen Erkenntnis des wahren Zieles der medizinischen Forschung
und des zu ihm hinführenden richtigen Weges, doch noch durch
mancherlei Fäden mit dem Geiste der Vergangenheit verknüpft er-
scheint und der in dem Streben, Einseitigkeit zu vermeiden, die Er-
weiterung seiner Gedankengänge nicht in dem uns heute selbstver-
ständlich erscheinenden Anschluß an die Naturwissenschaften (Physik
und Chemie), sondern gerade in dem suchte, was er eigentlich und
seiner Natur nach verwarf: in der Spekulation.
3q6 Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin:
Der Ausbau der naturwissenschaftlichen Grund-
lagen der Medizin: Botanik, Zoologie, Physik,
Chemie, Anatomie und Physiologie. Gall und die
Phrenologie. Der Broussaisismus.
Das Bestreben, die Ergebnisse ihrer naturwissenschaftlichen
P'orschungen mit ihrer allgemeinen Weltanschauung in einen ge-
wissen Einklang zu bringen, machte sich begreiflicherweise auch
jetzt wieder bei vielen Aerzten geltend. Aber die Verhältnisse,
unter denen dies jetzt geschah, waren ganz andere geworden. Der
Einfluß der Philosophie war in demselben Maße zurückgedrängt, in
dem die Naturwissenschaften in den Vordergrund drangen. Eine
entschiedene Unterstützung fand diese Entwicklung in der allgemein-
realistischen Richtung, die sich im 19. Jahrhundert als eine Reaktion
auf den Idealismus des vergangenen Jahrhunderts auf fast allen Ge-
bieten des kulturellen Lebens geltend machte. Die ganze Zeit-
strömung bewirkte mit, daß das naturwissenschaftliche Denken
weniger von der philosophischen Spekulation mehr beeinflußt wurde,
als umgekehrt selbst einen Einfluß auf die Geisteswissenschaften
gewann. Der deutliche Niederschlag dieses Vorganges war in zwei
philosophischen Richtungen erkennbar: in dem von August Comte
(1798 — 1857) begründeten „Positivismus", der unter Verwerfung aller
Metaphysik lediglich aus der Beobachtung der tatsächlichen Er-
scheinungen und ihrer Bedingungen seine Schlüsse zu ziehen suchte
und als eigentliche Wissenschaften nur Mathematik, Astonomie,
Chemie, Physik, Biologie und Soziologie anerkannte. Demgegenüber
stand der vor allem von deutschen Forschern vertretene „Materialis-
mus", wie er namentlich von dem Physiologen Carl Vogt (18 17 bis
1895), von Ludwig Büchner u. a. vertreten wurde.
Was die einzelnen Naturwissenschaften und ihre Beziehungen
zur Medizin anlangt, so war bei der Botanik ein doppelter Einfluß
unverkennbar, ein mehr äußerlicher, indem durch die verbesserten
und erweiterten Kenntnisse von den Arzneipflanzen der Arznei-
schatz eine entschiedene Bereicherung empfing. Sodann aber — und
das war das wichtigere — indem die Botanik durch ihre biologischen
Forschungen unmittelbar befruchtend auf die Medizin wirkte. In
einer Hinsicht freilich war dieser Einfluß ein nicht eben segens-
reicher; denn die durch LiNNE eingeführte Klassifikation der Pflanzen
nach „natürlichen Familien" veranlaßte einige ärztliche Forscher zur
Nachahmung und wurde dadurch eine der Hauptursachen für die
Begründung der sogenannten „naturhistorischen Schule". Auf der
anderen Seite aber war es die mikroskopische Botanik, welche nach
Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie. 397
zwei Richtungen hin der Medizin wichtige Anregungen gab: sie
wurde durch die Auffindung der mikroskopischen Pilzformen die
Unterlage für die Parasitenlehre und durch die Entdeckung der
Bedeutung der Pflanzenzellen das Fundament für die tierische Zellen-
lehre, die in Virchow ihre volle Auswirkung zu einem großen
neuen System finden sollte (s. unten S. 399 ff). Wenn auch schon im
17. Jahrhundert Hooke und Malpighi (s. S. 392) u. a. die Pflanzen-
zelle als solche erkannt und Robert Brown (1773 — 1858) dann bei
Orchideen den Zellkern gesehen hatten, so gelang es doch erst
Abb. 195. Jakob Matthias Schleiden.
Matthias Jakob ScHLEiDEN (1804— 1864), die Bedeutung der Zelle
als eigentlichen Formelementes der Pflanzen und deren Entwicklung
aus der Zelle zu erkennen.
Auf diesem Fortschritte baute sich" dann eine der wichtigsten
zoologischen Neuerkenntnisse auf, die THEODOR SCHWANN (18 10 bis
1882) in seiner Schrift „Mikroskopische Untersuchungen über die
Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere
und Pflanzen" erstmalig niederlegte; eine wissenschaftliche Tat, die
durch die grundsätzliche Hinwegräumung der bis dahin von den meisten
Naturforschern zwischen Pflanze und Tier aufgerichteten Scheidewand
398 Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin :
ungeahnten Segen gestiftet hat. Auch sonst waren die wohltätigen
Wirkungen in der Zoologie deutlich spürbar : so in der bahnbrechen-
den Arbeit Gottfried Chr. Ehrenbergs (1795 — 1876) über „Die
Infusionstierchen als vollkommene Organismen", die in unverkenn-
barem Zusammenhang mit den gegen Ende der dreissiger Jahre
des 19. Jahrhunderts einsetzenden Bestrebungen steht, über die Be-
deutung der Parasiten für den tierischen Organismus Klarheit zu
schaffen. Auch die von Georges Guvier (1769 — 1832) wissenschaft-
lich begründete vergleichende Anatomie und ihre Verschmelzung
mit der Zoologie wurde von großem Einfluß auf die medizinische
Forschung.
Das Gleiche gilt in fast noch höherem Maße von der von Charles
Darwin (1809— 1882) begrün-
deten Deszendenztheorie, die
mit der alten Anschauung von
der Unveränderlichkeit der
Arten ein für allemal aufräumte.
Zwar hatten Darwins Ideen
bereits Vorgänger gehabt, wie
den Chevalier de Lamarck
(1744— 1829), Geoffroy St.
Hilaire(i772 — 1844), Goethe
u. a., die alle mehr oder minder
den Gedanken einer allmäh-
lichen Veränderung der Arten
ausgesprochen hatten. Doch
war Darwin der erste, der
ihn bis zu der Aufstellung der
These durchführte, daß alle
heute lebenden Arten von
früheren weniger entwickelten
abstammten, und daß bei dem
allmählichen Umwandlungsprozeß eine natürliche Auswahl infolge eines
„Kampfes ums Dasein" als wichtigster ursächlicher Faktor in Betracht
komme. Diese Theorie hat durch zahllose Anhänger eine weite
Verbreitung gefunden, in neuerer Zeit freilich in steigendem Umfange
auch Gegner. Eine ihr^r wichtigsten Fortbildungen ist das von
Ernst Haeckel (1834 — 1919) aufgestellte „biogenetische Grund-
gesetz", nach dem die höheren Lebewesen im embryonischen Zustande
die ganze Entwicklung ihrer Stammesvorfahren durchlaufen sollen.
Auch die Physik hat ihre Verbindung mit der Medizin im
19. Jahrhundert immer fester geknüpft. Im Anfange allerdings nur,
um gewisse Spekulationen — wie die von der Polarität — mit einer
Abb. 196, Theodor Schwann.
Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, x\natomie und Physiologie. 399
naturwissenschaftlichen Einkleidung zu versehen. Allmählich aber
hat die Physik sich vor allem in der Physiologie als der Lehre von
den Lebensfunktionen die Stellung erobert, die ihr ihrer Bedeutung
nach zukommt. Nicht in der einseitigen Weise wie bei den latro-
physikern (s. oben S. 320 ff.), sondern unter Einräumung des gebührenden
Platzes für ihre Schwesterwissenschaft: die Chemie. Alle die Ge-
setze der Ph}-sik, welche man fand, erkannte man als anwendbar
auf die Erscheinungen auch des lebenden Organismus. Man braucht
nur Namen wie Thomas Young (1773 — 1829), John Dalton (1766
bis 1844), den Schöpfer der Atomtheorie, Gay-Lü'SSAC (1778— 1850),
den Entdecker des Volumgesetzes, ferner Chladni (1756 — 1827),
Fpiaunhofer (1787 — 1826), Ampere (1775— 1847) und viele andere
sich ins Gedächtnis zu rufen, ohne deren Forschungen man sich die
heutige Physiologie überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Weit be-
deutsamer als die meisten der angeführten Fortschritte aber war die
Aufstellung des „Gesetzes von der Erhaltung der Kraft" durch Julius
Robert Mayer (18 14— 1878); eine Tat, die am meisten dazu bei-
getragen hat, den Vitalismus, der immer noch in der Erklärung der
Lebens Vorgänge bei vielen Forschern eine wichtige RoUe spielte und
der naturwissenschaftlichen Betrachtung den Rang streitig machte,
wenn auch nicht ganz zu beseitigen, so doch in den Hintergrund zu
bringen.
Aber auch die praktische Medizin zog immer mehr ihren
Nutzen aus den physikalischen Errungenschaften. Die Diagnostik
sowohl als auch die Therapie nahm ihre Hilfe in zunehmendem Maße
in Anspruch. Nicht umsonst sprechen wir seit langem von einer
„physikalischen Diagnostik" und einer „physikalischen Therapie".
Waren beide, besonders die letztere, bis dahin fast ausschließlich auf
Empirie gestellt, so erhielten sie jetzt einen ständig größer und fester
werdenden Unterbau. Auskultation, Perkussion und Mikroskopie,
später dann Photographie, Endoskopie und Ophthalmoskopie u. a. m.
legen hiervon ein ebenso beredtes Zeugnis ab wie die elektrothera-
peutischen, hydrotherapeutischen und ähnliche Maßnahmen.
Aehnliches gilt für die Chemie. Der Einfluß ihrer Lehren auf
die medizinische Theorienbildung war ein ungeheurer, bot freilich bei
der Mannigfaltigkeit und der raschen Aufeinanderfolge der ver-
schiedenen chemischen Entdeckungen ein unruhiges Bild, von dem
hier nur einige wenige Züge gebracht werden können. So die Er-
klärung der Verseifungsprozesses durch Mich. EUGifeNE Chevreul,
des Harnstoffes als Umwandlnngsprodukt des cyansauren Ammoniaks
durch Friedrich Wühler 1828, der Nachweis Claude L. Berthol-
LETs (1748 — 1822), daß nicht nur der Sauerstoff Säuren bilden könne,
die umfassenden Forschungen Johann Jac. Berzelius' (1779— 1848)
400 Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin:
auf dem Gebiete der Tierchemie; seine Lehre von den chemischen
Proportionen, seine genauere Bestimmung der Atomgewichte usw.,
die berühmten Arbeiten TUSTUS LiEBiGs (1803 — 1873) und seiner
zahlreichen Schüler. Von praktischer Wichtigkeit waren unter
anderem die Mineralwasser- Analysen Karl August Hoffmanns
(1760—1832) und Carl Gustav Bischoffs (1792 — 1846), die toxi-
kologischen Arbeiten Leopold Gmelins (1789 — 1853), die Entdeckung
der ersten organischen Basis, des Morphiums durch Friedrich
Wilhelm Adam Sertürner (1783 — 1841) und vieler mehr, wie
denn überhaupt in der Pharmakotherapie das chemische Zeitalter
außerordentlich stark zum Ausdruck kam.
Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der
Medizin gestalteten sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt enger. Mit
einer — man möchte fast sagen — zwingenden Gesetzmäßigkeit
drängte die ganze Entwicklung auf einen Punkt hin : die Zellular-
pathologie. Die bewußte Ausschaltung der philosophischen Spe-
kulation aus der medizinischen Forschung und deren Begründung
auf naturwissenschaftliche Methoden hatten der einseitig humoral-
pathologischen Betrachtungsweise den Boden entzogen, die Lokali-
sierung des Krankheitsprozesses in die einzelnen Gewebe war dann
die erste Etappe zu einer s o 1 i d a r pathologischen Auffassung, und
die Entdeckung der Bedeutung der tierischen Zelle für alle Vorgänge
im Organismus war der Schlußstein des Unterbaues, auf dem die
neue Lehre entstehen sollte.
Eine wichtige Unterlage war naturgemäß die verfeinerte mensch-
liche und tierische Anatomie. War auch der Bau des Menschen-
körpers im allgemeinen und gröberen der Wissenschaft erschlossen, so
gab es doch noch eine Unmenge von feineren Lücken auszufüllen:
einmal in bezug auf kompliziertere Gebilde wie die Sinnesorgane,
das Nervensystem, Gehirn usw., sodann aber ganz generell hinsicht-
lich der feineren Struktur der Einzelteile. Auch die Lage der ein-
zelnen Teile gewisser mehr oder weniger in sich abgeschlossener
Bezirke fand eine größere Beachtung, die in der Begründung einer
„topographischen Anatomie" sich ausdrückte. Eine unübersehbare
Reihe von Forschern war an dieser Kleinarbeit beteiligt. Aber
es ragen einzelne durch bedeutendere Leistungen aus ihnen hervor.
Ein Schüler des berühmten MORGAGNI war ANTONIO Scarpa (1747
— 1832), der sich durch seine Untersuchungen über Nase und Ohr,
Ganglien, Nerven usw. auszeichnete. Eines großen Rufes erfreute sich
der Holländer Ed. Sandifort (1742 — 1819) durch seine Studien über
Eingeweide und Muskeln; ferner der Engländer John Bell (1763
Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie. 401
— 1820) durch ein vortreffliches Lehrbuch der Anatomie. Auf dem
Gebiete der vergleichenden Anatomie trat der aus einer deutschen
GelehrtenfamiHe stammende Friedrich Meckel der Jüngere (i 781
— 1833) hervor. Zu nennen sind noch JuST, Chr. Loder (1753
— 1832), der Russe Peter Zagorsky (1764 — 1846), Jules Ger-
main Claouet (1790— 1883) u. a. m.
An Bedeutung übertroffen wurden die meisten der genannten
Anatomen durch Jacob Henle (1809 — 1865). Seine 1871 — 1879 er-
schienene „Allgemeine Anatomie" und „Systematische Anatomie"
waren grundlegende Werke, auf denen die heutige Forschung noch
ruht. Die zahlreichen neuen Entdeckungen, die er machte, be-
schränkten sich nicht nur auf die normale Anatomie, sondern nicht
minder bedeutend waren seine „Pathologischen Untersuchungen"
(1840). Besonders wichtig für die Folgezeit wurde seine Annahme
eines „Contagium animatum"; bildete sie doch den ersten deudichen
Ansatz zur Erkenntnis der Rolle, die den Mikroorganismen bei dem
Zustandekommen übertragbarer Krankheiten zukommt.
Hatte schon die Zeit um die Wende des 18. Jahrhunderts zum
19. Jahrhundert eine gewaltige Zahl von Anatomen hervorgebracht,
so nahm diese im weiteren Verlauf des letzteren dauernd zu. Um
nur die bedeutendsten zu erwähnen, so zeichnete sich Jos. Hyrtl
(181 1 — 1894) aus Wien vor allem durch ein immer wieder neuauf-
gelegtes „Lehrbuch der Anatomie" und ein „Handbuch der topo-
graphischen Anatomie und ihrer praktisch medizinisch-chirurgischen
Anwendung" aus. Ein wichtiger Fortschritt für die Anatomie war
die Erfindung der Gefäßinjektion mit Karminammonium und Gelatine
durch Joseph v. Gerlach. Hervorragendes leisteten ferner Natha-
nael Lieberkühn (1822—1887), Hermann Welcker (1822— 1897),
der durch die Einführung des Mikrotoms die mikroskopische Technik
außerordentlich förderte, von Franzosen Marie Philibert C(^nstant
Sappey (1810— 1896) als Verfasser einer „Beschreibenden Anatomie",
Charles Philippe Robin (1821 — 1885) auf dem Gebiete der Histo-
logie u. a. m. Auch England hatte eine Reihe namhafter Anatomen
aufzuweisen, wie George Gulliver (1814— 1882), William Bow-
MAN (18 16 — 1892), der neben vortrefflichen Leistungen in der Ana-
tomie auch als Physiologe und Augenarzt bedeutend war. Zu den
Anatomen ist schließlich in gewissem Sinne auch Franz Jos. Gall
(1758 — 1828) zu rechnen, obgleich er seinen Ruf einer ganz speziellen
Lehre verdankt: der Kranioskopie oder Phrenologie, von
ihm selbst zunächst „Organologie" benannt. Ausgehend von sehr ge-
nauen Studien über das Gehirn und seine einzelnen Teile, kam Gall
zu der Auffassung, daß dieses aus einer Mehrzahl voneinander unab-
hängiger, nur örtlich vereinigter Einzelorgane bestehe, die hauptsächlich
Meyer-Steineg u. Sudhoff, Illustr. Geschicbte der Medizin. 26
402 Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin:
die Großhirnrinde einnähmen. Sie seien jedes derart ausgeprägt in
seiner Form, daß sie auch außen am Schädel an entsprechenden
Erhabenheiten mit dem Gesichts- und Tastsinn zu erkennen seien.
Jedes dieser Organe sei für eine bestimmte psychische Funktion
bestimmt, so daß man an den äußeren Formen des Schädels auf die
Zusammensetzung der Psyche schließen könne. Diese Lehre, die ja
in ihrem Lokalisationsgedanken sicherlich einen gesunden Kern ent-
hielt, wurde von ihm dann zu einem schematischen System ausge-
staltet, nach dem den 27 das Gehirn bildenden Organen ebenso viele
Abb. 197. Franz Josef Gall.
„Sinne" entsprechen sollten, wie z.B. Freundschaftssinn, Fortpflanzungs-
sinn, Mordsinn, Eitelkeitssinn, Ortssinn, Kunstsinn, Nachahmungssinn
usw. Das Neue in diesen Anschauungen eroberte ihnen schnell einen
gewaltigen Anhängerkreis unter Laien und Aerzten. Unter den
letzteren gingen manche wie JoH. Caspar Spurzheim (1776 — 1832}
noch weit über ihren Meister hinaus, wie denn überhaupt die Phreno-
logie ähnlich wie der Mesmerismus zu einer wahren Modekrankheit
bald ausartete.
Auch auf dem Gebiete der Physiologie begegnen uns in
dieser Zeit neben den zielbewußt vorwärts gehenden Bestrebungen
derartige Abirrungen, Eine solche ist — trotz mancher richtiger
Botanik, Zoologie, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie. 403
Gedanken — der sogenannte Broussaisismus. Sein Schöpfer,
der Pariser Professor Franc. Jos. Victor Broussais (1772 — 1838),
hängt offensichtlich mit den Vitalisten zusammen. Wie diese nimmt
auch er eine besondere, dem Körper eigentümliche Kraft an, die
ihrerseits erst in dem Organismus gewisse chemische und physi-
kalische Vorgänge auslöse. Die Lebenskraft selbst aber bedürfe zu
ihrer Betätigung äußerer Reize, besonders der Wärme. Wenn diese
Reize in einem mittleren Grade einwirkten, bestehe Gesundheit.
Krankheit dagegen beruhe auf abnormaler Stärke oder Schwäche
der äußeren Reize, Und zwar treffe die Krankheitsreizung, „Irri-
tation", in der Regel zunächst einige Teile des Körpers und wirke
an diesen schädigend auf die Empfindungssphäre oder rufe Ver-
änderungen in der Säfteströmung oder der Ernährung hervor. Von
dem primär betroffenen Teile aus verbreite sich dann der krank-
hafte Reiz auf die Nervenbahnen durch eine Art „Sympathie". Ganz
besonders bilde den weiteren Ausgangspunkt die Schleimhaut des
Verdauungskanals (Magen und Darm). Von hier aus werde dann
meist das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen — daher Kopfschmerz
und Schwindel. Oder das Herz werde betroffen, dessen Irritation
dann das Fieber erzeuge. Auch die äußere Haut stehe in ähnlicher
Weise mit der Magendarm-Schleimhaut in Verbindung, wodurch
dann die Exantheme (bei Typhus, Scharlach, Masern usw.) hervor-
gerufen würden. Kurzum: die Gastroenteritis ist schließlich letzten
Grundes immer der Ausgangspunkt alles Krankseins; bei akutem in
einer akuten Form, bei chronischen Leiden als chronische Magen-
darmentzündung. „Die Erkenntnis der krankhaften Zustände des
Magens ist der Schlüssel der Pathologie."
Damit war ein System geschaffen, das in seiner Einfachheit und
Folgerichtigkeit geradezu verblüffend wirkte. Dem entsprach denn
auch die Therapie, die fast in jedem Falle sich gegen die als Ur-
sache angenommene Gastroenteritis zu richten hatte und vor allem
in dem Setzen zahlreicher Blutegel auf die Magen- und Unterleibs-
gegend bestand. Solche wurden daneben auch oft auf die sym-
pathisch miterkrankten Teile gesetzt, wie z. B. auf die Gelenke bei
Rheuma und Gicht, auf den Hals bei Krup, auf die Brust bei
Phthisis usw. Außerdem spielten leichte Diät, ableitende Mittel
der verschiedensten Art, wie Diuretica, Emetica u. ä. eine ge-
wisse Rolle.
So bedeuten Broussais' Lehren keinerlei Fortschritt, sie haben
im Gegenteil durch das Bestechende ihrer Einfachheit und die be-
queme praktische Verwendbarkeit entschieden hemmend gewirkt.
Der einzige Dienst, den sie der Medizin geleistet haben, bestand in
ihrem ausgesprochenen Gegensatz zu der damals in den Vorder-
26*
404 Begründung der Physiologie als Naturwissenschaft.
grund drängenden ontologischen Auffassung, die in der Krankheit
ein besonderes Wesen mit eigenem, nach besonderen Gesetzen ab-
laufenden Leben sehen wollte.
Die Begründung der Physiologie als Naturwissen-
schaft. Magendie, Bernard, Johannes Müller und
seine Schule. Die „chemische Physiologie".
Es bedurfte einer energischen Abkehr von beiden Richtungen,
sowohl von der BROUSSAISschen, die im Grunde nicht viel anderes
als ein modifizierter Brownianismus war, als von den auf natur-
philosophischem Boden erwachsenen Lehren, um die Medizin wieder
auf die Bahn der naturwissenschaftlichen Auffassung zurückzubringen.
Sehr wichtig war in dieser Hinsicht das Auftreten zweier hervor-
ragender französischer Aerzte: Fran^OIS Magendie (1783 — 1855)
und Claude Bernard (1813 — 1878). Bei beiden ist der Einfluß
BiCHATs deutlich erkennbar. Aber man sieht doch auch, daß sie
ständig bemüht waren, die von diesem begangenen Fehler, die sie
als solche erkannten, zu vermeiden. Magendies Grundstandpunkt,
alle Erscheinungen des Lebens mit Ausnahme der Nerventätigkeit
auf physiologisch-chemische und physikalische Gesetze zurückzuführen
und in der Medizin ausschließlich die Erfahrung unter Ausschluß
jedes Raisonnements gelten zu lassen, war ja an sich durchaus nicht
neu. Neu war nur die Konsequenz, mit der er ihn durchführte, und
die ihn neben dem physiologischen Experiment und der Vivisektion
auch das pathologische Experiment bei seinen Forschungen ver-
wenden ließ. Dabei aber verkannte er nicht, daß die Möglichkeit,
auf diesem Wege in die Geheimnisse des Lebens einzudringen, be-
grenzt sei, und nahm dort, wo diese Grenzen begannen, z, B. bei
der Erklärung der mit dem Nervensystem verknüpften Vorgänge,
seine Zuflucht zu dem im übrigen energisch von ihm bekämpften
Vitalismus.
Nicht minder bedeutend, wenn auch mehr durch eine Reihe
von Einzelergebnissen seiner Forschung als durch seine grundsätz-
liche Stellungnahme war Bernard. Man braucht nur an die von
ihm angegebene „Piqure", an seine Erklärung der Pankreas-
funktion, der zuckerbildenden Fähigkeit der Leber u. a. m. zu er-
innern. Neben diesen beiden Hauptvertretern der Physiologie gab
es in Frankreich noch eine Menge Forscher, von denen jeder in
seiner Art Bedeutendes auf diesem Gebiete geleistet hat, wie z. B.
Brown-Sequard, Flourens u, a. Auch England hat gleichzeitig
einige bedeutende Physiologen aufzuweisen, wie Charles Bell
Magendie, Bernard, Johannes Müller und seine Schule. 405
(1774 — 1842), dessen Namen in dem nach ihm genannten Gesetz fort-
lebt. Marshall Hall u. a.
Der eigentliche Mittelpunkt aber, in dem sich die ganzen Stre-
bungen sammelten, und von dem aus sie dann wieder nach allen Rich-
tungen hin ausstrahlten,
wurde ein deutscher
Forscher, Johannes
Müller (1801 — 1858).
In seinem Werdegang
spiegeln sich die Schick-
sale wider, die die me-
dizinische Forschung
damals auf deutschem
Boden durchmachte. Zu
Beginn seiner Studien
stand er noch, wie so
viele andere, deutlich
unter dem Einfluß der
Naturphilosophie, ent-
fernte sich aber, je mehr
er sich der Hegel-
schen Philosophie an-
schloß, um so weiter
von seinen ursprüng-
lichen Anschauungen.
Auf dem Höhepunkt
seiner Tätigkeit — als Professor in Berlin — vertrat er den Stand-
punkt, Beobachtung und Versuch einerseits und Philosophie auf
der anderen Seite innig zu verbinden. Bald aber kam er zu der
Einsicht, daß dies ohne Schaden für die ärztliche Forschung unmög-
lich sei und ging dazu über, die beiden Wissensgebiete immer
schärfer voneinander zu trennen und in seinen medizinischen For-
schungen ausschließlich von der Erfahrung und Tatsachen auszu-
gehen, die im Bereiche der Natur nur durch das Experiment fest-
gestellt werden können. Dieser Grundsatz ist in seinem klassischen
Werke: „Handbuch der Physiologie des Menschen" (1833 — 1840
erschienen) in konsequenter Weise mit glänzendem Erfolge durch-
geführt. Es ist eines der besten Bücher seiner Art für alle Zeiten
und behandelt die gesamten Fragen der Physiologie auf Grund
einer umfassenden Literaturkenntnis, noch mehr aber unter Benutzung
unzähliger selbstgeschaffener Versuchsergebnisse in einer Vollständig-
keit und Vollkommenheit, wie sie niemals vorher und kaum je nach-
her erreicht worden ist. War MÜLLER auch nicht der Begründer
Johannes Müli-er.
4o6
Begründung der Physiologie als Naturwissenschaft usw.
der Experimentalphysiologie, so hat er ihr doch sicherlich in vorbild-
licher Weise die Bahnen gewiesen, in denen sie dann unbeirrt bis auf
die heutige Zeit weitergeschritten ist. Sein Wirken beschränkte sich
aber keineswegs auf die Physiologie ; seine Arbeit „Ueber den feineren
Bau und Formen der krankhaften Geschwülste" war das erste Werk,
das die pathologische Histologie in einer den erhöhten Anforderungen
entsprechenden Weise behandelte und damit für zahllose weitere Ar-
beiten auf diesem Gebiete zum Vorbilde wurde. Auch die normale
vergleichende und pathologische Anatomie hat er erheblich gefördert.
So kommt es, daß von den vielen hervorragenden medizinischen
Forschern, welche die Folgezeit hervorgebracht hat, ein großer Teil
zu den Schülern JOH. Müllers zählt, andere auch ohne dieses seinen
Einfluß sichtlich erkennen lassen.
Bei der universalen Begabung und
den auf den verschiedensten medi-
zinischen Gebieten betätigten Lei-
stungen ist der Kreis und das
Arbeitsfeld dieser Leute außer-
ordentlich vielseitig. So rechnet zu
ihnen beispielsweise der bereits oben
erwähnte Entdecker der tierischen
Zelle, Theodor Schwann (s. S. 397),
ferner der durch seine bahnbrechen-
den Forschungen über die allge-
meine Muskel- und Nervenphysio-
logie bekannte Eaiil du Bois-
Reymond (1818— 1896), der unge-
wöhnlich erfolgreiche Forscher
Ernst Wilhelm v. Brücke
(1819 — 1892), der neben seinen in
derselben Richtung wie bei den vor-
hergehenden liegenden Arbeiten, auch in der Physiologie der Ver-
dauung, des Blutes, ferner der physiologischen Optik u. a. m. sich
einen dauernden Namen gemacht hat. Auch W. Pflüger (1829
— 19 10), der Begründer des „Archiv für die gesamte Physiologie"
und des nach ihm benannten „Zuckungsgesetzes" war ein Schüler
JoH. Müllers. Vor allem aber war es Hermann v. Helmholtz
(1821 — 1894), der das Werk seines Lehrers in glänzendster Weise
dadurch fortgesetzt hat, daß er in Schrift, Lehre und Forschung bis
zur letzten Konsequenz die Anwendung chemisch -ph3^sikalischer
Methoden in der Physiologie durchgeführt und diesen damit als den
einzigen Grundlagen ein für alle Male und mehr als irgendein an-
derer zur Anerkennung verhelfen hat. Hierin liegt seine größte
Abb. 199. Emil du Bois-Reymond.
Der Ausbau der Krankheitslehre durch Rokitansky usw.
40;
Bedeutung, wenn auch andere Leistungen seinen Xamen fast noch
mehr bekannt gemacht haben. So vor allem seine Entdeckung des
Augenspiegels, durch die er der Ophthalmiatrie mit einem Schlage
ganz neue Bahnen wies.
Aber auch auf solche Forscher, die nicht irgendwie in unmittel-
barem Zusammenhange mit Müller und seiner Schule standen, hat
die ganze Richtung, in welche
die Physiologie durch jene ge-
bracht worden war, als trei-
bendes Ferment gewirkt. Zu
ihnen gehören namentlich Leute
wie Ernst Heinrich Weber
(1785— 1878), Karl Ludwig
(181 6 — 1895) mit seinen bahn-
brechenden Arbeiten über den
Mechanismus der Harnsekre-
tion, den Blutdruck u. a. m.
Auch das Ausland hat in dieser
Epoche zahlreiche tüchtige
Physiologen hervorgebracht,
aber Deutschland behielt doch
ein entschiedenes Ueberge-
wicht. Nicht unerwähnt darf
bleiben, daß bei einer ganzen
Reihe von Forschern die Nei-
gung hervortrat, die chemi-
sche Grundlage der Physio-
logie besonders stark zu betonen und ihre Untersuchungen dem-
entsprechend in erster Linie hierauf einzustellen. Man kann bei
ihnen geradezu von einer „physiologischen Chemie" oder besser
„chemischen Physiologie" sprechen. Das gilt beispielsweise für die
Arbeiten Leopold Gmelins (1788 — 1853), den man sogar als den
Begründer der physiologischen Chemie angesprochen hat; sodann
von Hermann Fehling (181 i — 1885), vor allem aber von Felix
Hoppe-Seyler (1825— 189.5), von dem eine ganze Schule chemisch
gerichteter Physiologen ihren Ausgangspunkt genommen hat
Abb. 200. Herm. V. Helmholtz.
Der Ausbau der Krankheitslehre durch Rokitansky.
Vircho"w und die Zellularpathologie.
An diesen großartigen Fortschritten der allgemein-naturwissen-
schaftlichen Grundlagen sowie insbesondere der Anatomie und Physio-
logie konnte auch die Krankheitslehre nicht unbeeinflußt vorüber-
4o8 Der Ausbau der Krankheitslehre durch Rokitansky.
gehen. In ihr hatte sich — besonders seit Bichat — eine sicht-
liche Umstellung angebahnt, nicht unähnlich jener, die in römischer
Zeit von der alten hippokratisch-dogmatischen Humorallehre zu der
solidarpathologischen Betrachtung der Methodiker geführt hatte
(s. oben S. iioff.). So war auch jetzt die durch Galen verewigte
und, wenn auch seit dem i6. Jahrhundert vielfach bekämpfte, so
doch nicht völlig überwundene Säftelehre Schritt für Schritt zurück-
gedrängt worden. An ihrer Stelle wuchs langsam aber stetig eine
neue solidare Anschauung empor und festigte sich mit der zunehmen-
den Kenntnis von der Bedeutung der Gewebe und ihrer Grund-
bestandteile für den Krankheitsvorgang. Die beiden wichtigsten
Vorbedingungen für die Begründung einer naturwissenschaftlich
fundierten Solidarpathologie waren gegeben : Karl v. Rokitansky
(1804— 1878), ein glänzender Vertreter der später noch zu behan-
delnden jüngeren Wiener Schule hatte die mit bloßem Auge sicht-
baren krankhaften Veränderungen nach allen Richtungen hin unter-
sucht und zum ersten Male als eine der wichtigsten Forderungen
der Medizin ausgesprochen, daß, grundsätzlich zur Beurteilung der
Bedeutung der klinischen Erscheinungen am Lebenden der Sektions-
befund herangezogen werden müsse. So waren die sichtbaren
Strukturveränderungen in ihrem Ablauf und ihren Beziehungen in
einer Weise und einem Umfange erforscht, wie nie zuvor. Zu diesem
großen Fortschritte trat dann die Entdeckung der tierischen Zelle
hinzu; und so ergab sich mit Naturnotwendigkeit das Bestreben, die
makroskopischen Befunde an der Leiche durch mikroskopische zu
ergänzen, den Krankheitsvorgang bis in die kleinsten, den mensch-
lichen Sinnen zugänglichen Teile des Organismus, eben die Zellen,
zu verfolgen. Diese Aufgabe in glänzendster Weise in Angriff ge-
nommen zu haben, ist das Hauptverdienst Rudolf Virchows.
182 1 zu Schivelbein in Pommern geboren, studierte er 183g bis
1843 an der Berliner Pepiniere, war Schüler JOH. Müllers, wurde
in Berlin Privatdozent, siedelte aber aus politischen Gründen 184g
als Professor nach Würzburg über. 1856 zurückgekehrt, erhielt er
in Berlin eine Professur für pathologische Anatomie und entwickelte
dort fast fünf Jahrzehnte eine vielgestaltige Tätigkeit als Forscher,
Lehrer, Schriftsteller und Politiker. Er starb igo2.
In seinem Entwicklungsgange ist die Umwälzung, die in jener
Zeit die Medizin durchmachte, klar erkennbar. In seinem ersten um-
fassenderen Werke, der 1858 erschienenen „Cellularpathologie in ihrer
Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre" ist
noch deutlich der Einfluß der humoralpathologischen Krasenlehre auf
der einen und der vitalistischen Auffassung auf der anderen Seite zu ver-
folgen. Im Gegensatz zu der letzteren, die ja eine über den ganzen
ViRCHOW und die Zellularpathologie.
409
Körper verteilte oder in einige wenige Organe verlegte Lebens-
kraft annahm, betrachtet ViRCHOW „jedes Tier als eine Summe
vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens
in sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann
nicht in einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation
gefunden werden, z. B. im Gehirn der Menschen, sondern nur in
der bestimmten, konstant wiederkehrenden Einrichtimg, welche jedes
einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, daß die Zu-
sammensetzung eines größeren Körpers immer auf eine Art von ge-
sellschaftlicher Einrichtung herauskommt; einer Einrichtung sozialer
Art, wo eine Masse einzelner Existenzen aufeinander angewiesen
ist, aber so, daß jedes Element
für sich eine besondere Tätig-
keit hat, und daß jedes, wenn
es auch die Anregung zu
seiner Tätigkeit von anderen
Teilen her empfängt, doch die
eigentliche Leistung von sich
ausgehen läßt." Die Anwen-
dung der Histologie auf die
Physiologie, die ihn zu dem
Schluß führten, daß die „Zelle
wirklich das letzte eigentliche
Formelement aller lebendigen
Erscheinungen sei, und daß
wir die eigentliche Aktion
nicht über die Zelle hinaus
verlegen dürfen", wurde von
ViRCHOW nun in einer denk-
barkonsequenten Weisedurch-
geführt. In diesen Anschau-
ungen ist noch deutlich der
Nachklang vitalistischer Ideen spürbar. Aber zugleich bemerkt
man deutlich das Bestreben, sich von ihnen frei zu machen und
auf einen rein naturwissenschaftlichen Boden zu gelangen. Und
dieses führte ihn dann immer mehr dahin, systematisch den ganzen
Organismus in seine Zelleinheiten aufzulösen, die Struktur der Zelle
mit ihren Funktionen in Beziehungen zu bringen und zur Erklärung
der letzteren alle physikalisch-chemischen Kenntnisse heranzuziehen.
Wie sehr dabei Virchow noch mit den Nachwirkungen alter Lehren
zu kämpfen hatte, sieht man aus den unverkennbaren Anklängen
an humoralpathologische Ideen sowie an Gedankengänge HalleRs
und Browns. Aber mit dem Fortschreiten seiner Forschungen
Abb. 201. Rudolf Virchow.
Aio Der Ausbau der Krankheitslehre durch Rokitansky usw.
treten diese Zusammenhänge allmählich in den Hintergrund und
sind in der Krönung seiner Lebensarbeit nur noch bei genauem
Hinsehen aufzuspüren.
Diese Krönung aber ist seine „Zellularpathologie", d. h. die An-
wendung seiner Lehre auf die Erklärung des Krankheitsvorgangs.
Diesen sieht er im wesentlichen als nichts anderes an, wie als „Zellen-
tätigkeit unter abnormalen Umständen" und findet seine Hauptaufgabe
darin, die Strukturveränderungen in den einzelnen Zellenarten im
kranken Zustande festzustellen und ihren Ablauf in seinen einzelnen
Phasen zu verfolgen. Die Krankheit erscheint ihm somit, wie er
einmal in späteren Jahren (1895) prägnant gesagt hat, „als ein ver-
änderter Körperteil oder, prinzipiell ausgedrückt, als eine veränderte
Zelle oder ein verändertes Aggregat von Zellen (Gewebe oder
Organ)". Damit aber war eine ausgesprochen solidarpathologische
Theorie geschaffen, denn neben den Geweben, den „solidae partes",
traten die Säfte als lebenswichtige Bestandteile des Körpers ganz in
den Hintergrund. Zweifellos hat diese Betrachtungsweise äußerst
segensreich gewirkt: Lenkte sie doch von dem Suchen nach irgend-
welchen geheimnisvollen „Kräften" als Ursachen der Krankheiten
ab und zwang zu nüchtern-naturwissenschaftlicher Beobachtung mit
Seziermesser und Mikroskop. Aber sie blieb im Grunde genommen
doch wieder eine einseitige Theorie; eine Theorie freilich, die von
ihrem Urheber selbst stets als solche betrachtet worden ist. Und
die Größe Virchows liegt vielleicht nicht zum kleinsten Teile darin,
daß er für seine Person es mit Bewußtsein verschmäht hat, auf seinen
Lehren ein neues System im eigentlichen Sinne aufzubauen oder auch
nur den Versuch zu machen, die therapeutische Entwicklung zu be-
einflussen.
Eine ganze Reihe von Schülern und Anhängern ViRCHOWs
haben teils zu seinen Lebzeiten teils bis in die Gegenwart hinein
sein Werk in seinem Sinne fortgesetzt und ausgebaut, vor allem
sein Assistent JUL. CoHNHEiM (1839— 1884), Edwin Klebs, Eried-
RICH v. Recklinghausen u. a. m. Andere dagegen haben die
Grenzen seiner Lehre verkannt und sind in ihrer Einseitigkeit weit
über ihren Meister hinausgegangen ; so weit, daß sie wirklich glaubten,
nun endlich das Wesen der Krankheit durchschaut zu haben. Das
Krankheitsbild wurde völlig in die Zellen verlegt. Das hatte aber
einmal eine starke Vernachlässigung der nicht festen Teile des
Körpers zur Folge, andererseits eine mindere Würdigung der kli-
nischen Symptome, d. h. der bei der Beobachtung bei lebenden
Kranken sichtbaren Erscheinungen, Das führte weiter dahin, daß
man sämtliche Krankheitserscheinungen als eine Einheit auffaßte und
ganz ihre verschiedene Bedeutung vergaß, daß man die unmittelbar
Begründung der Bakteriologie. Henle. Robert Koch.
411
durch die krankhafte Schädigung hervorgerufenen S3^mptome von
den auf einer Reaktion des Organismus beruhenden zu unterscheiden
verlernte. Diese Tatsache bedeutete aber nicht nur einen theore-
tischen Fehler, sondern hatte auch schädliche praktische Folgen da-
durch, daß man vor einer Bekämpfung gerade der Vorgänge nicht
zurückschreckte, die, wie das Fieber, die wichtigsten natürlichsten
Abwehrmaßregeln des Organismus darstellen. (Antipyretica!)
Die Begründung der Bakteriologie.
Henle. Robert Koch.
Die Zellularpathologie hatte in ihren Auswirkungen bei einem
großen Teile der Aerzteschaft das stolze Bewußtsein hervorgebracht,
daß man der Erkenntnis vom Wesen der Krankheit um ein gewaltiges
Stück näher gekommen sei.
Sehr bald aber tauchte die
Frage auf, wodurch denn die
Zellenveränderungen, in denen
man den Ausdruck der Krank-
heit sah, ihrerseits wieder
bedingt seien, mit anderen
Worten, man merkte, daß man
mit jener Erkenntnis wohl
den Krankheitsvorgang selbst,
nicht aber seine Ursachen
zu erklären vermochte. Die
Entdeckung des „contagium
animatum" durch Henle
{s. S. 400) war ohne jeden
Zusammenhang mit den
übrigen medizinischen Fort-
schritten vor sich gegangen,
dagegen hatte sie selbst
allerlei Vorläufer gehabt: so die Erklärung des Gärungsprozesses
durch die Auffindung des Hefepilzes (durch Cagniard DE LA Tour),
des Soorpilzes (durch JUL. Vogel), des Favus - Erregers Achorion
(durch Lucas Schünlein) usw. Hierher gehören auch die genialen
Entdeckungen Louis Pasteurs (1822 — 1895), daß eine Entstehung
von Pilzen nur aus deren Keimen möglich sei, und daß durch deren
Abtötung mit Hitze „Keimfreiheit" erzeugt wird. Aber erst die
HENLEsche Behauptung, daß zahlreiche Krankheiten durch be-
stimmte mikroskopisch-kleine Lebewesen verursacht würden, gab
Abb. 202. Louis Pasteur.
412 Begründung der Bakteriologie. Henle. Robert Koch.
den eigentlichen Anlaß zum Ausbau der Krankheitsätiologie, Ein
Schritt auf diesem Wege war die Auffindung stäbchenförmiger
Körper milzbrandkranker Tiere durch die Tierärzte Füllender
(1849) und Brauell (1855).
Davaine gelang es sodann, den Milzbrand durch Ueberimpfung
von „Bazillen" enthaltendem Blute auf andere Tiere zu übertragen.
Damit war bewiesen, daß die Bazillen eine ursächliche Beziehung zu der
genannten Krankheit haben müßten. Da aber Milzbrand auch bei
solchen Tieren auftrat, bei denen keine Bazillen gefunden wurden, da
sogar in dem Blute mit Ba-
zillen geimpfter und an offen-
barem Milzbrand eingegange-
ner Tiere oft keine Bazillen
nachzuweisen waren, so war
der Beweis noch keineswegs
vollkommen schlüssig. Er
wurde es erst durch die Ar-
beit des Mannes, den man
mit Recht als den Begründer
der modernen Bakteriologie
bezeichnet hat, Robert KoCH.
1843 in Klausthal geboren,
genoß er seine Ausbildung
vor allem in Göttingen. Als
Physikus zu Wollstein beschäf-
tigte er sich vielfach mit dem
Studium der Milzbrand erkran-
kung und kam auf Grund
seiner Beobachtungen zu der
Ueberzeugung, daß in den
Fällen von Milzbrand, in denen
der Nachweis von Bazillen
nicht gelang, diese in einer
anderen Form doch vorhanden
sein müßten. Diese Vermutung bestätigte sich durch die Entdeckung
der „Sporen" und der ihnen zukommenden besonderen Widerstands-
fähigkeit und Eigenschaft, zu wirklichen Bazillen auszuwachsen. Diese
Entdeckung veröffentlichte er 1876 und faßte sie in drei Thesen zu-
sammen, welche eine feste Grundlage für die ganze weitere Entwicklung
der Bakteriologie bildeten. Aeußerst wichtig war ferner die von ihm
zunächst nur andeutungsweise ausgesprochene Annahme, daß die zum
Tode führende Schädigung des tierischen Organismus nicht unmittelbar
durch die Mikroorganismen selbst, sondern durch die von ihnen aus
Abb. 203. Robert Koch.
Begründung der Bakteriologie. Henle. Robert Koch. 413
Eiweißkörpern erzeugten giftigen Stoffwechselprodukte herv^orge-
rufen werde. Ein weiterer bedeutsamer Fund war sodann die Er-
kenntnis, daß nicht — wie man bisher angenommen hatte — alle
Bakterien gleichwertig seien und eines in das andere übergehen
könnte; daß es vielmehr eine Menge biologisch gänzlich voneinander
verschiedener ^Mikroorganismen gebe, daß jeder von ihnen besondere
Erscheinungen im tierischen Körper hervorrufe, und daß jede auf
„Infektion" beruhende Krankheit auch eine eigene Art von Bakterien
zur Ursache habe. Dies alles legte er 1878 in seiner berühmten
Schrift „Untersuchungen über die Aetiologie der Wundinfektionskrank-
heiten" nieder. 1882 glückte ihm dann auf Grund der verbesserten
mikroskopischen Hilfsmittel (Oelimmersion und ÄBBEscher Konden-
sor) die Entdeckung des Tuberkelbazillus und ein Jahr später die des
Cholerabazillus. Auch andere Forscher nahmen an diesen Fort-
schritten teil; so gelang in den Jahren 1879 — 1886 die Auffindung
des Erregers der Gonorrhoe (durch Xeisser), der Lepra (durch
Hansen) u. a. m. Nicht wenig trug hierzu die Veröffentlichung
einer Schrift „Zur Untersuchung von pathogenen ^Mikroorganismen"
durch Koch (1881) bei, in der die ganze Technik des bakteriologischen
Verfahrens angegeben war.
Die Tragweite dieser Neuerungen beschränkte sich keineswegs
auf die Beurteilung der Krankheitsursachen im engeren Sinne. Viel-
mehr erhielt die Krankheitslehre überhaupt einen ganz neuen Antrieb,
der sie von der allzu einseitigen solidaren Auffassung, in die sie die
Vorherrschaft der Zellularpathologie gebracht hatte, befreite. Die
von Koch begründete Ansicht von der Bedeutung der Bakterien-
Stoffwechselprodukte, der sogenannten Toxine für die Krankheits-
entstehung wurde von anderen Forschern erweitert, indem sie fanden,
daß als Ausfluß eines dem Organismus innewohnenden natürlichen
Abwehrbestrebens sich nach stattgehabter „Infektion" „Gegengifte"
im Körper bilden. Diese vor allem von Behring (1890) und Ehrlich
(1891) als „Antitoxine", von Pfeiffer als „Bakteriolysine", von
Deutsch als „Antigene" bezeichneten Stoffe suchte man vor allem
im Blutserum festzustellen. Dadurch aber wurde unversehens wieder
die Aufmerksamkeit auf die seit Virchow stark vernachlässigten
Körpersäfte gelenkt und damit eine mehr humorale Betrachtungs-
weise von neuem eingeleitet. Gleichzeitig aber eröffneten sich damit
ganz neue Aussichten auf die vorbeugende Bekämpfung und auf die
Therapie vieler Krankheiten. Aussichten, deren volle Erfüllung zwar
noch in weitem Felde steht
414 Entwicklung der praktischen Medizin. „Jüngere Wiener Schule",
Die Entwicklung der praktischen Medizin. Die
„Jüngere Wiener Schule", die Berliner Kliniker.
Die Entwicklung der Therapie. Die Serumlehre.
Die praktische Medizin war inzwischen einen Weg gegangen,
der durchaus nicht immer dem Wechsel der Systeme gefolgt war.
Im Gegenteil hatte sich bei vielen Aerzten, bei den einen bewußt,
bei den meisten unbewußt, das Bestreben herausgebildet, in der Praxis
unabhängig von den jeweiligen theoretischen Anschauungen auf die
altbewährten Grundsätze zurückzugreifen. Namentlich ließ die un-
geheuerliche Polypragmasie, die vor allem infolge der fortwährend
sich ändernden theoretischen Unterlagen eingerissen war, die Not-
wendigkeit von Reformen dringlich erscheinen. An diesen nahmen
auf der einen Seite eine Anzahl von bedeutenden Aerzten teil, deren
Bestrebungen im übrigen auf wissenschaftliche Forschungen, nament-
lich auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie gerichtet waren,
auf der anderen Seite solche, deren ganze Neigung auf eine vor-
wiegende Betonung der praktischen Ziele der Heilkunde gerichtet
war. Zu den ersteren gehörten vor allem außer manchen bereits
erwähnten Männern die Franzosen Gaspard Laurent Bayle (1774
bis 18 16), Leon Jean Baptiste Cruveilhier (1791— 1874), dann
der Wiener Karl v, Rokitansky (1804— 1878) u. a. m. Zu den
letzteren Armand Trousseau (1801 — 1867), ein vortrefflicher Kli-
niker und Diagnostiker, Jean Martin Charcot (1825 — 1893), die
Engländer Richard Bricht (1789— 1858), Thomas Addison (1793
bis 1860), William Stokes und manche andere, von denen eine
ganze Reihe neuer medizinischer Tatsachen erschlossen wurde.
Zu der zweiten Gruppe zählten in erster Linie eine Reihe von
Anhängern der sogenannnten „jüngerenWiener Schul e". Diese
war keineswegs an innerer Geschlossenheit der „älteren Wiener
Schule" (s. S. 350 ff.) gleich. Ihre Entstehung verdankte sie vielmehr
vorwiegend dem mehr zufälligen örtlichen Zusammentreffen einer
größeren Anzahl hervorragender Mediziner in der Kaiserstadt an der
Donau, durch die sie von neuem für einige Zeit ein Mittel- und An-
ziehungspunkt für die Aerzte aus allen Teilen des In- und Auslandes
wurde. In ihr fanden sich deshalb auch als Lehrende und Lernende
Mediziner mit den verschiedenartigsten Standpunkten zusammen.
Aber doch erhielt die klinische Seite der Heilkunde allmählich eine
vorwiegende Bedeutung. Insbesondere wurde die Diagnostik, die
sich bis dahin im wesentlichen auf die von alters her benutzten Me-
thoden beschränkt hatte, auf eine neue Grundlage gestellt. Die
Wiener Kliniker konnten sich dabei auf einige wichtige bereits vor-
die Berliner Kliniker. Entwicklung der Therapie. Serumlehre. 415
handene Neuerungen stützen. So vor allem auf die von AuEN-
BRUGGER, Laennec u. a. angegebenen Verbesserungen der physi-
kalischen Diagnostik (s. oben). An sie knüpfte einer der hervor-
ragendsten Wiener Aerzte Joseph Skoda (1805 — 188 i) an und er-
weiterte sie vor allem durch den Hinweis, daß nicht, wie man bisher
angenommen hatte, die physikalischen Erscheinungen am kranken
Organismus die Krankheit selbst ausmachten, daß sie vielmehr nur
^Ļtt.-^
Abb. 204. Jos. Skoda.
der Ausdruck bestimmter physikalischer Zustände seien, die ihrerseits
erst wieder durch die krankhaften Veränderungen bedingt seien.
Dadurch erhielten die Symptome erst wieder die ihnen zukommende
Stellung in der Krankheitslehre, die dadurch gleichzeitig viel stärker
von der praktisch-klinischen als von der theoretisch-naturwissen-
schaftlichen Seite betrachtet würde. Ueberhaupt war die Stellung
Skodas und mit ihm anderer Wiener Kliniker gegenüber allem Theo-
retischen außerordentlich skeptisch. Namentlich hatte sie die Er-
4i6 Entwicklung der praktischen Medizin. „Jüngere Wiener Schule",
fahrung, daß auch schwere Krankheiten, deren Selbstheilung man
damals für ausgeschlossen hielt, ohne Zutun des Arztes günstig ver-
laufen können, zu einer Verwerfung der für unerläßlich gehaltenen
und im Ueberfluß angewandten Aderlässe, Schröpfungen und Arz-
neien geführt. Und, wie es dann zumeist geht, verfiel man in das
andere Extrem : in einen ausgesprochenen therapeutischen Nihilismus.
So konnte Skoda sagen : „Wir können eine Krankheit diagnostizieren,
beschreiben und begreifen, aber wir sollen nicht wähnen, sie durch
irgendwelche Mittel beeinflussen zu können." Ein Standpunkt, den
auch viele andere Wiener Kliniker einnahmen, wie z. B. Joseph
DiETL, dem das „abwartende Verfahren" als Inbegriff aller klinischen
Weisheit erschien. So kam es, daß die zahlreichen Schüler und An-
hänger, die insbesondere Skoda nach Wien zog, die ärztliche Be-
tätigung mit der Stellung einer möglichst exakten, mit allen physi-
kalischen Mitteln herbeigeführten Diagnose für im wesentlichen be-
endet ansahen. Andere tüchtige Wiener Kliniker versuchten hin-
gegen zwischen den beiden schroff entgegengesetzten Standpunkten
— der Polypragmasie und dem Nihilismus — zu vermitteln. Johann
Oppolzer (1808 — 1871) z.B. und Adalbert Duchek (1824 — 1882),
letzterer Skodas Nachfolger, verstanden es, ihre wissenschaftliche
Auffassung auch in ihrer klinischen Betätigung zur Geltung zu
bringen. Wie denn überhaupt die späteren Abkömmlinge der
Wiener Schule, z. B. Otto Kahler (1849 — 1895), Hermann Noth-
nagel (1841 -1905) u. a. m. mehr zu den Traditionen der älteren
Wiener Zeit zurückkehrten.
Ein zweites medizinisches Zentrum auf deutschem Boden war
ziemlich gleichzeitig in Berlin entstanden. Nicht in eigentlichem
Sinne eine Schule — wenn man auch der Einfachheit halber von
einer solchen redet. Viel mehr waren es die äußeren Umstände
wie das allmähliche Aufblühen Berlins zu einem politischen und
kulturellen Mittelpunkt, das Vorhandensein der materiellen Vor-
bedingungen für Forschung und Lehre, die dort eine ständig
wachsende Zahl tüchtiger Aerzte teils heranwachsen ließen, teils
von überall her herbeizogen. Es waren denn auch Männer der
verschiedensten wissenschaftlichen Provenienz und ärztlichen An-
schauung, die sich in der preußischen Hauptstadt zusammenfanden.
Gleich am Beginn des 19. Jahrhunderts steht der vielgenannte Name
Chr. Wilh. Hufelands (1762 — 1836). seit 1800 königlicher Leib-
arzt und 18 10 einer der ersten Professoren an der Universität.
Sein Leben und Wirken war — ihm selbst wohl wenig bewußt —
ein deutlicher Protest gegen die zahllosen Versuche, die Medizin in
ein „System" zu pressen. Seine umfassende Bildung, die er nicht
nur auf medizinischem Gebiete besaß, ließen ihn klar die Unsicherheit
die Berliner Kliniker. Entwicklung der Therapie. Serumlehre. 417
der theoretischen Grundlegung der Heilkunde erkennen und ver-
anlaßten ihn zu einem deutlichen Eklektizismus, der nicht nur in den
in seinen eigenen Schriften niedergelegten Anschauungen zum Aus-
druck kam, sondern ebenso in der Vorurteilslosigkeit, mit der er
in dem von ihm 1795 begründeten „Journal der praktischen Arznei-
kunde"' Vertretern der verschiedensten Richtungen einen Platz ein-
räumte. Im übrigen lag seine Bedeutung nicht auf literarischem
Gebiete, obgleich er ein äußerst fruchtbarer Schriftsteller war, und
einige seiner Schriften, wie die „Makrobiotik", einen großen Leser-
kreis fanden. Er wirkte vielmehr vor allem durch seine praktische
Tätigkeit als Arzt und Organisator und erfreute sich einer unge-
wöhnlichen Beliebtheit. Das Gleiche gilt von einem anderen Berliner
Praktiker, dem unter dem Namen des „alten Heim" weitbekannten
Ernst Ludwig Heim (1747—1834), in dem sich ein gut Teil des
alten Berlin verkörperte. Während aber der Einfluß dieser beiden
Männer in erster Linie auf ihrer praktisch-ärzthchen Tätigkeit und
ihrer ganzen Persönlichkeit beruhte und damit den Entwicklungsgang
der Medizin selbst ziemlich unberührt ließ, entfalteten andere eine
vorwiegend wissenschaftliche Tätigkeit, die nicht ohne Wirkung auf
den Gang der Heilkunde blieb. Zu ihnen gehörte der schon er-
wähnte JOH. Lucas Schöxlein (s. oben S. 370) sowie eine Reihe
seiner Schüler. Unter ihnen vor allem Friedr. Theodor Frerichs
{1809 — 1885), der als Nachfolger seines Lehrers eine in jeder Hinsicht
wirkungsvolle Tätigkeit entfaltete. Ferner Ludwig Traube (18 18
bis 1876), dessen Werk „Gesammelte Beiträge zur Pathologie und
Physiologie" einen bedeutenden Einfluß in der medizinischen Literatur
gewonnen hat, und zahlreiche andere.
Aber auch außerhalb dieser großen Mittelpunkte wuchsen be-
deutende Kliniker heran: so die beiden Schwaben Karl Aug.
Wunderlich (181 5 1878) und Wilh. Griesinger (1817 — 1868),
von denen besonders der erstere ein glänzendes Lehrtalent mit be-
deutenden Forscheranlagen vereinigte. Das Ausland nahm ebenfalls
an dieser Entwicklung teil und brachte manchen tüchtigen Kliniker
hervor. Aber im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts, namentlich
in seiner zweiten Hälfte, übernahm Deutschland unstreitbar die
Führung.
Die selbstverständliche Folge des Ausbaus der klinischen Fächer
war auch eine Neubelebung der therapeutischen Bestrebungen. Ob-
gleich auf diesem (jebiete. auf das viele Forscher ihr Augenmerk
richteten, eine Menge Neues hervorgebracht wurde, so litt es doch
sichtlich unter zweierlei Tatsachen : einmal unter dem fortwährenden
und schnellen Wechsel der theoretischen Anschauungen an sich,
sodann aber in fast noch höherem Maße — unter der von den
Meyer-Steineg n. Sudhoff, lllusU. Geschichte der Medizin. 27
41 8 Entwicklung der praktischen Medizin. „Jüngere Wiener Schule" usw.
meisten modernen Forschern immer wieder aufgestellten Forderung,
daß jede Therapie unbedingt auf der Kj-ankheitslehre fußen müsse;
eine Forderung, die der Natur der Dinge nach niemals erfüllt
werden konnte und,, wo sie einmal im einzelnen erfüllt wurde, zu
solchen Abirrungen führte wie die durch die einseitige zellular-
pathologische Einstellung veranlaßte Bekämpfung des Fiebers als
einer selbständigen Krankheitserscheinung.
Die zweifellose Bereicherung, die der Heilschatz in der jüngsten
Epoche der Medizin erfahren hat, beruht also weniger auf einem
planmäßigen Vorgehen in enger Verbindung mit der fortschreitenden
Krankheitslehre, als auf den von verschiedensten Seiten herantretenden
Anregungen, bei denen die Entwicklung der chemischen Industrie
keine geringe Rolle gespielt hat. Die neu eingeführten Medikamente,
wie das Chinin, Morphin, Cocain, Atropin und zahllose andere che-
mische Mittel haben sich das Feld der ärztlichen Betätigung erobert
und gehalten; eine weit größere Menge ist schneller als sie aufge-
taucht war, wieder außer Gebrauch und in Vergessenheit geraten.
Die Heilmittellehre dagegen ist in wissenschaftlichem Sinne immer
weiter ausgestaltet worden und heute zu einem besonderen Wissens-
zweig geworden, der sein eigenes Leben innerhalb der medizinischen
Gesamtdisziplin führt — vielleicht in höherem Maße, als dies in deren
Interesse wünschenswert ist.
Bemerkenswert ist, daß die neueste Zeit manche uralte Be-
handlungsmethoden wiederaufgenommen hat, die, von der wissen-
schaftlichen Medizin in Acht und Bann getan, nur noch in der Volks-
medizin ein zähes Leben fristeten, und daß manche andere Maß-
nahmen, die heute einen wichtigen Bestandteil unserer Therapie aus-
machen, zunächst durch Laien verwandt wurden. Man denke an
den Aderlaß, das Schröpfen, an die Organotherapie, die Wasser-
anwendung u. a. m. Historisch interessant ist auch die Beobachtung,
daß heute — genau so wie in ältester Zeit — neben der eigentlichen
Medizin noch eine üppige Aftermedizin und Kurpfuscherei blüht,
noch mehr aber, daß auch heute noch eine „Tempelmedizin" besteht,
und wie im alten Griechenland die Kranken zu den Kultstätten des
ASKLEPIOS strömten, um durch einen Wunderakt des Gottes Heilung
zu finden, in unserer Zeit zahlreiche Wallfahrtsorte durch verschiedene
Heilige den gläubigen Wallfahrern Heilung spenden (Lourdes, Ke-
velaar usw.).
Unter den rationellen nicht arzneilichen Maßnahmen, welche die
neueste Medizin hervorgebracht hat, nimmt die Balneo- und Klimato-
therapie einen wichtigen Platz ein. Auch sie sind zwar an sich
nicht etwas vollkommen Neues; denn auch die alte Medizin hat diese
beide Faktoren mit vollem Bewußtsein angewandt (s. oben S. 65 ff.).
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im 19. Jahrh. 41g
Aber erst durch die fortgeschrittenen Kenntnisse in der Chemie
und Physik haben diese Behandlungsarten eine Unterlage erhalten,
die einen Ausbau nach wissenschaftlichen Grundsätzen ermöglichte.
Selbst die modernste Errungenschaft der Heilkunde, die Serum-
therapie, ist nur die Fortsetzung älterer Gedanken (Jenner) mit
vervollkommnetem wissenschaftlichen Rüstzeug. Sie hat sich in den
letzten Jahrzehnten zu einer wirklichen Lehre entwickelt; nament-
lich was ihre theoretische Begründung anlangt, wie sie etwa in
der EHRLiCHschen „Seitenkettentheorie" einen Ausdruck fand. Ist
auch noch unser Verständnis des Vorgangs der Immunisierung
keineswegs ein vollständiges, und haben sich auch bei weitem nicht
alle Hoffnungen, die man auf die vorbeugende und heilende Wirkung
der „Sera" setzte, erfüllt, so ist doch sicher ein wichtiger thera-
peutischer Weg angebahnt, dessen fernerer Verlauf noch mancherlei
Wertvolles für die Heilkunde bringen kann. Gleichsam als Neben-
resultat hat uns die Serologie ein heute bereits unentbehrliches Hilfs-
mittel beschert in der Serodiagnostik, die durch Gruber und Widal
angebahnt, in der „WASSERMAXNschen Reaktion" einstweilen einen
Höhepunkt erreicht hat
Die Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und
Gynäkologie im 19. Jahrhundert.
An den mannigfachen Fortschritten der Medizin hatte die
Chirurgie bis an die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert noch
immer in verhältnismäßig geringem Grade unmittelbar teilgenommen.
Erst mit der ständig inniger werdenden Verbindung beider trat
hierin ein Wandel ein. Dadurch, daß von den Aerzten im all-
gemeinen auch eine möglichst vollständige chirurgische Ausbildung
verlangt wurde, und die chirurgischen Bildungsanstalten mit den
medizinischen vereinigt wurden, fiel die letzte Scheidewand. Trotz-
dem blieb in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die
Chirurgie, wenn sie auch bedeutende Vertreter und eine ganze Menge
nennenswerter Einzelergebnisse zu verzeichnen hatte, ohne grund-
sätzliche Fortschritte, um dann freilich in der zweiten Hälfte einen Auf-
schwung zu nehmen, wie sie ihn nicht seit der alexandrinischen Zeit
— selbst nicht unter Par6 und seinen Nachfolgern — gehabt hatte.
Der Grund zu dieser Entwicklung lag in der Einführung oder, ge-
nauer gesagt, Wiedereinführung dreier wichtiger Faktoren: der Nar-
kose, der Antisepsis und der künstlichen Blutleere. Wenn
man sich vor Augen hält, daß schon im Altertum (s. oben S. 94)
27*
420 Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im ig. Jahrh.
das Bedürfnis, größere chirurgische Eingriffe unter Betäubung aus-
zuführen, zu dem Gebrauch der Mandragoras geführt hatte und daß
sogar manche Naturvölker eine Art von Rauschnarkose anwenden, so
erscheint es kaum faßlich, daß man dieses wertvolle Hilfsmittel in
der ganzen Neuzeit bis um die Mitte des ig. Jahrhunderts gänzlich
entbehren konnte. Ein Zufall war es dann, der den Bostoner Arzt
Charles T. Jackson (1805— 1880) veranlaßte, die Einatmung von
Schwefeläther zur Erzeugung von Empfindungslosigkeit zu be-
nutzen. Die Veröffentlichung seiner Versuche stieß auf Unver-
ständnis, bis 1846 der Bostoner Zahnarzt William Morton
und kurz darauf der Chirurg John Collins Warren (1778— 1856)
von der „Aetherisation" Gebrauch machten und damit ihrer Ein-
führung in die chirurgische Praxis den Weg bahnten. Die Ersetzung
des Aethers durch das 1832 von Liebig dargestellte Chloroform vor-
genommen zu haben, ist das Verdienst des berühmten Edinburger
Gynäkologen SiR James Jüung Simpson (181 i- 1870). Die Ein-
führung des Scopolamins als Narkotikums in neuester Zeit zeigt
schließlich deutlich, wie oft in der Medizin das Neueste gleichzeitig
das Aelteste ist: denn die wirksame Substanz der Mandragoras-
pflanze ist chemisch dem Scopolamin nahe verwandt.
An die Seite der Allgemein- Narkose ist seit der Entdeckung
der empfindungslosmachenden Wirkung des Cocains die „Lokal-
anästhesie" getreten und hat sich ein immer größeres Gebiet erobert.
Auch diese Methode hat ihre Vorläufer gehabt : so soll nach Plinius
von den Aegyptern durch Einreiben der Haut mit Lapis memphiticus
und Essig Empfindungslosigkeit erzeugt worden sein. Sie beruhte
auf der Wirkung der sich bildenden Kohlensäure und dadurch her-
vorgerufenen Kälte. Auch heute wird ja eine derartige Kälte-
anästhesie wieder oft benutzt. Die weitere Geschichte der lokalen
Betäubung und der sogenannten „Leitungsanästhesie" gehört der
Gegenwart an.
Eine der unbegreiflichsten Rückständigkeiten ist die mangelnde
Erkenntnis, daß bei der Heilung von Wunden nichts so wichtig ist,
als die Fernhaltung aller Unreinlichkeiten. Diese Erkenntnis, die
das Altertum bereits in der hippokratischen Chirurgie durch ein-
gehende Vorschriften über Reinigung der Hände, des Operations-
gebietes usw., dann aber auch durch die zweckmäßige Form der
leicht zu reinigenden Instrumente und schließlich durch die Angabe
antiseptisch wirkender Mittel betätigt hat (s. oben S. 6g f.), mußte im
19. Jahrhundert erst mühsam wiedererrungen werden. Wenn man
sieht, wie die Aerzte noch in den vierziger Jahren unbedenklich von
einer Leichenöffnung sofort zu einer Entbindung gingen, wie infolge-
dessen das Kindbettfieber zu einer ständigen Einrichtung aller ge-
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im 19. Jahrh. 421
1
burtshilflichen Anstalten gehörte, wenn man ferner weiß, mit welchen
gehässigen Widerständen der Wiener Arzt Igxaz Philipp Semmel-
weis (18 18 — 1865) zu kämpfen hatte, der als erster in der Ueber-
tragung infektiöser Stoffe durch die Hände und Instrumente der
Geburtshelfer die wahre Ursache des Kindbettfiebers erkannte,
so steht man immer wieder vor einem Rätsel. Verwunderlich
bleibt es auch, daß die Entdeckung Pasteurs (s. S. 411) erst so spät
von der Medizin praktisch fruchtbar gemacht worden ist. Denn erst
im Jahre 1867 veröffentlichte der englische Chirurg Joseph Lister
(1827 — 191 2) seine auf Pasteurs Lehren aufgebaute Schrift „On the
antiseptic principle in the practice of surgery", in der er zum ersten
Male, ausgehend von dem Ge-
danken, daß die in der Luft
enthaltenen niederen Organis-
men die eigentlichen Erreger
der Eiterung seien, „antisep-
tische" ^Maßnahmen zur Wund-
behandlung angab. Schoß man
zunächst auch mit der Ein-
führung des „Karbolsprays",
durch den man die ganze Luft
im Operationsraum mit Karbol
schwängerte, über das Ziel
hinaus, so führte doch die
„LiSTERsche Wundbehand-
lung" mit ihren Desinfektions-
vorschriften und dem „Okklusiv-
verband" zum Ausbau der so
segensreichen allgemeinen „An-
tisepsis". Wie diese dann zum
großen Teile allmählich durch
die,. Aseptische Methode" ersetzt
wurde, ist allgemein bekannt.
Die dritte wichtige Errungenschaft der modernen Chirurgie ver-
danken wir Friedrich v. Esmarch (1823 — 1908). Es ist die so-
genannte „künstliche Blutleere", die er durch Abschnüren des zu
operierenden Gliedes oberhalb des Operationsgebietes bewerkstelligte.
Sie hat vor allem dadurch segensreich gewirkt, daß nicht nur Ein-
griffe, die bis dahin wegen des hohen Blutverlustes mit mehr oder
minder hoher Lebensgefahr verbunden waren, ganz gefahrlos wurden,
sondern daß sie auch in viel größerer Ruhe und mit größerer
Sicherheit ausgeführt werden können.
Was die Chirurgie selbst betrifft, so behielt Frankreich in
Abb. 205. IGNAZ Phil. Semmki.wei.-
42 2 Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im 19. Jahrh.
der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts entschieden noch
seine beherrschende Stellung, und Paris die Stadt, von der die meisten
Anregungen und Neuerungen ausgingen, und die auch die größte
Anziehungskraft auf die Chirurgen der ganzen Welt ausübte. Um
nur die bedeutendsten französischen Chirurgen zu erwähnen, so
wurde der Chefchirurg Napoleons I. Jean Dominique Larrey (1768
bis 1842) der Schöpfer der neuen Kriegschirurgie und hat dieses
seit Pare ins Stocken geratene Gebiet von Grund auf umgebildet.
Ein durch wissenschaft-
liche Leistungen sowie
durch praktisches Können
ausgezeichneter Chirurg
war ferner GuiLLAUME
Dupuytren (1778 bis
1835). Bedeutend, wenn
auch nur auf einzelnen
Sondergebieten, waren
ferner Jaques Delpech,
Charles Gabriel Pra-
VAZ, Auguste Nelaton
u. a. m.
In Deutschland ist
zwischen der ersten und
zweiten Hälfte des 1 9. Jahr-
hunderts eine deutliche
Scheidung vorhanden. In
der ersten war der Ein-
fluß Frankreichs noch
stark, und viele deutsche
Chirurgen haben einen
großen Teil ihrer Ausbil-
dung in diesem Lande ge-
nossen. Neben zahlreichen
Männern von mittlerer Bedeutung ragen drei durch besondere
Leistungen hervor: Carl Ferdinand Graefe (1787 — 1840), Johann
Friedrich Dieffenbach (1794— 1847) "nd Louis Stromeyer
(1804 — 1876). Der erste von ihnen vor allem bekannt durch Wieder-
aufnahme der stark vernachlässigten plastischen Operationen, der zweite
durch Leistungen auf dem gleichen Gebiete und durch die von ihm
angegebene subkutane Tenotomie, die ihn zur Erfindung der Schiel-
operation hinführte. Auch war er der Verfasser einer sehr brauch-
baren „Operativen Chirurgie". Der dritte, Stromeyer, hat sich be-
sondere Verdienste um das Kriegssanitätswesen erworben.
Abb. 206. Joseph Lister.
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im 19. Jahrh. 423
Die zweite Periode der neuen deutschen Chirurgie wird von
dem hervorragenden Bernhard Langexbeck (18 ig — 1887) ein-
geleitet, einem Manne von ausgezeichneter allgemeiner Bildung
und eingehendsten Kenntnissen auf allen Gebieten der Medizin.
Er war ein Vertreter der mehr konservativ^ gerichteten chirurgischen
Methoden und hat eine ganze Reihe neuer Operationsmethoden ange-
geben. Adolf Bardelebex ( i 8 i 9 — i 895) machte sich vor allem durch
sein Eintreten für die LiSTERsche Wundbehandlung verdient ; Karl
Thiersch (1822 — 1895) durch seine Untersuchungen über Wund-
heilung per primam und über Transplantationen, Gustav Simon
(1824 — 1876) durch seine Arbeiten zur gjmäkologischen Plastik und
zur Nierenchirurgie. Theodor Billroth in Wien (1829 — 1894),
einer der glänzendsten mo-
dernen Operateure. Ver-
fasser der „Allgemeinen
chirurgischen Pathologie und
Therapie", war der Neu-
schöpfer der ganzen Chir-
urgie des Kehlkopfes, des
Oesophagus und der Bauch-
eingeweide. Richard Volk-
mann (1830— 1889) schließ-
lich, einer der erfolgreichsten
neueren Chirurgen, kann den
Ruhm für sich in Anspruch
nehmen, die Antiseptik bis
zur Vollkommenheit ausge-
staltet zu haben.
Auch England blieb
in der Chirurgie nicht zurück.
Von den zahlreichen be-
deutenden Vertretern dieses
Faches sollen hier nur
ASTLEY Paston Cooper (1768 — 1841), ein ebenso vortrefflicher
Lehrer wie Operateur und Schriftsteller, dann James Syme (1799
—1870), James Miller (1812— 1864), Jonathan Hutchinson
(1828 — 1913) genannt werden.
Zum ersten Male tritt sodann Amerika in die Reihe der
Staaten, welche am Ausbau der Medizin hervorragend mitgearbeitet
haben. Die Chirurgen, die dort wirkten, zeigen zu einem gfroßen
Teil einen besonderen Wagemut als chirurgische Operateure.
Die übrigen europäischen Staaten haben zwar auch an dem
Aufschwung der Chirurgie teilgenommen, jedoch nur einzelne ganz
Abb. 207. Bernh. V. Langenbkck.
424 Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im ig. Jahrh.
bedeutende CHirurgen hervorgebracht So Rußland vor allem Nicolai
IWANOWITSCH PiROGOFF (1810 — 1881) einen in jeder Weise eben-
bürtigen Mediziner und glänzenden Operateur. Die skandinavischen
Länder haben das Verdienst, die Orthopädie zu einem besonderen
Fach ausgebildet zu haben.
Die Augenheilkunde erhielt, wie bereits oben (S. 407) kurz
erwähnt wurde, einen gewaltigen neuen Antrieb durch die Er-
findung des Augen-
spiegels. Mit seiner
Hilfe gelang es, mit
einem Schlage statt
der vagen Begriffe
des „schwarzen Stars",
der „Amblyopie" usw.
Diagnosen von einer
Sicherheit zu stellen,
wie sie auf anderen
Gebieten der Medizin
nicht immer zu er-
reichen ist. Auch er-
wies er sich als ein
geeignetes Mittel zur
objektiven Bestim-
mung der Refraktion.
Bereits einige Jahr-
zehnte vorher hatte
die Augenheilkunde
begonnen, sich immer
mehr als Sonderfach
von der Chirurgie ab-
zuzweigen. Das Haupt-
interesse wandte sich
der Behandlung des „grauen Stars" zu, die, seitdem die von Antyllos im
Altertum versuchte Linsen extraktion vergessen war, in immer wieder-
kehrenden Versuchen medikamentöser Beeinflussung und dem „Star-
stich" bestand. Dem ersten Versuche einer Zerstückelung der Linse
durch Hornhautstich (W. H. JUL. Buchhorn 181 i), „Keratonyxis"
genannt, folgte durch den Wiener Friedr. Jaeger (1784— 187 i) die
Ausziehung des Stars mittels oberen Hornhautschnittes und schließ-
lich die „lineare Extraktion" durch den bedeutendsten Augenarzt der
Neuzeit überhaupt: Albrecht v. Graefe (1827 — 1870). In ihm
spiegelt sich der Aufschwang der Augenheilkunde am deutlichsten
Abb. 208. ASTLEY COOPER.
Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe u. Gynäkologie im 19. Jahrh. 425
wider. Die erste Anregung zu ihr erhielt er durch Ferdinand
V. Arlt in Prag, dann weiter von Louis Auguste Desmarres in
Paris, George Critchett in London und Frans Cornelis Don-
ders in Utrecht, von denen ein jeder in seinem Heimatlande ein
Hauptvertreter des neu aufstrebenden Faches war. 1850 nach Berlin
zurückgekehrt, benutzte er mit Eifer die Erfindung des Augen-
spiegels zu einer völligen Umgestaltung der ganzen Ophthalmologie,
begründete 1854 das „Archiv für Ophthalmologie" und wurde 1866
ordentlicher Professor. Im Alter von 42 Jahren erlag er 1870 der
Phthise. Eine außerordentliche Zahl von Schülern Graefes haben
dann die neuen Errungenschaften ihres Faches in alle Welt getragen,
und der Einfluß seines Schaffens reicht bis in die heutige Zeit hinein.
Die Erfindung des Ophthalmoskops hat dann erheblich dazu
beigetragen, daß auch andere Teile der Medizin sich als Sonder-
fächer ausbildeten, indem die Prinzipien desselben verwandt wurden,
um auch für andere Organe optische Untersuchungsinstrumerite zu
schaffen. Jedenfalls verdanken die Ohren-, Nasen- und Kehlkopf-
heilkunde mittelbar der HELMHOLTZschen Erfindung eine entschiedene
Förderung. Nicht weniger auch die Untersuchung der Körperhöhlen
Blase, Magen usw.) durch besondere Instrumente (K3'stoskop u. a.).
In der Geburtshilfe und Frauenheilkunde nahm die Ent-
wicklung einen im ganzen gleichmäßigeren Verlauf, als in den
übrigen Fächern der Medizin. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ge-
wann der der Wiener Schule entstammende Lucas Johann Boer
(175 1 — 1835) durch Uebertragung der Grundsätze dieser Schule auf
die Geburtshilfe und Frauenheilhunde große Bedeutung, indem er
vor allem dem gar zu draufgängerischen Verfahren einen mehr
exspektativen Standpunkt entgegensetzte. In dieser Hinsicht ähnlich
verfuhr Franz Karl Naegele (1778— 185 i), der die Lehre vom
schräg verengten Becken wesentlich verbessert hat. Als eigentlicher
Begründer der modernen Geburtskunde g^ilt vielen der durch seine
pathologisch - anatomischen Arbeiten bekannte Franz Kl wisch
V. Rotterau (18 14— 1852), während C.vRL Siegm. Fr.vnz Crede
(18 19 — 1892) in Leipzig besonders durch sein Verfahren zur Pla-
centar-Entfernung bekannt wurde. Der weitere Gang der Gynä-
kologie und Geburtshilfe verkörpert sich namentlich in fünf Namen :
Semmelweis, Simpson, Wells, Sims und Schröder. Die Trag-
weite der Entdeckung Se.\lmelweis' wurde bereits besprochen (oben
S. 421). Mit ihrer allgemeinen Anerkennung war mit einem Schlage
eines der Haupthindernisse der Geburtshilfe beseitigt Eine zweite
Etappe war die Einführung der Narkose durch James Youxg
^^26 Das Aerztewesen in der neuesten Zeit.
Simpson im Jahre 1847, die die Anwendung auch solcher Eingriffe
ermöglichte, welche man ohne sie kaum vornehmen konnte. Von
dieser Möglichkeit machte ein Landsmann Simpsons, der Londoner
Thomas Spencer Wells (18 18 — 1897) in weitestem Umfange Ge-
brauch, indem er die ganze Bauchchirurgie in modernem Sinne aus-
baute und unter anderem zum ersten Male die Ovariotomie ausführte.
Der New Yorker Arzt Marion Sims {1813— 1883) hat durch seine
Erfindung des nach ihm benannten Rinnenspekulums, ganz besonders
aber durch seine Vaginaloperationen und Anwendung von Silber-
drahtnähten die Gynäkologie bedeutend gefördert. Karl Schröder
(1838 — 1887) schließlich hat als Operateur, Schriftsteller und besonders
als Lehrer außerordentlich segensreich gewirkt.
Was die Abgrenzung und Entwicklung der weiteren Spezial-
fächer anlangt, so erinnert die ganze Entwicklung außerordentlich
an diejenige der römischen Kaiserzeit (s. oben S. 148). Der Sonder-
behandlung einzelner Organe, wie der Ohren, der Nase, des Kehl-
kopfes, der Lungen, der Geschlechts- und Harnorgane sind im Laufe
der letzten Jahrzehnte in immer zunehmendem Umfange auch be-
sondere spezialistische Heilverfahren gefolgt. Doch ist der Verlauf
dieser Entwicklung einstweilen noch so wenig abgeschlossen, daß
eine historische Darstellung über das Ziel dieses Buches hinaus-
gehen würde.
Das Aerzte"wesen in der neuesten Zeit.
Das durch die ganze Neuzeit in immer gesteigertem Maße hin-
durchgehende Streben, die Medizin zu einer wirklichen Wissenschaft
auszubauen, ist nicht ohne Rückwirkung auf die Gestaltung des
Aerztewesens geblieben; allerdings hat auch umgekehrt die Regelung
der ärztlichen Verhältnisse, insbesondere des medizinischen Unter-
richts, einen gewissen Einfluß auf jene Tendenz ausgeübt. Die
Medizin sollte auf der einen Seite eine erlernbare Wissenschaft sein,
die jedem, der ihre Grundsätze beherrschte, deren praktische An-
wendung beim Kranken ermöglichte; aber auf der anderen Seite
mußte auch das Aerztewesen, wenn es diese Aufgabe lösen sollte,
dementsprechend gestaltet, der Unterricht mußte auf dieses Ziel ein-
gestellt und die ganze Organisation so eingerichtet werden, daß der
Arzt, der einmal seinen vorgeschriebenen Ausbildungsgang hinter
sich hatte, möglichst ungestört und mit möglichst befriedigendem
Erfolge seinem Berufe obliegen konnte.
Der medizinische Unterricht — der eigentliche Angelpunkt alles
ärztlichen Seins und Handelns — wurde entsprechend und im Sinne
Das Aerztewesen in der neuesten Zeit. 427
der Auffassung der Heilkunde als Wissenschaft weitergebildet ; aber
durchaus nicht in allen Ländern in gleicher Weise. Am kon-
servativ^sten erwies sich in dieser Hinsicht England. Dort hielt
sich mangels staatlicher Regelung die Gepflogenheit, daß die meisten
jungen Leute, die Aerzte werden wollten, sich zunächst für ein Jahr
einem praktischen Arzte anschlössen, um von ihm in die Grundlagen
der Krankenbehandlung eingeführt zu werden. Andere benutzten
hierzu ein Krankenhaus. Erst dann gingen sie zu einer medizinischen
Fachschule über. Solche hatten sich ohne alles Zutun des Staates
lediglich aus dem Bedürfnis heraus an vielen Orten entwickelt, an
denen ein größeres Krankenhaus Gelegenheit zum Lernen bot. Die
verschiedenen an einer solchen Anstalt tätigen Aerzte hatten sich
dann in der Weise zusammengeschlossen, daß ein jeder einen be-
stimmten Teil der Heilkunde lehrte. Soweit ein Fach von keinem
unter ihnen vertreten werden konnte, zogen sie Hilfskräfte herbei,
die namentlich für den theoretischen Teil des Unterrichts zu sorgen
hatten. So wuchsen sich diese Einrichtungen zu ärztlichen Lehr-
anstalten mit bestimmten Lehrplänen aus, wobei aber die einzelnen
Schulen ganz und gar individuell verfuhren und somit die größten
Abweichungen voneinander zeigten. Die Alehrzahl der jungen Aerzte
schloß ihren ganzen Lehrgang an einer derartigen Fachschule ab,
die dann in der Regel durch ein Diplom die ihnen zuteil gewordene
Ausbildung bestätigte. Nur wenige von den werdenden Aerzten
wandten sich einer Universität zu, und auch diese weniger zum
Zwecke einer besseren Vorbereitung für ihren Beruf, als vielmehr
des äußeren Ansehens wegen, das ihnen dadurch verliehen wurde.
Es fehlte auch an fast allen Universitäten, mit Ausnahme der
schottischen, an geeigneten Instituten für den medizinischen L'^nter-
richt und ebenso an einer besonderen Aerztefakultät, die sich dessen
hätte annehmen können. Die Folge war, daß die Ausbildung der
Aerzte außerordentlich ungleichartig, und daß persönliche Anlage
zum Beruf das Entscheidende war. Natürlich blieb es, da der Staat
sich in keiner Weise um diese Dinge kümmerte, nicht aus, daß viele
gänzlich ungeeignete Leute als Aerzte auftraten.
Die hierdurch hervorgerufenen Mißstände veranlaßten aber erst
im Jahre 1858 das englische Parlament, auf gesetzgeberischem Wege
ein „Medical act" zu erlassen, in dem die Zulassung zur ärztlichen
Praxis zwar nicht von bestimmten Voraussetzungen abhängig ge-
macht, sondern nur bestimmt wurde, welche Körperschaften das
Recht haben sollten, über die von ihnen abgehaltenen ärztlichen
Prüfungen gültige Zeugnisse auszustellen. Diese Zeugnisse be-
rechtigten ihren Inhaber zur Erlangung ärztlicher Beamtenstellen
und ermöglichten ihnen die Einklagung von Honoraransprüchen, die
428 Das Aerztewesen in der neuesten Zeit.
allen nicht legitimierten Heilkundigen versagt war. Ueber die auf
diese Weise anerkannten Aerzte wurde ein Register vom „General
Council of medical education and registration of the United Kingdom"
geführt, das gleichzeitig über das ganze medizinische Unterrichts-
und Prüfungswesen eine Aufsicht ausübte.
Aber auch diese Einrichtung bewährte sich auf die Dauer nicht.
Trotzdem dauerte es über zwanzig Jahre, bis der Staat sich zu weiteren
Maßnahmen entschloß. Im Jahre 1881 berief man eine Kommission
zur Neuordnung des medizinischen Unterrichts. Das Ergebnis ihrer
Beratungen war jedoch im wesentlichen ein negatives. Man ver-
kannte zwar nicht den Nutzen einer nach festen Grundsätzen ge-
regelten ärztlichen Ausbildung und Prüfungsordnung, stellte dem-
gegenüber aber die Vorzüge einer gewissen Freiheit der einzelnen
in Betracht kommenden Instanzen so in den Vordergrund, daß so
ziemlich alles beim alten blieb.
Im allgemeinen sind somit die englischen Verhältnisse auch heute
noch denen des verflossenen Jahrhunderts sehr ähnlich, wenn sich
auch die früher teilweise über jedes zuträgliche Maß hinausgehenden
Verschiedenheiten zwischen den Ausbildungsanstalten bis zu einem
gewissen Grade ausgeglichen haben. Aber das wichtigste Moment
ist unverändert bestehen geblieben: die medizinischen Schulen Eng-
lands sind nach wie vor private Unternehmungen, die zwar die Be-
rechtigung haben, den ganzen ärztlichen Unterricht durchzuführen,
aber nicht die Befugnis besitzen, Prüfungen abzuhalten und Berech-
tigungszeugnisse zur Ausübung des ärztlichen Berufes auszustellen.
Dieses Recht steht vielmehr ausschließlich den oben genannten
Korporationen zu. Im übrigen ist der ganze Unterricht in diesen
Schulen vorwiegend auf das Endziel, das Bestehen der Prüfung,
abgestellt und läßt nur einen bescheidenen Raum für wissenschaft-
liche Bestrebungen um ihrer selbst willen.
Diese finden ihre Pflege ausschließlich an den Universitäten, die
ja übrigens ebenfalls keine staatlichen, sondern private Einrichtungen
sind und nicht bloß dem Unterricht, sondern ebenso sehr der all-
gemeinen Erziehung dienen. Die Zahl der medizinischen Dozenturen
ist verhältnismäßig gering und umfaßt vor allem die theoretischen
Fächer, von denen besonders der Anatomie und Physiologie viel
Aufmerksamkeit zugewandt wird.
Die Voraussetzung für das medizinische Studium ist eine gewisse
allgemeine Vorbildung, über die sich der Studierende durch eine
Prüfung zuvor auszuweisen hat, die in mancher Hinsicht mit dem
deutschen Maturitätsexamen zu vergleichen ist. Der ärztliche Unter-
richt selbst ist auch auf den Universitäten trotz deren wissenschaft-
lichen Stellung sehr stark auf das praktische Endziel abgestellt.
Das Aerztewesen in der neuesten Zeit.
429
Die ärztlichen Prüfungen werden von den verschiedenen vom Staate
bezeichneten Korporationen abgehalten, in deren Auswahl der Prüf-
ling unbeschränkt ist. Die verschiedenen Examin ationsbehörden
stellen aber verschiedene Zeugnisse aus. So verleiht z. B. das
Londoner „R. College of Physicians" das Prädikat eines „Member
of the R. C. of Ph." oder eines „Fellow of the R. C. of Ph." Diese
Titel können auch ohne Prüfung an geeignete Persönlichkeiten ver-
liehen werden. Die Universitäten sind allein befugt, akademische
Grade zu verleihen. Deren Voraussetzung ist vielfach die vorherige
Erlangung einer akademischen Würde in der philosophischen Fakultät.
So wird z. B. in Oxford nur nach Erfüllung dieser Bedingung der
Grad eines „Bachelors of medicine" verliehen, der zur Ausübung der
ärztlichen Praxis berechtigt. Der Doktor- sowie andere Titel werden
zumeist erst nach mehrjähriger praktischer Berufstätigkeit auf Grund
einer neuen Prüfung verliehen.
In Schottland und ganz besonders in Edinburg sind die Ver-
hältnisse etwas anders. Namentlich ist dort die Verbindung zwischen
den medizinischen Fakultäten und den Universitäten eine engere.
In ganz anderer Weise hat sich in Frankreich das Aerzte-
wesen entwickelt. Zur Zeit der großen Revolution gab es im
Grunde genommen nur zwei bedeutende ärztliche Zentralen: Paris
und Montpellier, die beide auf eine Jahrhunderte alte glänzende
Tradition zurückblicken konnten. Daneben bestanden noch eine
ganze Reihe medizinischer Schulen ohne jede wissenschaftliche und
praktische Bedeutung. Im Jahre 1790 befaßte sich das Parlament
mit der Frage einer Neuordnung des Aerztewesens, insbesondere
des medizinischen Unterrichts, kam aber über Vorschläge nicht
hinaus. Das Gesetz vom 18. August 1792, das alle Universitäten,
medizinischen Schulen usw. aufhob, brachte einen gewaltigen Rück-
schritt mit sich, der sich sehr bald in der mangelhaften Versorgung
des Landes mit brauchbaren Aerzten äußerte. Dieser machte sich
besonders fühlbar bei der Armee und gab zu einem Gesetz vom
4. Dezember 1794 Veranlassung, durch das in Paris, Montpellier und
Straßburg je eine medizinische Schule (Ecole de sante) neuerrichtet
wurde, in denen vor allem Militär- und Marineärzte ausgebildet
werden sollten. 1796 wurde die Pariser Schule dann weiter aus-
gebaut und erhielt 12 Lehrkanzeln; 1798 wurden ihr eine Ecole pra-
tique angegliedert, und die Kliniken neu ausgestattet. So hob sich
dann die Zahl der Studierenden schnell. Der Unterricht war unent-
geltlich, der Studiengang geregelt und erhielt seinen Abschluß
mit einer Prüfung, zu der aber eine Verpflichtung nicht bestand.
Erst 1803 machte man die Ausübung der Praxis von dem Bestehen
eines Examens abhängig, in dem Anatomie, Physiologie, Pathologfie,
^30 Das Aerztewesen in der neuesten Zeit.
Nosologie, Materia medica, Pharmazie, Hygiene, Geburtshilfe, Chirurgie
und innere Medizin geprüft wurden. Die in dieser Weise vorgebil-
deten Mediziner bildeten die eigentlichen Aerzte, die außerdem noch
das Doktordiplom erwerben konnten. Daneben wurde eine Kate-
gorie niederer Heilkundiger, der „Officiers de sante" geschaffen, die
hauptsächlich an den praktischen Schulen vorgebildet wurden und
in erster Linie für die Landbevölkerung sowie zur Hilfeleistung
für die richtigen Aerzte bestimmt waren. Die Fakultäten konnten
außer dem Doktortitel noch das Baccalaureat und das Lizentiat ver-
leihen.
Im Jahre 1823 wurde die Pariser medizinische Fakultät neu
organisiert, erhielt 23 ordentliche Professuren und 36 Agreges. Bis
in die siebziger Jahre blieb dann der Zustand ziemlich im verändert.
Seit 1877 gab es in Frankreich 7 medizinische Fakultäten. Da-
neben bestanden 18 Ecoles preparatoires, die teilweise die gleichen
Funktionen wie die Fakultäten haben, aber im Gegensatz zu diesen
keine Staats-, sondern munizipale Anstalten sind. Das medizinische
Stadium hat zur Voraussetzung ein Zeugnis über eine Ausbildung,
die ungefähr derjenigen auf deutschen Gymnasien entspricht. Die
Studienzeit wurde auf 4 Jahre festgesetzt, war aber nicht in Semester,
sondern in Kurse von je 2 — 3 Monaten geteilt, die sich auf alle
Teile der Medizin und Naturwissenschaften erstrecken und sowohl
theoretische wie praktische Fächer umfassen. Seit 1878 wurden
5 Prüfungen eingeführt: die erste über Physik, Chemie und Natur-
geschichte fand am ersten Jahresschluß statt, die zweite über Ana-
tomie, Histologie und Physiologie im dritten Jahre, die dritte Prüfung
betraf allgemeine, spezielle und chirurgische Pathologie, Geburtshilfe
und Chirurgie. Das vierte Examen fand über Hygiene, gerichtliche
Medizin, Therapeutik, Pharmakologie statt, und das letzte bestand in
der Untersuchung und Behandlung von Krankheitsfällen in den ver-
schiedenen Kliniken und in der Ausführung einer Sektion. Durch
die Einreichung einer Dissertation wurde dann schließlich der Doktor-
titel erworben.
Die straffe Ausgestaltung des medizinischen Unterrichts sowie
des gesamten übrigen Aerztewesens hat in Frankreich im letzten
Viertel des vergangenen Jahrhunderts die soziale und gesellschaft-
liche Stellung der Aerzte außerordentlich gehoben und in mancher
Hinsicht vorbildliche Verhältnisse geschaffen. Freilich sind auch
dem französischen Aerztestande Kämpfe nicht erspart geblieben.
Sie richteten sich auf der einen Seite vor allem gegen die Officiers
de sante, die bis in die neueste Zeit sich als eine niedere, aber in
mancher Hinsicht gleichberechtigte Klasse von Aerzten erhielten,
auf der anderen Seite gegen das üppig blühende Kurpfuschertum.
Das Aerztewesen in der neuesten Zeit.
431
In Oesterreich-Ungarn hat sich die Entwicklung des
Aerztewesens, die mit der Berufung VAX Swietens nach Wien
ihren Anfang genommen hatte, auch im 19. Jahrhundert fortgesetzt,
wenn auch nicht ohne Unterbrechungen. Auf die durch Josef 11.
in sehr freiheitlichem Sinne durchgeführten Reformen folgte im
Jahre 1786 eine Reaktion, durch die man versuchte, die eben über-
wundene Scheidung zwischen der Medi2in und Chirurgie von neuem
herzustellen. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich
der Staat wieder eingehender mit ärztlichen Fragen. Die Studien-
zeit wurde 1804 auf 5 Jahre festgesetzt, von denen die drei ersten
der theoretischen, die letzten der praktisch-klinischen Ausbildung
dienen sollten. Der Studienplan wurde 18 10 erweitert und insofern fes-
tgelegt, als für die einzelnen Semester bestimmte Vorlesungen vorge-
schrieben wurden. Die Bedingungen für die Abschlußprüfung, auf
Grund deren die Approbation erteilt wurde, wurden verschärft Der
Doktortitel mußte durch eine Dissertation, Anfertigung zweier Kranken-
geschichten und eine besondere Prüfung erworben werden. Die An-
forderungen an diejenigen, welche den Titel eines Magisters der Chir-
urgie erwerben wollten, waren geringer. Im Jahre 1845 folgten neue
Reformen, die vor allem den Lehrkörper betrafen, und 1849 kam ein
Gesetz, nach dem die ärztlichen Unterrichtsangelegenheiten in die
Hände der Professorenkollegien der einzelnen Fakultäten gelegt
wurden. Die im Verhältnis zur Einwohnerzahl geringe Anzahl von
medizinischen Fakultäten — nicht alle Universitäten besaßen eine
solche — brachten eine starke Ueberfüllung, namentlich der Wiener,
mit sich. Seit 1872, wo nochmals die Prüfungsvorschriften revidiert
wurden, gab es in Oesterreich-Ungarn nur noch eine einzige Klasse
von Aerzten.
In Deutschland, d. h. in den deutschen Kleinstaaten vor der
Gründung des Reiches, waren die Verhältnisse der Aerzte, entsprechend
dem Partikularismus, in mancher Hinsicht verschieden, trotzdem die
meisten sich an das Vorbild der beiden deutschen Großmächte,
Preußen und Oesterreich, anschlössen. Medizinische Fakultäten be-
standen in Bayern an den Universitäten zu Würzburg, Erlangen und
Landshut, an dessen letzteren Stelle 1826 München trat; in Württem-
berg zu Tübingen, in Sachsen zu Leipzig, in Hannover zu Göttingen,
in Baden zu Heidelberg und Freiburg, in Mecklenburg zu Rostock,
in Hessen zu Gießen und Marburg, in den sächsichen Herzogtümern
zu Jena. In Bayern wurde durch einen Erlaß vom Jahre 1808
angeordnet, daß ärztliche Praxis nur auf Grund bestimmter Prüfungen
ausgeübt werden dürfe. Das Studium dauerte 3 Jahre, danach folgten
432
Das Aerztewesen in der neuesten Zeit.
2 Jahre praktischer Ausbildung; dann mußte das Examen abgelegt
werden, das erst zur Ausübung des Berufes berechtigte. 1843 wurde
<jine Neuordnung vorgenommen. Nach dieser ging dem eigentlichen
medizinischen Studium ein zweijähriges über Naturwissenschaften
voraus. Eine weitere Veränderung fand durch die Prüfungsordnung
von 1858 statt. Sie bestimmte, daß nach dem ersten Studienjahre
eine Prüfung über die naturwissenschaftlichen Fächer abgehalten
wurde, nach weiterem vierjährigen Fachstudium dann eine zweite
Prüfung. Darauf folgte ein praktisches Jahr und nach diesem erst
die Staatsprüfung.
In Preußen wurde 1825 eine vollständige Neuorganisation des
Aerztewesens vorgenommen, die allerdings in den wesentlichen
Punkten den Zusammenhang mit der Medizinalordnung von 1725
noch erkennen ließ. Man unterschied mehrere Arten Heilkundiger:
promovierte Aerzte, Wundärzte i. Klasse und Wundärzte 2. Klasse,
Das Studium der ersteren, das nur an einer Universität erfolgen
konnte, hatte das Bestehen des Abiturientenexamens eines Gymnasiums
zur Voraussetzung und dauerte 4 Jahre. Seit 1826 bestanden folgende
Prüfungen: das Tentamen philosophicum über Logik, Psychologie
und Naturwissenschaften, das Tentamen medicum und Examen
rigorosum über alle medizinischen Unterrichtsgegenstände (es be-
rechtigte zur Promotion) und die Staatsprüfung, deren Bestehen die
Befugnis zur Praxis gab. Für die Wundärzte wurden geringere
Anforderungen gestellt; namentlich konnten sie einen Teil ihrer Aus-
bildung an besonderen medizinisch-chirurgischen Lehranstalten, in
Krankenhäusern usw. erwerben. Für den öffentlichen Sanitätsdienst
— als Physikus oder forensicher Wundarzt — wurden besondere
Prüfungen vorgeschrieben. Nach dem Gesetz von 1852 fielen dann
die Unterschiede zwischen den verschiedenen Aerztekategorien fort,
1861 trat an die Stelle des Tentamen philosophicum das Tentamen
physicum ; eine Tatsache, die auch äußerlich zu erkennen gab, daß
man die naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin ein für allemal
als die einzig richtige anerkannte. Ein wichtiges Ereignis für das
preußische und später deutsche Aerztewesen war die Gründung der
Berliner Universität 18 10, bei der sich dann aus dem Collegium
medico-chirurgicum eine medizinische Fakultät entwickelte. Die
Verbindung der 1795 geschaffenen militärärztlichen Bildungsanstalt
mit der Universität war von großer Bedeutung für das Militär-
sanitätswesen. Das Jahr 1871 brachte dann endlich die lange er-
sehnte Einheitlichkeit auch für die Organisation des Aerztewesens
in allen deutschen Staaten. Die Approbation wurde zur alleinigen,
aber unumgänglichen Voraussetzung der ärztlichen Berufsausübung
gemacht, der ganze Studiengang und das Prüfungswesen in dem
Das Aerztewesen in der neuesten Zeit. 433
Sinne geregelt, wie sie — mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. Ein-
führung des „praktischen Jahres" — noch heute Gültigkeit haben.
Inzwischen aber haben gerade die letzten Jahrzehnte so erhebliche
Veränderungen in der Medizin und den äußeren Verhältnissen des
Aerztestandes mit sich gebracht, daß die Notwendigkeit einer gründ-
lichen Neuregelung von allen Seiten anerkannt wird.
Das gilt in besonderem Maße von den ärztlichen Standes-
verhältnisseq im engeren Sinne. Diese haben vorzugsweise in
Deutschland im Verlaufe des letzten halben Jahrhunderts eine Ent-
wicklung genommen, ganz ähnlich wie sie die Aerzte vom Ende
der römischen Republik bis zu den Erlassen der oströmischen Kaiser
durchgemacht haben. Die Gewerbeordnung von i86q nimmt zwar
noch ausdrücklich den ärztlichen Beruf von denjenigen Betätigungen
aus, die als Gewerbe zu betrachten sind, und rechnet ihn unter die
freien Berufe, eine Auffassung, die ganz und gar derjenigen der
römischen Zeit entspricht. Nichtsdestoweniger hat sich die Tätigkeit
des Arztes immer mehr zu einem „Brotberufe'" ausgebildet, der sie
in zunehmender Weise einem wirklichen Gewerbe annähert. In viel
stärkerer Weise ist dies seit dem Indieerscheinungtreten der Sozial-
gesetzgebung der Fall gewesen» die das ganze Aerztewesen in seiner
äußeren Gestaltung wie in seiner inneren Verfassung stark beeinflußt
hat und immer noch beinflußt. Die an sich ganz richtige Voraus-
setzung des Staates, daß eine ausreichende ärztliche Versorgung der
unbemittelten Bevölkerungsteile zu seinen wichtigsten sozialen Auf-
gaben gehöre, hat ganz ähnlich wie in der römischen Kaiserzeit
auch in der Neuzeit die Aerzte zu Objekten dieser Bestrebungen
gemacht und für sie Verhältnisse geschaffen, die mit der ursprüng-
lichen Auffassung des ärztlichen Berufes zum Teil in heftigem Wider-
streit stehen. Bis dahin galt der Arzt allgemein als eine Person, zu
der man auf Grund persönlichen Vertrauens in Beziehungen trat;
eine Tatsache, die in der Einrichtung des „Hausarztes" ihren Aus-
druck fand, der nicht nur im Krankheitsfalle auf besonderes Ansuchen
zu seinen Patienten kam, sondern diesen aus freien Stücken dauernd
unter gesundheitlicher Beobachtung hielt und seine Aufgabe in mög-
lichster Verhütung von Krankheiten sah. Diese Einrichtung ist in
den letzten Jahrzehnten fast völlig ausgestorben. Die Hauptursache
liegt zweifellos darin, daß mit der immer wachsenden Anzahl der
in Krankenkassen zusammengeschlossenen Personen und der da-
durch — auch bei sogenannter freier Arztwahl — bedingten ständig
zunehmenden Mechanisienmg der ärztlichen Tätigkeit für ein derartiges
Vertrauensverhältnis kein Platz mehr geblieben ist; ferner darin, daß
die ärztliche Tätigkeit immer mehr zu einer vertraglichen und entgelt-
lichen Leistung geworden, und die einzelne Leistimg durch die ge-
M eyer- Steincg u. Sudhoff, Illu<:tr. Clcnchichtc der Medizin. 2JJ
434 ^^^ Aerztewesen in der neuesten Zeit.
ringe Bezahlung in ihrem Werte herabgedrückt worden ist. Ob
diese ganze Entwicklung schließlich zu einer vollkommenen Ver-
beamtung des Aerztestan des . führen wird, ist nicht vorauszusagen.
Doch möge darauf hingewiesen sein, daß es in der der unserigen so
ähnlichen römischen Epoche zu dieser äußersten Konsequenz nicht
gekommen ist, trotz der Schaffung von außerordentlich vielen ärzt-
lichen Beamtenstellen,
Eine andere, ebenfalls zum Vergleiche mit der Vergangenheit
herausfordernde Entwicklung ist die stets zunehmende Spezialisierung
des ärztlichen Berufes. Auch diese Erscheinung scheint ganz zwangs-
läufig mit dem Gange der Medizin verknüpft zu sein. Ihre Ursachen
liegen zu einem großen Teil in dem bei zunehmender medizinischer
Kultur sich ständig mehr aufsammelnden Stoffe. Man vergleiche
auf der einen Seite nur die Hippokratischen mit den Galenischen
Schriften, auf der anderen die Literatur des 18. Jahrhunderts mit der
modernen, um den gewaltigen Unterschied zu erkennen. Das Un-
vermögen des einzelnen, dies gesamte Gebiet der Heilkunde mit
seinem fortwährend wechselnden und sich vermehrenden Wissensstoff
zu umfassen, hat nicht nur einzelne Forscher zu einer spezialistischen
Beschäftigung mit einzelnen Teilen der Medizin getrieben, sondern
veranlaßt auch mehr und mehr die Aerzte, ihre Berufsausübung auf
ein umgrenztes Gebiet zu beschränken. Und so hat sich, ebenso
wie im kaiserlichen Rom, ein Spezialistentum ausgebildet, das bei
weiterem Umsichgreifen dieser Tendenz schließlich zu einer voll-
kommenen Auflösung der Medizin führen muß. Man muß nur ein-
mal die beweglichen Klagen einiger einsichtiger Aerzte und die
Spottverse mancher Dichter der römischen Kaiserzeit mit den Aeuße-
rungen der Jetztzeit vergleichen, um zu sehen, daß offenbar mit
einer gewissen Gesetzmäßigkeit auch in der Medizin unter ähnlichen
Bedingungen ähnliche Erscheinungen auftreten; wie denn ja über-
haupt die Geschichte der Medizin uns zeigt, daß auch im Bereiche
dieses Wissenszweiges die Entwicklung nicht in stetig aufsteigender
Linie vor sich geht, sondern in einer sich langsam erhebenden
Spirale, deren einzelne Punkte oft wieder nahe an vorherige zurück-
kehren.
Register.
Absonderungshaus 267,
Absperrungshäuser 233.
Abstammungslehre 398.
Abwehrsystem 234.
Abu'l Qäsim 159, 162, 201,
209, 218, 224, 271.
Academia Hippocratica 155,
181.
Accorso 247.
Achillini, Alessandro 238.
Acquapendente, Fabrici ab
290, 313-
Adamatus 178.
Addison, Thomas 413.
Aderlaß 246, 253, 270.
Aderlaß-Instrumente 10.
Aderlaßmann 246.
Aderlaßtafel 254.
Aegidius Corboliensis 193.
212, 213, 214, 220, 259.
de aegritudinum curatione 190.
Aegj^ptische Tage 176.
Aetios 153, 182, 269, 296.
Aerzte, deutsche 251.
— babylonische 20.
— geistliche 386.
Aerztegilde 179.
Aerzteschulen 30, 57 ff.
— babylonische 21.
Aerztesklaven 100 ff.
Aerztestand 103 f., 155, 165 f.,
174, 178, 204, 208, 235,
337 ff., 385 ff., 42b ff.
Aerztesteuer 51.
Aerztetaxe, babylonische 2 1 .
Aerztezunft 49 f.
Afflacius 189.
Agathinos 1 29.
Aggretator Brixiensis 228.
— Paduanus 230.
Agilon, W. 213.
Akademie in Florenz 268, 270.
Academia nova Hetruscorum
270.
Alanus von Lille 194.
Albert Graf von Bollstädt
(A. der Große) 221, 222,
227.
Alchvine 176.
Aldebrandino von Siena 234.
Alessandro Achillini 238.
Alexander Severus 146.
— de observationediaetae 206.
„Alexander Yatros" 153, 174.
Alexandreia 151, 153, 154,
237, 251.
Alexandros Philalethes 170.
— von Tralleis 153, 173,
185, 251.
Alfanus 185.
"^Ali ben 'Isä 158.
'Ali ibn al 'Abbäs 156, 160,
187.
— ibn Ridhwän 207.
Alkmaion von Kroton 48.
Alkoholverband 208.
Allgemeintherapie 127.
Alpago, Andrea 270.
Alraunwurzel 94, 131.
'Ammär 158.
Ammonios 94.
Amulettkranz 17.
Analytische Methode 362.
Anatomia 194, 224, 237. —
Nicolai 196. — parva 194.
— Richardi 196. — vivo-
rum 195.
Anatomie, menschliche 92,
196, 236 ff.
— tierische 92, 196 ff.
— topographische 401.
— Reformation der 280- 291.
Anatomische Forschung 142,
143, 280 ff.
Anatomisches Theater 236,
340.
Anatomische Zeichnungen
238 ff.
Anaxagoras 49.
Andreas von Karystos 94.
Aneurysmen-Operation 131.
Anima 343.
Animismus 361.
Antidotarien 181, 195, 231.
Antidotarium Nicolai (Salerni-
tanum) 182, 192, 255.
Antigene 413.
Antisepsis 419 f-
Antitoxine 413.
Antoniterhaus 267.
Antoninus Pius 146.
„Antrorarium" 181, 182.
Anthimus 172, 175.
Antyllos 130, 152, 154.
ApoUonios von Kition 94.
Apotheke 163.
Approbation, ärztliche 146,
204, 337. 432-
Apuleius (Pseudo-), Lucius,
Platonicus 169, 171, 259,
262.
Arabismus 250.
Arabistik, Auswüchse 249.
Arabische Kultur in Sizilien
186.
Aranzio 300.
Archagathos loi.
Archäus 275, 318.
Archiater 82, 148.
Archigenes 129, 152.
Archimatthaeus 182, 190, 201.
Archipoeia 179.
Areopagita, Dionysios 268.
Areiaios 132, 251.
Ai^ellata, Pietro d' 291.
Argenterio, Giovanni 302.
Aristippus, Henricus 247.
Aristoteles 77 f., 138, 151,
i6o, 162, 164, 207, 221,
222, 226, 234, 247, 251,
259, 268, 274, 302, 306.
Aristotelesbrief (an Alexander
d. Gr.) 206, 227, 234.
Armengaud, Sohn des Blaise
214.
' Amald von Villanova, der
Katalane (,^mold von
i Montpellier") 205, 214,
I 215. 216, 256, 258, 266,
308.
Articella 187, 158.
Arzneimittelbcreitung, chemi-
sche 208.
Arzneimittelkunde 97.
I Arznei Wirkung 141.
Afaf, der Jude 156.
I Aselli 314.
1 Asepsis 14, 131, 384.
; Asklcpiaden 49, 55.
Asklepiades von Bitbynien
107, 359.
I Asklepieion 44, 48, 53 f., 105.
I Asklepios 43, 49, 152, 155.
28'
436
Register.
Astronomie 22.
Athen 151.
Athenaios 129, 152, 185.
Attalos von Pergamon 98.
Auenbrugger 351, 415.
Augenheilkunde 300.
— der Aegypter 37.
— in Salerno 203, 204.
Augenspiegel, Entdeckung des
407.
Augustinus 169, 247.
Auguxtus 102.
Aurelius-Escolapius 1 74.
Aurispä 249.
Ausbildung von Operateuren
201.
Auscultatio 65, 133, 399.
Ausdünstungen, giftige 62.
Autoritäten-Verehrung 252.
Autoritätenstreit 271.
Autoritas 252.
Avendehut 206.
Averroes 226.
Averroismus 251.
Avenzoar 162, 215, 259.
Avicenna 158, 159, 162, 163,
164, 186, 195, 209, 218,
222, 227, 228, 231, 256,
258, 261, 269, 270, 271,
278, 280, 283, 300, 303,
304-
Avicennista insignis 270.
Bacon, Francis {of Verulam)
305. 306, 307. 308. 312.
— Roger 221, 222, 248, 308.
Bäder, Dampf- und Schwitz-
II.
Bagdad 156.
Bafiellardi, Paolo 255.
Baglivi, Giorgio 324.
Bale^con de Tharanle 217.
Bamberger Chirurgie 200.
Barbiere 389.
Barthez, Paul Jos. 361, 392.
Basileios der Große 155.
Basiliäs 155.
Bartholomaeus, Magister 183,
189.
Bartisch, Georg 301.
Battista da Rapollo 291.
Baudelocque, Jean Louis 383.
Bauchhernie in der Narbe 211.
Bauchmuskelzeichnung 246.
Baverio 230.
Bayle, Gaspard Laurent 413.
Beamtete Aerzte »47 f., 208.
Becken 298.
Beda 176.
Beer, Georg Josef 382.
Behorchung 33, 65.
Behring 413.
Bell, Charles 404.
— John 400.
Bellini 290.
Bencio Ugo 230, 248.
Benedetti da Legnano, Ales-
sandro 238.
Benediktinerorden 172.
Benedictus Crispus 174.
Benevent 173, 180.
Benevenuto Graffeo 203, 204.
Benivieni 268, 269, 270.
— Antonio 238, 296.
Benvengut de Salem 204.
Berengario da Carpi, Jacopo
238.
von Beris, Johann 292.
Bernardus Alberti 217.
Bernard, Claude 403.
Bernhard, der Proveneale 212.
— (von) Gordon (de Gordonio)
211, 214,' 215, 216, 259.
— aus der Provence 193, 202.
Bernhardus 211.
Bernouilli 342.
Bertalia 226.
Bertuccio 237.
Besichtigung 33, 65, 127.
Betastung 33, 65, 127.
Bewegung, passive 109.
Bibliotheken der Araber 164.
Bichat, Fran9. Xavier 393.
Bildungstrieb, Lehre vom 356.
Billroth, Theodor 423.
Biogenetisches Grundgesetz
368.
de Biterris, Wilhelm 216.
„Blatternhaus" 267.
Blumenbach, Joh. Friedrich
356.
Blutkreislauf, Entdeckung des
313. 322, 331-
Blutleere, künstliche 421.
Blutstillung 70, 73, 134.
— durch TTorsion und Ligatur
21 1.
Bluttransfusion 331.
Bobbio 176.
Bock, Hieronymus 263, 265.
Boerhaave 304, 347 f.
Boethius 247.
Bocthus 136.
Du Bois-Reymond, Emil 406.
Bologna 220, 224.
Bonet, Theophile 330.
Bonetus 211.
Bombast s. Hohenheim.
Borden, Theophile 361.
Borgognoni 208, 218.
Botallo, Leonardo 290, 292,
303-
Bottoni, A. 303, 304.
Bourgeois, Louise 334.
Bowman, William 401.
Boyle, Rob. 345.
Braid, James 366.
Branca 294.
Brennstellenbilder 197.
Breslauer Codex Salernitanus
184, 190.
Brief an Alexander 206, 227,
234-
Briefformularien 175.
Bright, Rieh. 414.
Brissot, Pierre 270.
Broussais, Franc. Jos. Victor
402 ff.
Broussaisismus 402 ff.
Brown, John 357, 409.
— Robert 397.
Brownianismus357,397f.,403.
Bruchoperateure 339.
v. Brücke, Wilh. Ernst 406.
Brunfels, Otho 263, 264.
Bruno (von Longoburgo) 208,
209.
Brunschwig, Hieronymus 292.
Buchdruck 252 ff.
Büchner, Ludwig 396.
Buchrolle 151, 252.
Buono di Garbo 210, 228.
Burgundio 247.
j Caelius Aurelianus 170, 174,
I 177-
1 Caesar 102.
I Camper, Pieter 384.
I Canstatt, Carl 371.
i Cardano, Girolamo 302.
j Cardmalis, Mag. 214.
I Carnificis 236.
Cassiodor 172, 173, 174, 176,
l8[.
Cassius, P^lix 170.
Castello 256.
Cato loi, 107.
Cellularpathologie 408 ff., 413.
Celsus, A. Com. 112 ff., 167,
231, 251, 258.
Cermisone, Antonio 230, 258.
Chalcidius 247.
Chammurapi, Codex des 20.
Champier 271.
Charcot 278.
— Jean Martin 413,
Chartres 177.
Chemie 307.
Chemische Physiologie 403 f.,
407.
Cheselden, William 381.
Chinarinde 372.
— Einführung der 330.
Chirurgia Rogeri et Rolandi
201.
Chirargie 154, 162, 196, 207,
291.
— bei den Arabern 162.
Chirurgische Eingriffe 35 f.
der Naturvölker 11.
Chloroformnarkose 420.
Cholera 234.
Register.
437
„Chronia" eines Escolapiiis
174.
Chrysippos 78, 85.
Circa instans 191, 222.
Civitas Hippocralica 180, 181,
194 200, 204.
Clairvoyance 366.
Claudios Philoxenos 94, 121.
Clavis sanationis 231, 259.
Clement, Jules 334.
Cohnheim, Jul. 410.
CoUectio Salemitana 190.
CoUectiones Chirurgicae 214.
College de St. Cörne 220.
Comte, Auguste 395.
Conciliator differentiarum 229.
Conciliatores controversiarum
227.
Conclusiones 227.
Concordanciae 177, 227.
— ia Ippocratis, Galieni et
Suriani 177.
Concoreggio, Giovanni da 237.
Condillac 362.
Conflentia, Jacobus de 234.
de Congenis 217.
Conring, Herrn 335.
Consilien, medizinische 193,
227, 230, 258, 303, 304. ;
Contagium animatum 401; s.
auch Kontagium. j
Cooper, Astley 423.
Copho 190, 202.
Cordus, Valerius 265. [
Cornarius 269.
Cornelius Celsus 1 1 2 ff .
Corvi da Brescia, Gulielmo ,
228.
Corvisart 351.
Crato von Krafftheini, Johann ;
304, 306.
Cruveilhier, L. J. Baptiste 414.
CuUen, William 356, 372.
Cuvier, Georges 397.
Dalechamps, Jaques 265.
Dalton, John 398.
Daniel von Morley 207, 229.
Dammschutz 202, 296.
Dämonenbeschwörer 17.
Däinonismus 15.
Daremberg, Charles 187, 190.
Darwin, Charles 398.
Daviel, Jacques 382.
Deductiones 227.
Demetrios von Apameia 94,
121.
Demokritos 49, 60.
Demonstratio anatomiai 195.
Demosthenes 152, 158.
— Philalethes 94.
Denis, Jean 331.
Denken, philosophisches 268.
Denman, Thomas 384.
Deoprepio, Nicolo di 248.
Descartes 312.
Desault, Pierre Jos. 378.
Despars, Jaques 230, 248, 283.
Deutschland 266.
van Deventer, Hendrik 382,
390.
Diagnose 65.
Diagnostik 58, 65.
— physikalische 399, 415.
Dias, Bartolomeu 261.
Diätetik 113.
— der Araber 164.
Diät-Therapie 68.
Dieffenbach, Joh. Friedr. 422.
Dietl, Joseph 416.
Dino (Aldebrandino) di Garbo
228.
Diodor 39.
Diokles 151, 152.
— von Karystos 78 ff.
Dionis, Pierre 333.
Dionysios Areopagita 268.
Dioskurides 94, 132, 152,
160, 166, 169, 173, 174,
223, 231, 259, 262, 265.
Diphtherie 266.
Disposition, hereditäre 62,
360.
— Krankhelts- 88, 140.
Disputationes de quolibet 227.
Dodoens, Rembert 265, 304.
Dogmatiker 78.
Dogmatische Schule 7 7 ff.
Dogmatismus 129.
Döllinger, Tgnaz 368.
dei Dondi (Giovanni, Giacomo)
230.
„Donnolo" 180.
Drebbel 316.
Dreitagekuren 112.
Drogen, heimische 271,
ibn al-Dschazzär 159.
Dschibral (Gabriel) 156.
Duchek, Adaibert 416.
Duddel, Benedictus 382.
Dudith, Andreas 302.
Dupuytren, Guillaume 422.
Dürer, Albrecht 263, 281.
Du Tertre, Marguerite 333.
Duvernoy 354.
Dynameron (Aovajispöv) 182.
üynamidia 191.
Dynamis 374.
Kcluse de'l Charles 265.
Edessa 155.
Ehrenberg, Gottfr. Christian
397-
Ehrlich 413.
Eid, hippokratischer 49 f.
Einzelbilder der Schwangeren
246.
Einzelorgane (Bilder) 242.
I Eklektizismus 129, 417.
Elektrizität 367.
I Eller, Joh. Theod. 380.
Embryologie, Vorläufer der
356.
Embrj'otomie 122.
Empiriker 96 ff.
\ Entdeckungsreisen 261.
Entwicklungsgedanke 368.
Entzündimg, Erklärung der
357-
Enzyklopädismus 151.
: Enzyklopädisten des Ost-
reiches 153.
Epidauros 44, 54.
Epigenese, Theorie der 356.
Epileptikerheim 267.
Epistola Aristotelis 206.
— de Flebotomia 192, 200.
Erasistratos 83 ff., 91, 151.
Erfahrung am Krankenbette
270.
Erfahrungsheillehre 375.
Erkrankungen, tartarische 277.
Ernst von Bayern 2 9.
! Emiolao Barbaro 261.
Esniarch, Friedrich von 421.
I Estienne, Charles 281.
I Eudoxos 78.
Euler 342.
! Eurj'phon 58.
i Eustacchi, Bartolommeo 288,
I 289, 290.
: Eustathios 152.
Experiment 194, 252.
j — ac ratio 307.
i experientia 252.
I Experimentalpbysiologie 405.
I Experiment, phvsiologisches
62.
j Extraktion an beiden Füßen
299.
Pabricius ab Acquapendente
290, 313.
Fachärzte 29.
Facies hippocratica 65.
Falcucci, Niccolö 231.
Palioppia, Gabriele 286, 287,
290.
Familientradition in Italien,
medizinische 196.
Faradsch ben Sälim 207.
Fasciculus medicinae (Ke-
tham) 244.
Fehling, Hermann 407.
Feldscher 208.
Feldwundilrzte 391.
Fermentation, Begriff der 320.
Fernel, Jean 302.
Ferrari da Grado, Matteo
230, 255-
I'"errario. Matteo 230.
Ferrari, Giamatteo 238.
43«
Register.
Ferrarius 183, 189, 190, 201.
Ferri, Alfonso 292.
Ficino, Marsilio 269, 276.
Fieber, Bekämpfung des 418.
Florentiner Akademie 26.8,
269;
, neue 270.
Florilegia 227.
„Flos medicihae" 205.
Fluktuation 33.
Fontana 387.
Foreest, Piter 302.
Foroliviensis, Jacobus 230.
Fracastoro, Girolamo 267.
Frakturen, komplizierte 211.
Franco, Pierre 293, 301, 383.
Franz von Piemont 225.
Frank, Joh. Peter 352.
Franklin 342.
Frauenheilkunde 75, 165, 202.
Frerichs, Friedr. Theodor 416.
Friedrich IL, Kaiser, 173,
204, 237.
Fries, Lorenz 270, 302.
Frühsalerno 181, 183, 185,
194 202.
Fuchs, Leonhard 263, 265,
269, 271, 285.
Fulda 176.
„Fünfbilderserie" 238.
Furno, Vitale da 234.
Fürstenhöfe, Germanische 1 70.
Galenos (Galienus) 79, 95, 132,
i3Sff., 151, 152, 153, 154,
155. 156, 157. 160, 163,
170, 173, 174, 177, 183,
187, 189, 194, 207, 216,
227, 228, 229, 230, 231,
247, 248, 250, 251, 259,
268, 269, 270, 271, 272,
278, 280, 283, 284, 286,
290, 291, 300, 302, 311,
320, 323. 353, 354. 407.
Galenische Akademie 270.
Galilei 304.
Gall, Franz Joseph 401.
St. Gallen 176.
Galvani 342.
Garbo, Brnno di 210, 228;
— Dino di 228.
Garcia d'Orta 261.
Gargilius Martialis 177.
Garipotus 174.
Gariopontus 174, 182.
„Gart der Gesundheit" 259.
Gase, Begriff der 318.
Gaub, Hieronymus David 359.
Gaukler 99.
Gay-Lussac 398.
Gaza, Theodor 259, 261, 272.
Gebäranstalt 334.
Gebärstuhl 121.
Geburtshilfe 38, 75, 202, 296.
Geburtshilfe, Lehrerin der
334-
— und Gynäkologie der
Araber 165.
Geburtsorganismus 335.
Geburtszange, Erfindung der
383.
Gefäßligatui 129, 211.
Gelehrsamkeit 194.
Gemeindeärzte 51, 148, 208.
Gentile dei Gentili da P'oligno
230, 231, 238, 256, 258.
Geraldus de Solo 217.
Gerauld aus Bourges 220.
Gerhard aus Cremona (der
Lombarde) 207, 251.
von Gersdorf, Hans 292.
Gesner, Konrad 265, 266,
^ 306.
Gesundheitsregimina für be-
sondere Fälle 234.
Gewebskrankheiten 359.
Gherardo s. Gerhard.
Giacomo Alberti di Mon-
calieri 234.
Giacomo de' Dondi 230, 259.
Giacomo della Torre 230.
Giamatteo Ferrari 238.
Giftpflanzen 98.
Gi denübung, alte chiurgische
208.
Gilles de Corbeil 193, 212,
220.
Gillibertus 214.
Giovanni d'Arcole 291.
— de' Dondi 230.
— Noto Siciliano 250.
— Plateario 202.
— Pico della Mirandola 269.
— da Romanis 291, 292.
— Vigo 2q2.
Girardus Bituricensis 220.
Glaukias von Taras 97.
Glossen zum Roger 200 ff.
Glossulae quattuor magistro-
rum super Chirurgiam Ro-
geri et Rolandi 201.
Gmelin, Leopold 407.
Gondeschäpür 155, 156, 181.
Gonzalo Hernandez de
Oviedo y Valdez 261.
Gordon Bernhard, s. Bernhard.
Grabadin des Pseudo-Mesue
259-
V, Graefe, Albrecht 424.
Graefe, Carl Ferd. 422.
Graffeo 202.
Gravida, Bild der 246.
Gregor der Große 153, 176.
Griechenmedizin 250.
Grimoald 183.
Große Chirurgie des Bruno
208, — Hohenheims 277.
Grosseteste, Robert 247.
Guainierio 256.
Guido von Arezzo 200, 201.
Guido de Vigevano 246.
Guillaume de Beziers (de Bi-
terris) 216.
— Boucher (Carnificis) 236.
— Firmat 177.
Guillemeau, Jacques 299, 301.
Gulielmo da Saliceto 210 f.,
218.
Günther von Andernach 283.
Guy de Chauliac 201, 218,
219, 224, 237, 248, 258,
291, 296.
Gynäkologie 38.
Hadrian, Erlaß des 146.
Haeckel, Ernst 398.
de Haen, Anton 350.
Hahnemann, Samuel 372.
al-Haitam 139.
Halaf at Tütüni 158.
Hali Abbas 156, 158, 163,
195, 196.
Halifa ben Abi'l-Mahäsin 159.
von Haller, Albrecht 353 ff.,
409.
von Hammen, Ludwig 314.
Hämorrhoiden 197.
Entfernung 198.
Harmonisierungsbestrebuugen
der Scholastik 227.
Hartmann von Aue 212.
Harvey 300, 313 ff.
Harun ar Raschid 156.
Hausarzt 386, 390.
Haynpul, Joh. (Janus Cor-
narus) 269.
Hebammen 75.
Hebammenkatechismus des
Soranos-Mustio 170.
Hebammenschulen 390.
Heilbetrieb in Asklepios-
tempeln 43 f.
Heilkraft, natürliche 67.
Heilmittel, psychische 363.
Heilpersonal, niederes 21.
Heilungsbestreben, natürliches
357-
Heim, Ernst Ludwig 416.
Heister, Lorenz 379 f.
Heliodoros 130, 152.
v. Helmholtz, Hermann 406.
van Helmont 318.
Henle, Jakob 400.
Henri d' Hermondeville (Mon-
deville) 217, 218, 219, 221,
238, 239, 241, 246, 281.
Henschel 185, 190, 194.
Herakleides 60.
— von Taras 97.
Heribrand 177.
Hernienoperation 196.
Herodotos 39, 129, 152.
Register.
439
Herophileer 91.
Herophilos 83 ff., 151.
Hesiod 42.
van Heume, Jean 304.
Hikesios 94.
Hildegard (von Bingen) 177,
178.
V. Hilden, "Wilh. Fahr)- 333,
379-
Hippokrates 55, 59 ff., 156,
173, 174, 187, 188, 192,
214, 216, 227, 228, 230,
247, 248, 249, 251, 259,
266, 269, 270, 276, 278,
302, 303, 307, 326.
Hippokratismus 250, 326, 329.
351. 361.
Hirschberg, Julius 159.
Hochsalemo 180, 185, 192,
194, 196, 202.
— und Spätsalemo 204.
Hockbilder, anatomische
240 ff.
— persische anatomische 242.
— einer Schwargeren 245.
Hofärzte 82, 178, 338, 386.
— babylonische 21.
Hoffmann, Friedrich 345.
— Richard 371.
Hofphilosoph Magister Theo-
dorus 206.
Hohenheim 271, 293, 303,
307. 308.
Hohlsonde 211.
Holzschnitt nach der Natur
263.
Homer 41 ff.
Homöopathie 371 ff.
Honein ( Johannitius) 217.
Honorar, ärztliches 51, 338,
387.
Honorarsvesen, ärztliches 146.
— babylonisches 21.
Hoppe-Seyler, Felix 407.
Horaz 179.
Hortulus 176.
Hörsäle, öffentliche 146.
ijospital 267 (s. Kranken-
baus).
Hospitalbrand 385.
— -Fieber 388.
Hospitäler erhielten ihre an-
gestellten Aerzte 268.
Hotel Dieu 334, 341, 388,
390-
Hraban 176.
Hubais 158.
Hufeland, Christian Wilhelm
378, 4«7-
Hugo von Tours 177.
Hugo v. St. Viktor 178.
— von Lucca (dei Boi^t^oni)
208 ff.
— und Theoderich 218.
Hunain 158, 218, 227.
— Ibn Ischäq 156.
Hundt, Magnus 244.
Humanismus 247 — 271.
Humoralpathologie 32, 62,
272, 399. 409-
Hunter, William 381, 384.
— John 381.
Huser, Joh. 279.
Hygrometer 323.
I Hyrtl, Josef 400.
latreien 53, 104.
latrochemiker 320 ff., 343.
latromathematik 154, 207, 230.
latromathematiker 324.
latrophysiker 320 ff., 343.
Ibn al-Baitär 164.
— al Dschazzar 187.
Ilias, Medizin in der 41.
Indikationen 119, 125.
Infektion 232f., 4i2f.
Infusorien 370.
Inkunabeln 252 — 260.
Induktion 227, 306.
— methodische 275.
Infirmarien der Klöster 174.
Ingrassia, Filippo Giov. 290.
Inspectio 6^, 127.
Instrumentailum 74, 131, 161,
333-
Instrumentarium, geburtshilf-
liches 122.
Irland 175.
Irritabilität 355, 359, 367.
Irritation 402. 1
Isaac Judaeus 158, 164, 187, i
191, 259.
Isagogae Johannitii 187.
Ischäq ibn Sulaiman al-Isrä'ili
158, 164, 191.
Isidor von Sevilla 175, 176.
Isolierhäuser 155, 233.
Isopathie 375.
Italien 274.
Jachia (Jahja) ibn Serafiiin
(ben Saräbi, Serapion) 158,
207.
Jackson, Charles T. 420.
Jacob von Forli 256, 258.
Jacobus de Conflentia 234.
Jacobus (in der Reichenau)
.76.
Jacopo da Norcia 291.
Jahreszeiten 176.
Jan, Antoine Maitre 381.
Januensis, Simon 231, 262.
Jamatus (Jamerius) 201.
Jamblichos 268.
Jeanne de Borgogne 246.
Jean de Passavant 211.
— Pitard 21 1, 220.
— de Tnumemire 217.
Jenner, Edward 377 ff.
Johann XXI., Papst 220.
— von Aquila 213.
— von Bens 292.
— von Toledo 206, 234.
— von Tomamira 217.
Johannes Hispanus 206.
— Jacobi 217.
— de Piscis 217.
— a Platea 182, 189, 190.
— de Sancto Paulo 192, 213.
Johannitius 156.
John of Gaddesden 216.
Jordanus, Thomas 304.
— de Turre 216.
Jühannä ibn Mäsawaihi 156.
Julianos, Kaiser 152, 155.
Jung-Stilling, Heinr. 382.
Jungius, Joachim 307.
Justinian, Kaiser 232.
Joubert, I^iurent 302.
Kaiserschnitt 299.
Kalabrien 196.
Kaltschmidt, Karl Friedr. 380.
Karl der Große 176.
Karl III., der Einfältige 178.
Karolingerzeiten 153.
Kassenärzte 148.
Kassineser Chroniken 186.
Kauterisation 73.
Kepler, Johannes 300.
Ketham, Johann de (Kirch-
heim?) 244.
Kielmeyer 368.
Kieser, Dietrich Georg 366.
Kinderkrankheiten 202.
al Kindi 157.
Kindslagen 75.
— abnorme 122.
Kindslagenbildcr 170.
Kleombrotos 85.
Klerikerärzte 180.
Klerikermedizin 178.
Klinik 55.
Klinische Cbinxrgie 211.
Klostemeubau in St. Gallen
«75-
Klosterschulen 1 76.
Knidos 49, 57, 77.
Knocheabrüche, Behandlung
72.
Koch, Robert 411.
Kodex 132, 252.
Kollegienhefte 189.
Kölreuter, Siegmund 302.
Kommunität III, 125.
Königsbrück, Bartisch von 301 .
Konsilien 227.
Konstantin, von Afrika 163,
177, 178. 180, 181, 182,
185, 186, 187, 189, 192,
»93. »94. »95. '96. 206.
207, 213, 2as, 248, »58-
440
Register.
Konstantinos 152.
Konstantinischer Früliarabis-
miis 224.
Konstitution 374.
— epidemische 328.
Kontagium 360, 369.
Kontaktinfektion 232.
Kos 48, 49, 54, Ti.
Kranioskopie 401.
Krankenanstalten 52.
Krankenhaus 155, 174, 267.
Krankenhäuser 103, 112.
Krankenhäuser, Verhältnisse
der 388.
Krankenhauswesen 155.
— in Byzanz 267.
Krankenpflege der Araber 1 64.
Krankenpflegewesen 155.
Krankenräume 53.
Krankheiten, ansteckende 233.
— chronische 328.
— neue 266.
Krankheitsbarometer 358.
Krankheitsbilder 33.
Krankheitslehre 144, 328.
„Krankheitsmann" 246.
Krankheitsstadien 63, 140.
Krankheitssymptome 328.
Krankhei tsverlauf 140.
Krateuas 223.
Kräutergarten des Klosters
174-
Kräuterkammer des Klosters
175-
Kreislauf des Stoffes 275.
Kreuzzüge 180, 181, 200.
Krisis 63.
Kritik erwacht 261.
Kritische Tage 176.
Ktesias 58.
Kuh Pockenimpfung 376.
Kultstätten 43.
Kuren, metasynkritische 120.
Kunst, ärztliche 181.
Kurpfuscherei 418.
Kurpfuscherwesen 388.
Laennec, Rene 352, 415.
de Laguna, Andr. 304.
Laienärzte 180.
Laienschulen 173, 176.
de Lamarck, Chevalin 398.
Lampsakos 94.
Lancisi, Giovanni Maria 330.
Lanfranco 210, 211, 219, 221.
— Boneto 217.
Lange, Joh. 302.
Langenbeck, Bernhard 423.
Larrey, Jean Dominique 422.
Laskaris, Janos 250.
Laßtafelkunst 253.
Lavater 366.
Lavoisier 343.
Laxierkalender 253.
Lebensgeister 321, 355.
Lebenskraft 359, 362, 402.
— Umstimmung der 374.
— ^ Verstümmelung der 373.
Lectio 227.
Leeuwenhoek 315 f.
Lehranatomie in Bologna 236.
Lehrgänge dei Heilkunde 230.
Lehrmonopol für Medizin 204.
Lehrvortrag 226.
Lehrzeichnungen aus Alexan-
dreia 238.
Leibarzt 338, 386.
Leibniz 342.
Leiiungsanästhesie 420.
Leonardo da Bertapaglia 291.
— da Vinci 263, 280, 281,
282, 308.
Leoniceno 261, 262, 266, 272.
Leonides 129.
Lepra 232.
Leprabekämpfung 233.
Libri simplicium 231.
Lieberkühn, Joh Nathan 356.
— Nathanael 401.
Lieutaud, Jos. 393.
Lilium medicinae 215.
Linn^ 396.
Lister, Joseph 421.
Lodcr, Just. Chr. 400.
Lokalanästhesie 420.
Lokalisa tionsgedanke 402.
Lokalisierung der Krankheit
394-
Lokal therapie 127.
van Lomm, Jean 304.
Lopez, Francisco 304.
Ludwig, Carl 406.
Luxeuil 176.
Lyon 270.
Macer, Aemiiius aus Verona
177.
— ,,floridus" 177, 220, 258,
259, 276.
Machenschaften zwischen
Aerzten und Apothekern
204.
Macrobius 247.
Magati, Cesare 333.
Magendie, Fran^ois 403.
Maggi, Bartolommeo 292.
Magna Graecia 181.
Magnetextraktion 333.
Magnetisieren 365.
Magnetismus, tierischer 365.
Magnos 185.
Maimonides 164, 214.
Makrokosmos 275.
Malpighi, Marcello 392, 397.
Manardi, Giovanni 263, 272.
Manfred! 256.
Marcantonio della Torre 238,
280.
Marcellus von Bordeaux 171.
Marco Polo 261.
Mariano Santo da Barletta
292.
Marmoutier 177.
Marsilio Ficino 268, 274.
Martianus 196.3
Masawaihi 158, 166.
Massaria, Aless. 304.
Mastdarmfistel 211.
Matteo da Grado 255, 256,
259-
Matthaeus de Archiepiscopo
191.
— Platearius 191.
— Salomon 213.
— Sylvalicus 231, 256, 262.
Matlioli, Pierandrea 265.
Maurus 192, 194, 206, 212,
220.
Mayer, Julius Robert 398.
Meckel, Joh. Friedr. 356, 400.
Medical Act 427.
Medici, Cosimo, und Ficino
270.
Medizinalkollegien 386.
Medizinalordnungen 338, 386.
Medizmmann 17.
Medicus, Johannes 189.
Medicina Plinii 167.
Medizinschulen, französische
177.
Megategni 187.
„Meister Bartholomäus" 258.
Menandros 121.
Meningitis epidemica 266.
Merowingerzeiten 175.
Mesmer, Friedr. Anton 364 f.
Messer, bronzenes 21.
Mesue, der Aeltere 156.
— „der jüngere" 225, 255,
256, 258, 259, 271.
Methode, induktive 227, 306.
Methodiker 113 ff., 357.
Methodismus 359.
Metlinger 255, 256, 258.
Metrodoros 85.
Miasmata 62, 360. ^'^
Mide 17.
Mikrokosmos 275.
Mikroorganismen 40 1 .
Mikroskop, Entdeckung des
316.
Mikroskopie 399.
Militärärzte, römische 147.
Militärärztliche Einrichtung
391-
Milzbrandbazillus, Entdeckung
des 411.
Mindesttaxe, ärztliche 147.
Mineralwässer, künstliche Dar-
stellung 307.
Mithridates Eupator 98.
Mithridaticum 98.
Register.
441
Moerbeke, Wilhelm von 247.
Monatsdiätetik 176.
Mönchsmedizin 172, 175, 178,
202, 224, 232.
Mondeville s. Henri.
Mondevillehandschriften 244.
Mondino dei Luzzi 217, 230,
237. 259. 280.
Monro, Alexander 381.
Montanus, Giovanni Battista
(da Monte) 303, 304.
Montagnana, Bartol. 230, 258.
Monte Cassino 178, 188.
da Monte Giov. Battista 303,
304-
Montpellier 201, 211, 212,
270.
Morbi contagiosi 233, 234.
Morgagni, Giovanni Battista
356. 392.
Moriceau, Fran^ois 334.
Morton, Richard 330.
— William 420.
de la Motte, ]Mauquest 334.
Mulieres Salernitanae 202.
Müller, Johannes 405.
Museion 81.
Mustio 170, 202, 231, 298.
Myrepsos, Nikolaos 269.
Mysticismus 366.
Mystik 275.
Mystische Mittel 16.
Nahrungsraitteldiätetik 192.
Naht von Dammrissen 202.
— der Nerven, direkte 211.
Narkose, Anwendung der 94,
131, 208, 384, 419 f.
Narkotische Mittel 15.
Nasenpolypenoperation 198.
Naturbeobachtung 262, 279.
Naturgemäße Behandlung 107,
133-
Natürliches Heilungsbestreben
357-
Naturphilosophen, griechische
48, 61.
Naturphilosophie 367, 404.
Naturwissenschaften, Einfluß
der 326.
Nemesios 185, 247.
Nephrotomie 73.
Nervenfluidum 346.
Nervöses Prinzip 356.
Neugalenismus 250, 269.
Newton 342.
Niccolo P'alcucci 231.
— von Horenz 259.
— Leoniceno 263.
— da Reggio 248, 249.
Nigidius Figulus 1 1 9.
Nikolaos 248. — Alcxandrinos
182.
Nikolaus, der Salernitaner
191, 195, 271.
Nikomedes von Bithynien 98.
Nikon 135.
Nisibis 155.
Norciner 196.
Nothnagel, Hermann 415.
Nufer, Jakob 300.
Numisianos 136.
de '1 Obel, Matth. (Lobelius)
26s.
Oberarzt 29.
Odlehre 366.
Odo von Meung sur Loire 178.
degli Oddi 303, 304.
Odyssee, Medizin in der 42.
Oken, Lorenz 368.
Operateure, Ausbildung künf-
tiger 201.
Operationen 26, ^'y.
— des Stars 131, 196, 293.
— plastische 131, 294.
Operationsbilder 198, 199,
209.
Operationszimmer 69.
Ophthalmoskopie 399.
Oppolzer, Johann 416.
„Ordnung der Gesundheyt"
255. 258.
Oreibasios 152, 153, 163, 231.
Organologie 401.
Organotherapie 418.
Ortolf von Bayerland 258.
Otranto 180.
„Oxea" eines Aurelius 174.
Padua 220, 224, 229, 238.
Palfyn, John 383.
Palpatio 65, 127.
Pandectae medicinae 231,
256, 259.
Pantegni 163.
Papsttum 220.
Papyios Brugsch 29.
— Ebers 28, 31, 33, 35,
37. 38.
— gynäkologischer 27, 38.
— Veterinär- 27.
Paracelsus 271 ff., 293, 318,
322, 340, 365, 369, 371.
Paragranum 277.
Paramirum 277.
Parasitäre Lebewesen 369.
Parasitenlehre 370 f., 397.
Pari, Ambroise 219, 293,
294, 295, 296, 298, 299,
300, 333.
Paris 219, 220, 221, 222, 224.
von Parma, Joh. 225.
Pasteur, Louis 411, 421.
Paulus und Alexander 182.
Paulus von Aigina 153, 1541
162, 163, 173, 224, 231,
251. 259-
Passionarius 182.
— Galeni 174.
Pecquet 315.
Pedanios Dioskurides 132.
Peiligk 242.
Pelops 136.
Perkussion 127, 351, 399.
Pessarien 38.
Pest 231, 232, 234.
Pesthaus 267.
Pestliteratur 234.
Pesttractate 232.
Peter von Abano 225, 255,
256, 257, 259, 271.
Petit, Jean Louis 378.
Petrarca, Francesco 204, 229,
230, 231, 248.
Petricellus, Petrocellus, Pe-
troncellus 183, 185, 201.
Petronius 183.
Petrus Damiani 182.
Petrus Juliani (Hispanus) 220.
Petrus Ramus 303. 307.
Peyronie, Fran^ois 378.
Pflanzenbilder 168, 263.
Pflanzenbild der Araber 165.
von Pfalzpeunt, Heinrich 292.
Pflegeanstalten 155.
Pflüger, W. 406.
Philaretos 187.
Philinos von Kos 97.
Philipp IV. der Schöne, König
21 1.
Philologische Mediziner 251.
Philumenos 152, 153.
Philosophie, scholastische 250.
Phlogiston 343.
Phlogistische Theorie 343.
Phoibe 121.
Pholspeunt, Heinr. 292.
Phrenologie 401.
Physici 388 f.
Physik, Fortschritte der 342.
Physis 64, 67 f. III, 141,
319. 359. 361.
von Piemont, Franz 296.
Pierre d'Auxonne 236.
Pierre Franco 219.
Pierre de la Ram^e 303.
Pietro d' Abano 229, 246, 255.
Pielro di Argelata 259.
— Torrigiano 229.
Pinel, Philippe 362.
Plastik 196.
Plastische Operationen 131,
294-
Platearius 183, 189, 191, 192,
201, 222, 224.
Platner, Zacharias 380.
Plato 77 f., 151, 180, 268,
270, 274, 302,
442
Reoistei".
Platoniker 247. ,
Platter, Felix 304.
Plethora 87, 349.
Plinii Medicina 167.
Plinius loi, Ii8fi, 167, 169,
170, 255, 259, 261, 262.
Plirius Valerianus 167, 171.
Plotin 268.
Pneuma 31, 86, 129, 138,
Pneumatiker 129.
Pneumatische Schule 129.
Pockenimpfung 376.
Polaritätstheorie 368.
Polypragmasie 372, 4.13, 415.
Pontius de Sancto Egidio 220.
Popularisierung der Medizin
119.
Portal, Paul 334.
Posiiivismus 396.
Potenzierung der Arzneimittel
374-
Pott, Percival 381.
„Practicella" 225.
Precianer 196.
Premnon physicon 185.
Priesterärzte 20.
Priesterkaste 33.
Priestermedizin 232.
Priesterschaft 170.
Pries tley 343.
prima intentio 208.
Primitive Medizin 9 ff.
Prinzip, nervöses 356.
Priscianus, Theodorus 231.
Privatklinik 53.
Problemata Aristotelis 229.
Profacag aus Marseille 214.
Profatius 214.
Prognose 24, 65.
Programm 275.
Pseudodemokritos 1 70.
Pseudo-Galenos 164, 195
Pseudo-Plinius 177.
Pseudotheodorich 1 70.
Psychische Heilmittel 363.
Puccinotti 201.
Pulsbeobachtung 127.
Pulsmesser 323.
Pythagoras 48.
Quaestiones disputatae 227.
— de quolibet 227.
Guido de Vigeuano 243.
Quodlibetaria 227.
Rabbi Moyses 164.
Rademacher, Joh. Gottfr. 375.
Radulf von Longchamps 194.
Ragenifrid 183.
Ramazzini, Bemardo 330.
de la Ramee, Pierre (Ramus)
303, 307.
Ramusio, Girolamo 270.
228,
Raoul-Leclerc 177.
Rapp, Georg 376.
Rapport 366.
Rasori, Giovanni 359.
Rasselgeräusche 66.
„Ratio" 252.
Razes, ar Räzi 156, 157
164, 207, 217, 227,
255> 259.
Reaktion des Organismus 63.
Reaktion , Wassennannsche
419.
Realdo Colombo 289.
Receptarien 176.
von Recklinghausen, Friedr.
410.
Reformation dtr Anatomie
280 ff.
Regimen Sanitatis 205, 227.
— Salernitanum 205.
,, Regiment der jungen Kinder"
258.
Regimentsfeldscherer 391.
Reiben, pleuritisches 66.
Reichenau 176.
Reichenbach, Carl 366.
Reil, Joh. Christian 363.
Renaissance 169, 235, 247,
250, 260.
— karolingische 169.
— hippokratische 151.
Renaudus 213.
de Renzi 190, 205.
Resektion 73.
Rhuphos von Ephesos 132.
Richardus 195, 213.
— anglicus 195, 216.
Richer von Rheims 178, 179.
Richter, Aug. Gottlieb 381.
Rigordus 213.
von Ringseis, Joh. Nepomuk
366.
Roederer, Joh. Georg 384,
390.
Roger Bacon, 201, 204, 208,
221, 222, 227, 230, 247,
248, 308.
— de Barone 214.
Roger Frugardi von Salern
200, 207.
Rogerglosse 200, 201.
von Rokitansky, Karl 413.
Rolando von Parma 200, 201,
209.
„Rolandina" 201, 224.
Rolfink 340.
Rom 151.
Romualdus 191.
„Rosa Anglica" 216.
Röschlaub 359.
Rösslin, Eucharius 298.
Rothari 233.
Rousset, Fran^ois 300.
Rueff, Jakob 298.
Ruphos 132^- 152, 251.
Ruysch 315.
Sabatier, Raph. Bienvenu378.
Sabbatai ben Abraham (Don-
nolo) 180.
Sachverständiger, gerichtsärzt-
licher 208.
Säftekrankheiten 359.
Säftelehre 278, 407.
Saint Gilles, Jean de 220.
Saläh ad-Din 159.
Salerno 178 — 205.
Salernus, Magister 193, 213.
Sanchez, Francesco 307.
de Sancto Egidio, Johannes
220.
Sandifort, Ed. 400.
Santa Sofia 230.
Santorio Santoro 304, 325.
Sarazenenherrschaft in Sizilien
186.
Sardanapal 19.
SäugJingskrankheiten 124.
de Sauvage, Fran(;ois 361.
Savonarola, Girolamo 269.
— Michele 231, 259, 296.
„Scabies grossa" 267.
Scarpa, Antonio 400.
Schärfen 321.
Schelling 364.
Schenk von Grafenberg, Joh.
304-
Schienen 72.
Schlafschwämme 208.
Schieiden, Matthias Jakob 397.
Scheidekunst 208, 227, 272,
278.
Schneider, Joh. Vict. 317.
Scholastik 194, 227, 260.
Schönlein, Lucas Johann 370,
411, 416.
Schrevelius, Ewald 304.
Schrick 259.
Schuimedizin 117.
Schwann, Theodor 397, 406.
Schweigepflicht, ärztliche 51.
Schweineanatomie (des Copho)
194.
Schweißsucht 267.
Scipione Mercurio 300.
Scopolamin zur Narkose 131,
420.
Scottus, Michael 221.
Scribonius, Largus 119, 167,
302.
Seidel, Bruno 302.
Seitenkettentheorie 419.
Selbstheilung 415.
Selbstverteidigung, Bamberger
176.
Semmelweis, Ignaz Philipp
421, 425.
Sennert, Daniel 320.
Register. »
443
Sensibilität 355, 359, 367, 394.
Septimius Severas 146.
Serapion 158, 207, 227, 258,
259, 262, 271.
Serenus 169, 174, 176.
Servet, Michael 288, 289, 290.
servus medicus loi.
Settala, Ludovico 304.
Sextus Placitus 169, 171.
Siderokrates, Samuel 269.
Siebold, Carl Kaspar 381.
Siegemund, Justine 334.
similia similibus 373.
Simon von Genua 231, 255,
256, 261.
— von Montfort 201.
Simplicia 231.
Simpson, James Young 420,
426.
, 159, 160, 166,
207, 214, 217,
251. 255,
259.
ibn Sinä 15J
195, 201,
224, 247,
270.
Sizilien 180.
Skelett 286.
Sklavenärzte 100.
Skoda, Joseph 415.
Smellie, William 384.
Soldus 258.
Solidarpathologie 125, 407.
solidarpathologische Auffas-
sung 400, 407.
— Betrachtung 357.
Solutio 227,
Somnambulismus 366.
Soranos von Ephesos 120 ff.,
170, 202, 296, 298.
Sörensen, Peder 280.
Spätanatomie von Hochsalemo
195-
„Si>eculator" 230.
Spezialistentum 148.
Sprache, griechische 247,
Spurzheim, Joh. Caspar 402.
Sputumuntersuchung 66.
Staatsexamen, Einführung des
386.
Stadien der Krankheit 63.
Stodtorzt 208, 338.
Stadtchirurgen 208, 338.
Stahl, Ernst 343.
Starck, K. W. 369.
Staroperation 21, 131, 196,
198, 219, 424.
^»tadtarztwesen im Mittelalter
208.
'>J;ar-, N;i8enpolypen-, Hämor-
rhoidenopcration 197.
Stiifstecher 339.
Starstechermetier 204.
Starstich 196, 198.
Steinschneider 339.
Steinschnitt 196.
Stensen 315.
Stephanus von Antiochia 187.
— Amaldi 216.
Sthethoskop 352.
Stoffwechsel , Untersuchung
des 304, 323.
Stoerck 351.
Stoiker, Philosophie der 129.
Stoll, Maximilian 351.
Strabo 176.
Stromeyer 378.
— Louis 422.
Sudor anglicus 267.
Suggestivbehandlung 47 f.
Surianus 177.
van Swieten 349 f., 431.
Sydenham,Thomas278,327ff.,
'342, 348, 360.
Sylvaticus,Matthaeus 23 1, 258.
Sylvius, de le Boe 320, 326,
340.
— Jacobus 285.
Sympathie 402.
Sj'mphorien Champier 270.
Symptomatologie 24.
Symptomenlehre 97, 126.
Synonyma medicinae 231.
SjTien 154, 166.
Syphilis 234, 266, 267, 278.
Tabari 158.
Täbit ben Qurra 158.
Taddeo Alderotti 225, 226,
227, 228, 229, 230, 234,
255-
Tagliacozzo, Gaspare 294.
Tatsachenforschung, botani-
sche 265.
Taxe 204.
Taxordnungen 390.
Tegni 187, 227 ; — u. Mega-
tegni 187.
Telesio, Bemardino 302.
Tempelmedizin 45, 418.
Tempelschlaf 45.
Tentamen medicum 432.
— phiiosophicum 432.
— physicum 432.
Teodorico dei Borgc^noni 208.
Tertullian 82.
Theater, anatomisches 236,
340. 387-
Theden, Chr. Anton 380.
Themison v. Laodikeia iioff.
Theorie, humoralpathologische
23. 3'-
— medizinische 15, 22.
Therapie, physikalische 399.
Thermometer 304, 323, 349.
Theoderich 172,201,208,209.
Theodorich der Große 170.
Theodorus Priscianus 1 69, 1 70,
171. 175. 231-
Theophilos-Philaretos 187.
Theophrastos 222, 259, 261,
262.
Theophrastus von Hohenheim
272 — 280.
Thessalos von Tralles 119 ff.,
359-
Theuderich 172, 175.
Thesaurus Pauperum 220.
Theurgie 369.
Tieranatomie 194.
' Tierbilder 167.
Tierexperiment 307.
' Tierkreiszeichenmann 246.
Tierzergliederung 196.
Timoni, Emanuele 376.
Tod, Schwarzer 231, 232, 266.
Toledo 206, 207.
Tommaso di Garbo 229, 237,
Topographische Anatomie 400.
della Torre, Giacomo 230, 256.
dei Torrigiani 229.
Torsion 211.
Toscana 249.
Tours 177.
Toxine 413.
Traube, Ludwig 416.
Trepanation 13, 17, 73.
Trincavella 304.
' Trotula 201, 202, 296.
j Truppenärzte 147.
Tullius Bassus iig.
Trusianus 229.
Uebergangsepoche, vorkaro-
lingische 176.
Uebersetzungen aus dem Grie-
chischen in Sizilien am Nor-
mannenhofe 206.
— syrische 155.
Uebersetzerschule 206.
Ugo dei Borgognoni 208, 209,
Umbrien 196.
Umstimmung der Lebenskraft
374-
Unterkunftshaus 267.
Unterricht, anatomischer 236.
— ärztlicher 148, 340.
Unterrichtsanstalten 105.
Untersuchungsmethoden 33.
„Urivasius" 153.
Urso 192, 193, 194, 206, 212,
220.
Usaibia 164.
Vala 179.
Valescus de Taranta 217, 250,
256.
Valetudinarien 106, 112.
Valgius Ruf US 119.
Valles, Franc. 304.
Valsalva, Antonio 392.
Varignana, B., 228, 230.
— Guilelmo 237, 259.
„Variola grossa" 267.
444
Register.
Varolio, Costanzo 290.
Vascu da Gama 261.
Väter der Botanik 263.
Verbände 72.
— erhärtende 12.
Verbandtechnik der Natur-
völker 13.
Verrenkungen, Behandlung der
72.
Vesalius, Andreas 280, 281,
282, 283, 284, 285, 286,
287, 288, 289, 290, 291,
298, 300, 308, 311.
Vesling 315.
Viaticus Conslantini 187, 214,
220.
Victoriner, deutsche 178.
Viermeisterglosse 201.
Viersäftelehre 278.
de Vigevano, Guido 246.
Vigo, Giovanni 292.
Vincenz von Beauvais 222, 296.
Vindicianus 158, 169, 170.
Virchow, Rudolf 397, 408 ff.
vitales Prinzip 362.
Vitalität 395.
vitalistische Ideen 394.
Vitalismus 360 ff., 398.
„Vivarium" 172, 181.
Vives, Luis 303, 307.
,,Visis effectibus" 234.
Vitale da Furno 234.
Vivisektion an Verbrechern 82.
— 404.
Vivisektorische Experimente
136, 142.
Vogt, Carl 396.
Volkmann, Richard 423.
Volksmedizin 418.
— altrömische 107.
Volta 342.
ibn Wäfid 207.
Walahfrid 176.
Warbod (Gariopontus) 1 74,
194.
Ware, James 382.
Warimpotus 182, 183, 185.
Warren, John CoUins 420.
Wasserkuren 108.
Weber, Ernst Heinrich 406.
Wedel, G. W. 343.
Weingeist und seine Dar-
stellung 227.
Welcker, Herm. 401.
Wendung 298, 299.
Wiener Schule, ältere 350 ff.
— — jüngere 414 f.
Wilhelm II., König der Nor-
mannen 203.
Wilhelm Bombast von Hohen-
heim 272.
— de Congenis 201, 217.
— Corvi 216.
— der Piacentiner 210 (s.
Wilhelm von Saliceto).
— von Saliceto 210, 211, 218,
228, 256.
Willehalm von Bourg (de
Congenis) 201, 217.
Willis, Thomas 322.
Wirtz, Felix 293.
Wisemann, Richard 333.
Wissen, scheidekundiges 272.
Witteisbacher 279.
Wolff, Caspar Friedr. 356.
— Christian 342.
Wrisberg, Heinrich August
356.
Wundärzte 389.
Wundbehandlung 35.
— der Naturvölker 11.
Wundenmann 246.
Wunderlich, Karl August
417.
Wurm als Krankheitsursache
23. 31. 34-
Young, Thomas 398.
Zagorsky, Peter 400.
Zauberformeln 26, 99.
Zeichnungen, anatomische 238.
Zerbi, Gabriele 237.
Zergliederungstechnik 142.
Zinn, Joh. Gottfr. 356.
Zellularpathologie 399.
— s. Cellularpathologie.
Zuckungsgesetz 406.
ibn Zuhr (Avenzoar) 215).
Zweckmäßigkeit des Natur-
geschens 142.
Berichtigungen :
S. 22 Abb. 9 steht auf dem Kopfe, sie stellt einen Keilschrifttext über
Haut leiden dar.
,29 „ 13 die sicherere Lesung des Arztnamens ist „Sechmetnanch".
,30 „ 15 muß heißen „eines O h r e n kranken".
, 100 „ 61 der Brustkorb stammt von einem Sarkophag.
, 183 Zeile 2 von unten lies Pseudonymen.
,221 „ 10 „ „ „ Franco.
Frommannscbe Bachdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. — 4S34
\
R Meyer-Steineg, Theodor
131 Geschichte der Medizin im
W^B Überblick mit Abbildungen
Biologjcal
i Medial
PLEASE DO NOT REMOVE
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